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Impressum


Als Ravensburger E-Book
erschienen 2010

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2010 Ravensburger Verlag GmbH

Alle Rechte dieses E-Books
vorbehalten durch
Ravensburger Verlag GmbH

ISBN 978-473-38409-9

www.ravensburger.de

Für Juliane

Marie

1

Ich liebe dich.

Diese SMS stammt von Oliver. Oliver ist mein Freund. Schön bis hierher. Aber: Diese Nachricht ist nicht an mich gerichtet.

Tatsächliche Empfängerin dieser Botschaft ist Isabella. Schön für Isabella. Schlecht für Isabella: Sie ist meine beste Freundin.

Ich halte Olivers Handy zwischen meinen Fingern und suche nach einer möglichst schmerzarmen Erklärung für diese SMS, die aus dem Handy meines Freundes stammt und ganz offensichtlich nicht an mich gerichtet gewesen ist.

Ein Tippfehler?! Scheidet aus. Isabellas Nummer und meine unterscheiden sich – abgesehen von der Vorwahl – in exakt sieben Ziffern.

Ein Versehen? Aber was hat Isabellas Nummer überhaupt in Olivers Telefonbuch zu suchen?

Können sich Handys irren oder aus Boshaftigkeit Nachrichten an die falschen Personen versenden? – Schwachsinn.

Mir fallen logische und schwachsinnige Erklärungen für meine Entdeckung ein. Aber nur eine, die mich überzeugt. Und die tut weh. »Tut weh« – eine total niedliche Umschreibung für das Gefühl in meinem Bauch. Da toben sieben Wirbelstürme gleichzeitig und dass puddingähnliche Gefühl in meinen Knien verrät mir, das ich mich lieber setzen sollte. Und zwar genau jetzt. Ich plumpse auf den Boden. Da bleibe ich dann auch. So ungefähr eine halbe Ewigkeit sitze ich in Olivers Zimmer auf seinem Fußboden und heule Rotz und Wasser in seine mintgrüne Auslegware. Weil mir absolut nichts Besseres einfällt und weil mir alles wehtut.

Als endlich keine Tränen mehr übrig sind, die ich in Olivers bescheuertem mintgrünem Teppich versenken könnte, wird mir alles klar: Isabella, meine beste Freundin, die ich seit zehn Jahren kenne, und Oliver, mit dem ich seit vier Monaten zusammen bin, haben mich komplett verarscht. Sie hat ihn geküsst! Ganz bestimmt hat sie ihn geküsst. Und er hat sie zurückgeküsst. Und zwischen dem Küssen und dem Zurückküssen hat er mich geküsst und so getan, als sei ich die Einzige auf seinen Lippen. Augenblicklich beginne ich, mir auf dem Mund herumzuwischen. Als würde das irgendetwas rückgängig machen. Als könnte ich Olivers Küsse abwischen, die Riesenverarschung wegwischen.

Was soll ich denn jetzt machen? Oliver ist beim Sport und in ungefähr einer halben Stunde wird er wieder da sein und mich küssen oder zwischendurchküssen wollen. Und er wird ausrasten, wenn ich ihm erzähle, dass ich an seinem Handy herumgespielt habe. Aber das kann mir eigentlich egal sein, oder?

Ich schalte auf Autopilot, packe völlig benommen meine Sachen zusammen und gehe. Und einen kurzen Moment lang wünsche ich mir, dass ich diese SMS nie gelesen hätte. Dann wäre meine Welt noch heil und rund und kunterbunt und mein Herz kein Scherbenhaufen, der mir in der Brust pikt und meine Träume in Scheiben schneidet.

Ein Anruf in Abwesenheit. Oliver. Ja, ich bin abwesend. So was von abwesend. Quasi unsichtbar. Ich gehe einfach nicht ans Telefon. Ich sitze auf meinem Bett und warte auf irgendwas. Wahrscheinlich darauf, dass er noch mindestens zehnmal anruft, damit ich nicht rangehen kann.

Wo bist du?

Eine SMS von Oliver. Na bitte. Aber ich werde ihn nicht zurückrufen. Er soll auf keinen Fall merken, dass ich heule. Stattdessen schreibe ich ihm auch eine SMS. Das ist doch das Tolle an Kurznachrichten. Dass man alle möglichen Dinge behaupten kann und der andere nicht sieht, was man für ein Gesicht dazu macht. Dass einem die Mundwinkel dabei zittern oder die Wimperntusche verschmiert. Überhaupt bin ich für schmerzfeste Wimperntusche.

Schöne Grüße an Isabella. Und von mir aus kannst du an eurem nächsten Kuss ersticken. Schönes Leben noch, du Arschloch.

Mein Handy gibt mir Empfangsbestätigung.

Ich warte. Keine Reaktion.

Ich warte immer noch. Nichts.

Ich warte weiter. Trotzdem nichts.

Kein: Welchen Film schiebst du denn? Kein: Vergib mir. Kein: Ich liebe dich und nur dich. Und schon gar kein: Wach auf, Kleines, alles nur ein schlimmer Traum.

Wieso reagiert er nicht? Er ist gerade dabei, mich zu verlieren, und unternimmt nichts dagegen! Sekunden vergehen und Minuten. Ich habe das Gefühl, dass sich in diesen Sekunden und Minuten etwas in meinem Leben verändert und ich sitze hier ohnmächtig rum und kann nichts dagegen tun.

Ich halte mein Handy in der Hand, meine Finger zittern, mein ganzer Körper beginnt zu vibrieren, mein Herz sticht und krampft sich zusammen, bis es sich anfühlt wie ein Stein in meiner Brust. Mir ist so kalt.

Ich starre aufs Display. Leuchte! Leuchte doch! Nichts passiert. Ich ertrage das Stechen in meiner Brust nicht länger und die Stille des Telefons und wähle Olivers Nummer.

Mailbox.

Das kann doch nicht wahr sein! Er kann doch jetzt sein Telefon nicht ausschalten! Ich probiere es auf dem Festnetz. »Rothmaler?«

Oh nein. Das ist Olivers Mutter. Jetzt bloß nicht durchdrehen.

»Hallo, hier ist Marie. Kann ich bitte mal Oliver sprechen?«

»Hallo, Marie! Du, Oliver ist nicht da. Soll ich ihm was ausrichten?«

Ja! Dass ich im Sterben liege vor Kummer und keinen klaren Gedanken mehr fassen kann!

»Nein, nein. Ist nicht so wichtig. Ich probier’s einfach auf seinem Handy. Danke. Tschüss.«

Scheiße. Scheiße. Scheiße. Wo ist der denn? Ist er unterwegs zu mir? Oh ja, bitte, bitte, lass ihn unterwegs sein zu mir.

Mein Bauch sagt mir, dass das nicht stimmt. Eine andere dumpfe Gewissheit steigt stattdessen aus der Magengegend hinauf in meinen Kopf und belagert meinen Verstand: Er trifft sich mit Isabella.

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

Ich krame in meinem Kopf nach Informationen, die mich retten können, doch mein Kopf ist das reinste Gruselkabinett.

Oliver. Vor drei Tagen lag er in diesem Bett. Vor drei Tagen hat er in dieses Kissen geflüstert, dass er mich liebt. Vor drei Tagen lag ich auf diesem Kissen und habe geglaubt, dass mich einer liebt. Vor drei Tagen! Ich weiß nicht wieso, aber dieses Kissen macht mich plötzlich zornig. In diesem Kissen steckt die Lüge. Der Verrat. Kleben sein Duft und seine Spucke. Klebt meine Liebe. Ich angle mir die Schere vom Schreibtisch, ich gehe zu meinem Bett und ersteche das Kissen. Das Verräterkissen. Ich zerschneide den Bezug und die Federn quellen hervor. Tränen schießen mir in die Augen. Ich schmeiße die Schere in die andere Ecke des Zimmers und vergrabe meine Finger in den weichen, weißen Federn. Ich heule und durchwühle das Innenleben des Kissens. Ich heule und schleudere die Federn heraus, werfe sie in die Luft und lasse mich beschneien. Mein Winter. Mein Sommer.

Musik. Ich brauche Musik!

Es macht mich noch viel zorniger, als ich feststellen muss, dass ich drei Viertel meiner CDs nicht mehr hören kann, weil sie mich an Oliver erinnern. Arschloch! Erst klaut er mir mein Herz und dann meine Musik. Aus der hintersten Ecke meines CD-Regals krame ich schließlich Robbie Williams hervor. Den konnte Oliver nie leiden. »Pop-Schmatze«, hat er immer dazu gesagt und ich habe es ziemlich schnell aufgegeben, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Aber es war ja auch viel schöner, Musik zu hören, die wir beide mochten. Damit ist jetzt Schluss. POP-SCHMATZE, ich komme! Ich LIEBE Pop-Schmatze!!!

Ich drehe die Musik voll auf, fische Federbatzen um Federbatzen aus dem miesen Verräterkissenbauch und tanze. Tanze und heule, heule und tanze.

Zwei Stunden später sitze ich, Marie, die Kissenmörderin, auf dem Parkettfußboden und heule immer noch. Nur leider ohne Wut. Eine Armee Fotos liegt vor meinen Füßen ausgebreitet, von der Wand gerissen, zerrissen, ein Schlachtfeld der Erinnerungen. Gleichgültig glotzen sie mich an. Die halben Gesichter verziehen keine Miene mehr. Halbe Olivers, halbe Maries, halbe Olivers und Maries. Gevierteilte Isas und gefünfteilte Olivers. Doch der Schmerz bleibt heil.

Wie oft haben wir zusammen auf diesem Bett gelegen? Auf diesem Bett, das eigentlich viel zu schmal war für uns beide? Neunzig Zentimeter maß mein Paradies. Das Paradies unter einer Dachschräge, mit freiem Blick auf den Himmel. Wie oft habe ich neben Oliver wach gelegen und mich gefreut, wenn der Mond direkt ins Fenster schien und mich um den Schlaf brachte, weil ich dann immer Oliver dabei beobachten konnte, wie er schläft.

Scheißbett. Scheißmond. Den konnte ich sowieso noch nie leiden. Der Mond ist so ein richtiger Solo-Planet. So ziemlich jeder zieht sich den Mond rein, wenn er einsam ist. Den Pärchen gehört der Sonnenuntergang, den Singles der Mond. So ist das nun mal. Ich muss mein Bett umstellen.

Ich muss meine Wände streichen! Sie sind rosa. Man hat keinen Schiss vor Kitsch, solange man das Leben auf seiner Seite hat.

Ich muss umräumen, denn das ist nicht mehr mein Zimmer. Dieses Zimmer gehörte Marie, der Freundin von Oliver. Aber diese Marie wohnt hier nicht mehr.

Aber zuallererst muss ich diese vier Wände verlassen. In diesem Zimmer zu hocken, in diesem Museum meines Lebens, ist eine einzige Qual. Und ich kann ja auch schlecht meine gesamte Einrichtung zertrümmern, nur weil Oliver mal auf diesem Stuhl saß und ich auf seinem Schoß, er mir in den Hals gebissen hat und zu mir sagte, ich sei das leckerste Mädchen, dem er je begegnet ist. Dass ich neben Oliver vor diesem Fernseher gelegen und zu Titanic Rotz und Wasser geheult habe, bringt mich nicht dazu, den Fernseher aus dem Fenster zu schmeißen, auch wenn es eine Maßnahme wäre, die mir im Moment verdammt logisch erscheint und bei den Nachbarn ganz gewiss Aufsehen erregen würde. Oliver wischte mir damals die Tränen mit dem kleinen Finger von der Wange und sagte: »Du siehst so schön aus, wenn du weinst.« Ich habe das noch ganz genau im Ohr. Herzlichen Glückwunsch. Dann bin ich heute aber mit Abstand die Allerschönste hier. Und was kann die Kommode dafür, dass Oliver mir dabei geholfen hat, sie zu streichen – in Grün mit pinkfarbenen Blümchen drauf? Ich kann ja nachträglich noch ein paar Totenköpfe dazumalen. In Pink.

Eins steht jedenfalls fest: Ich muss hier raus! Ich werfe einen letzten Blick auf das Foto-Geschnetzelte zu meinen Füßen, stehe auf und gehe zur Tür.

Leise drehe ich den Schlüssel um. Ich will auf keinen Fall jemandem über den Weg laufen. Schon gar nicht meinem Bruder. Sein Zimmer ist direkt neben meinem und ich habe keine Lust darauf, dass er mich so sieht. Ich bin schließlich seine große Schwester und große Schwestern laufen nicht herum wie verpeilte Zombies und große Schwestern heulen auch nicht. Dieses Privileg ist kleinen Brüdern vorbehalten. Außerdem will ich nicht gemein zu ihm sein und das wäre ich jetzt, erstens, weil er mir nicht auf die Pelle rücken soll mit seinen Fragen, und zweitens, weil es viel leichter ist, fies zu seinem kleinen Bruder zu sein als zum Beispiel zu… Oliver.

Mit der Behutsamkeit eines Einbrechers drücke ich die Türklinke, schleiche mich in den Flur und die Treppen hinunter, wobei ich die knarrenden Stufen profimäßig auslasse.

Unten angekommen sehe ich, dass die Tür zum Wohnzimmer angelehnt ist. Der Fernseher läuft. Zum Glück. Unbemerkt vom Rest der Welt kann ich mich nach draußen stehlen.

Da erwartet mich ein schöner warmer Sommerabend. Hätte ich das gewusst, wäre ich in meinem Zimmer geblieben. Die Sonne hängt groß und rot am Dachgiebel des Nachbarhauses fest, am Himmel ist kein einziges Wölkchen zu sehen und die Vögel brüllen. Ganz offensichtlich hat die Natur noch nicht begriffen, dass jetzt Schluss sein muss mit Romantik und dass ein Schneesturm im Augenblick echt angebrachter wäre. Oder wie wäre es mit einem warmen Sommerregen? Ich meine, in den Filmen regnet es doch ständig, wenn deprimierte Frauen einsam durch die Straßen rennen. (Und die Männer kommen nie hinterher, das habe ich schon begriffen!) Ich will, dass es um mich herum so aussieht, wie es sich in mir anfühlt. Und ich bin innerlich so was von verregnet!

Ich gehe die Straße entlang. Und plötzlich habe ich ein Ziel. Das fällt in unserem Viertel nicht sonderlich schwer, denn es gibt eigentlich nur einen Bäcker, einen Gemüsehändler und diese Kneipe, die sich »Der Falke« nennt, aber in Wirklichkeit eine Geisterbahn ist.

Ich war da nur ein einziges Mal drin. Da hockten diese Männer am Tresen, und ich war mir fast sicher, dass ich die bei Tageslicht in unserer Gegend noch nie gesehen hatte. Sie waren ungefähr tausend Jahre alt und rochen schlecht und sahen so aus, als säßen sie schon immer auf diesen Barhockern und als hätten sie in ihrem Leben auch nichts anderes mehr vor, als sich das nächste Bier zu bestellen.

Und es gibt den Spielplatz.

Meine Füße tragen mich fast von selbst. Und ich weiß beim besten Willen nicht, was ich dort verloren habe.

Lüge! Lüge! Lüge!

Ich weiß es.

Ich habe dort einen Traum verloren. Er ist in den Holzbalken der Schaukel geritzt. Ich habe ihn selbst dort hineingraviert, mit Olivers Taschenmesser.

Mein Traum hat drei Buchstaben. Hatte drei Buchstaben. Ich lehne an der Schaukel und fahre mit den Fingerspitzen die süßen idiotischen Einkerbungen im Holz entlang, die ich dort hinterlassen habe. O+M=L.

Die Kerben sind nachgedunkelt und sehen aus wie Narben. Und ein bisschen stimmt das ja auch.

O+M=L. Oliver plus Marie gleich Liebe. Wer hat eigentlich behauptet, Mathematik sei logisch? Oder habe ich mich bloß verrechnet? Ich befürchte: Eins plus eins bleibt zwei, aber sonst ist nichts mehr, wie es war. Warum? Warum tut er mir das an? Warum kickt er mich aus seinem Leben wie einen ausrangierten Fußball?

Wo ist denn bloß mein Leben hin? Und wo bin ich hin? Kommt eigentlich irgendwann der Punkt, an dem man nicht mehr heulen kann, weil keine Tränen mehr übrig sind? Oder trocknet man einfach irgendwann aus?

Welcher Tag ist heute? Wie heiße ich eigentlich? Marie? Ich kenne keine Marie.

Und während diese Fremde an einem warmen Sommerabend auf einer Schaukel sitzt und innerlich austrocknet, dreht die Erde sich vermutlich weiter um sich selbst. Lässt sich bescheinen und beregnen und beschneien und bestürmen von allen Seiten und nichts, aber auch rein gar nichts wird sie aus ihrer Bahn werfen. Diese Marie hingegen wäre gern ein bisschen weniger Marie und ein bisschen mehr Erde. Ein bisschen stärker und ein bisschen größer.

Ein bisschen mehr von alledem, was sie nicht ist.

Wieder zu Hause versuche ich Isabella zu erreichen. Ich lasse es Ewigkeiten klingeln, aber sie geht nicht ran. Dann ist ihr Handy ausgeschaltet und ihre Mailbox lügt mich an: »Der von ihnen gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar.« Haha. Was für ein Witz. Wohl eher: »Ihre ex-beste Freundin schämt sich gerade in Grund und Boden und hat sich aus Reuegefühl die Zunge abgeschnitten. Wer keine Zunge mehr hat, kann auch nicht lügen.« Tolle Idee, Isa. Erst knutschst du mit meinem Freund und dann bist zu feige, dich von mir anschreien zu lassen. Oh, wie gern würde ich dir gerade ins Ohr brüllen, was für eine miese kleine Schlampe du bist. Unsere Fotos habe ich sowieso schon zerrissen. Hat aber leider nicht geholfen.

Ich finde es einfach unfassbar: Heute Morgen schien noch alles wie immer. Wie immer habe ich Isa vor der Schule abgeholt, wir sind wie immer zusammen in den Bus gestiegen und wie immer hat Isa mir von ihren neuesten Diätplänen erzählt. Und wie immer habe ich versucht, ihr diesen Ich-bin-zu-fett-Fimmel auszureden. Sie wollte jetzt eine Woche lang fasten und sich nur noch von so einem komischen Dosenfutter ernähren, das sie in der Apotheke entdeckt hat, und sie hat etwas von innerer Reinigung gefaselt und ich habe sie ausgelacht.

Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Isa ist schlank wie ein Grashalm. Aber seit ungefähr einem Jahr ist sie besessen von der Idee, dringend abnehmen zu müssen. Vielleicht hat sie sich, was diesen Punkt betrifft, von den Tussis aus ihrem Tanzkurs infizieren lassen. Was das Thema Nahrungsaufnahme angeht, ist das echt ein kranker Verein. Einige dieser Mädchen glauben nämlich, die Daseinsberechtigung der Mathematik bestünde im Erwerb der Fähigkeit, Kalorien zusammenaddieren zu können. Manche von denen führen sogar einen Kalorienkalender, den sie immer mit sich rumschleppen und in dem sie jede Mahlzeit aufs Kalorienkomma genau protokollieren. Das ist kein Witz! Wirklich nicht.

Aber das hier, das ist ein großer Witz. Es ist ein Witz, dass ich hier herumsitze und Däumchen drehe und Löcher in die Wand starre wie eine Irre und darauf warte, dass sich mal einer von den beiden bemüßigt fühlt, mich von der Übelkeit zu befreien, die eine gewisse SMS vor ein paar Stunden in mir ausgelöst hat.

Ich werde Isa einen Besuch abstatten. Jetzt. Ich werde diese miese Kuh von einer besten Freundin zur Rede stellen. Sie soll sich den Wahnsinn ruhig reinziehen, den sie losgetreten hat. Na warte, du Miststück!

Isa wohnt bloß drei Häuser weiter. Womöglich spekuliert sie trotzdem darauf, dass ich mich nicht traue, bei ihr aufzukreuzen.

Womöglich verschwendet sie aber gerade auch keinen einzigen Gedanken an mich. Wer weiß, vielleicht ist Oliver ja gerade bei ihr? Bitte nicht! Oder bitte doch? Vielleicht liegen sie gerade auf ihrem Plüschsofa und küssen sich? Das darf nicht sein! Oliver kann mich doch nicht einfach so auswechseln! Das kann doch nicht sein, dass er seine Zunge in den nächstbesten Hals schiebt und ihn dabei nichts an mich erinnert? Oder doch? So kaltblütig kann man doch nicht sein oder etwa doch? War denn gar nichts wahr von dem, was er mir erzählt hat, in den letzten vier Monaten? Dass ich sein Mädchen bin. Dass ich das Mädchen bin, auf das er gewartet hat. Dass er mit mir die Welt entdecken will und dass ich sein Hafen bin, weil er bei mir so sein kann, wie er ist. Sind das alles bloß blöde Lippenbekenntnisse gewesen? Alles bloß Blabla?

Ist Isa jetzt sein Mädchen oder wie? Ist sie jetzt sein Hafen? Und was bin ich dann gewesen? Ein Fehler in seinem Navigationssystem? Das ergibt alles keinen Sinn.

Ob er sie mit denselben Augen ansieht wie mich? Ob er sie küsst, wie er mich geküsst hat? Ob er schon mit ihr geschlafen hat? Ich will es gar nicht wissen. Verdammt, ich will es aber doch wissen! Schlimmer kann’s gar nicht mehr werden. Oder doch? Oh bitte nicht, das stehe ich nicht durch!

Ich klingle. Niemand da. Oder niemand, der Lust hat, mir die Tür zu öffnen. Ich starre von der Straße hoch zu Isas Fenster. Augenblicklich beginne ich mich zu fragen, ob ich das Zimmer hinter diesem Fenster jemals wieder betreten werde.

Ich setze mich auf die Treppe und warte. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Eine Stunde.

Irgendwann spiele ich mit dem Gedanken, Isabella eine bösartige Nachricht zu hinterlassen. Aber dieser Gedanke befriedigt mich überhaupt nicht. Einen Zettel in den Briefkasten zu werfen ist ungefähr so effektiv wie die Wand anzuschreien. Ich will ihr gegenüberstehen. Ich will ihr in die Augen sehen. Ich will sie ihr mit meinen eigenen Händen auskratzen.

Aber sie lässt mich nicht. Sie lässt mich einfach nicht. Sie lässt zu, dass mich meine Traurigkeit fast um den Verstand bringt. Sie lässt mich allein mit meiner kaputten Welt und mit diesem Matschherz in der Brust, das nicht weiß, warum es überhaupt noch schlägt.

Ich schleppe mich nach Hause. Ich schließe mich in meinem Zimmer ein, setze mir Kopfhörer auf und höre Foo Fighters in voller Lautstärke. Mein Handy behalte ich in der Hand, damit ich nicht verpasse, wenn es vibriert. Aber es vibriert nicht. Ich höre Foo Fighters in Schleife, bis ich vor Müdigkeit die Augen nicht mehr offen halten kann.

Als der Wecker am nächsten Morgen klingelt, dauert es nur eine Millisekunde, bis mir wieder einfällt, dass mein Leben ein Trümmerhaufen ist. Ich schaue zuerst aufs Handy. Kein Anruf. Keine Nachricht.

Es gibt für mich nur einen einzigen Grund trotzdem aufzustehen: Isa und die Chance, sie in der Schule zur Rede zu stellen. Sie kann mir gar nicht ausweichen. In vier von sieben Stunden sitzen wir nebeneinander. Das ist wohl normal, wenn man befreundet ist. In unserem Fall wird das die reinste Folter. Oder eine Art Schocktherapie. Ich muss sie einfach sehen. Sie soll mir ins Gesicht sagen, dass das alles wahr ist, dass das kein böser Traum ist, den sich jemand für mich ausgedacht hat, um zu testen, wie viel ich ertragen kann.

Solange ich es nicht aus ihrem Munde höre, habe ich noch Hoffnung, und diese Hoffnung ist im Augenblick das Einzige, was mich daran hindert, so richtig auszurasten.

Doch zugleich erscheint mir die Vorstellung, Isa zu begegnen, unerträglich. Ich will nicht, dass sie aussieht wie immer. Weil nämlich nichts mehr ist wie immer und auch nie wieder sein wird, wenn’s nach mir geht. Und schon gar nicht werde ich den Anblick ihrer Lippen ertragen. Den Anblick ihres verfluchten rosa glitzernden Schmollmunds mit Erdbeergeschmack, zu dem ich blöde Kuh sie auch noch angestiftet habe, als wir neulich shoppen waren. Da konnte ich ja schließlich nicht ahnen, dass sie damit bei der nächstbesten Gelegenheit auf Oliver losgehen würde. Ich werde ihre Lippen sehen und ich werde mir die ganze Zeit ausmalen, wie diese Lippen Oliver geküsst haben. Und wie Oliver diese Lippen geküsst hat.

Ich kritzle kleine fiese Monster in meinen Schreibblock, die sich gegenseitig die Köpfe abbeißen. Isabella ist noch nicht da, dabei müsste es jeden Moment zum Unterricht klingeln. Vielleicht kommt sie ja gar nicht. Vielleicht täuscht sie ihrer Mutter mal wieder eine Erkältung vor, wie sie es sonst immer macht, wenn sie Panik vor einer unbezwingbaren Klassenarbeit hat. Dann brüllt sie die Nacht zuvor in ihr Kissen, damit ihre Stimme am Morgen schön heiser ist und ihre Mam ihr eine Entschuldigung schreibt. Dieser Trick ist eines unserer großen Geheimnisse. Aber mal ehrlich: Hat Isa noch irgendein Recht auf meine Verschwiegenheit? (Hey, alle mal herhören! Isabella brüllt nachts in ihr Kissen!)

Vielleicht hat sie ja bereits die Stadt verlassen. Das Land. Diesen Planeten.

Nein, hat sie nicht. Da steht sie. Kichernd und wild gestikulierend steht sie im Türrahmen zu unserem Klassenzimmer. Mit Vanessa. Vanessa!? Ich glaube, ich sehe nicht richtig. Vanessa ist so etwas Ähnliches wie unser Gegenteil. Isa und ich haben uns bereits in der ersten Klasse darauf geeinigt, dass wir sie aus verschiedenen Gründen doof finden. Und seit der Fünften wissen wir ganz sicher, dass wir nie so werden wollen wie sie. Da hat Vanessa bei den Jungen in unserer Klasse doch tatsächlich eine schriftliche Umfrage gestartet und Zettel verteilt. »Willst du mit mir gehen? Kreuze an: Ja, Nein, vielleicht.« Ich dachte damals schon, diese Masche wäre total out, aber diese Trottel, meine Mitschüler, haben die kleinen Zettelchen artig ausgefüllt und sie ihr zugesteckt. Lauter kleine, ordentlich gefaltete Jas, und alle hofften sie auf ein Zeichen der Zuneigung. Vanessa hat die Jas dann in der Hofpause in unserem Beisein ausgezählt und sich furchtbar darüber amüsiert, wie diese Milchbubis bloß auf die verrückte Idee kommen konnten, eine Fee wie sie könnte ernsthaft Interesse an ihnen haben. Besagte Zettel kleben – erzählt man sich – seit diesem Tag in Vanessas Tagebuch und bescheren ihr in regelmäßigen Abständen ein gutes Gefühl.

Vanessa gehört außerdem zu jener Sorte Mädchen, die Knutschflecken wie Gütesiegel zur Schau tragen. Und sie liebt es, auf jene blauvioletten Beweise ihrer eigenen Unwiderstehlichkeit angesprochen zu werden. Am liebsten trägt sie diese Mahnmale in Kombination mit Eintrittsstempeln von Discotheken, in die wir eigentlich noch gar nicht reindürfen. Leider hat Vanessa einen großen Bruder, der ihr regelmäßig Zutritt zu den angesagten Discos verschafft. Isa und ich verfügen bedauerlicherweise weder über einen großen Bruder noch über die erforderliche Oberweite oder eine ausgefeilte Schminktechnik, um uns an den strengen Blicken der Einlasser vorbeizumogeln. Isa und ich. Ich und Isa. Diese Wortgruppe streiche ich von nun an aus meinem Sprachschatz.

Isa hat sich offensichtlich ausgekichert mit ihrer neuen besten Freundin und kommt zu unserem Platz. Ich schaue ihr direkt in die Augen und denke mir, ich könnte genauso gut eine Waffe auf sie richten. Sie sieht an mir vorbei oder durch mich hindurch. Mir dreht sich der Magen um und ich habe das Gefühl, meine Wangen sind heiß genug, um darauf Spiegeleier zu braten. Oder ex-beste Freundinnen.

»Du bist echt das Allerletzte!« Es fällt schwer, so einen Satz zu flüstern, aber bis zum Ende der Stunde hätte ich ihn nicht auf der Zunge behalten wollen. Isa verzieht keine Miene. Schließlich öffnet sie den Mund wie in Zeitlupe und die Worte kleckern ihr über die Lippen: »Es tut mir leid. Es ist einfach so passiert.« Dann schließt sich der Mund wieder und bleibt geschlossen für eine ziemlich lange Weile.

»Wollte Isabella nicht zum Essen bleiben?« Als ich wieder ins Esszimmer komme, nachdem ich Isa erfolgreich vertrieben habe, hat meine Mutter schon für sie gedeckt.

»Nein, wollte sie nicht.« Dreist genug, dass sie sich überhaupt noch traut, hier aufzukreuzen!

»Dabei gibt’s heute Tomatensalat. Den isst sie doch so gerne.«

»Isa ist auf Diät.«

»Von Tomaten wird man doch nicht dick!«, empört sich meine Mutter.

»Isa schon.«

Mann, wie sieht’s aus, können wir vielleicht mal das Thema wechseln?

»Marie, kannst du nicht mal für fünf Minuten das Scheißding beiseitelegen?«

Na also.

Das Scheißding ist mein Handy und ich lasse es nicht aus den Augen, bis Oliver mich endlich anruft. »Gleich.«

»Nein, sofort.« Aus den Augenwinkeln beobachte ich meine Mutter, die kurz vor der Explosion steht.

Das Abendessen ist ihr heilig, weil »die Familie« ja so selten zusammen ist. Die Familie, das sind meine Eltern, mein kleiner Bruder Lenny und ich. Seit mein Vater in seiner Klinik zum Chefarzt der Gynäkologie aufgestiegen ist, hat er ständig Bereitschaft. Und es kommt wirklich nicht selten vor, dass so ein Baby beschließt, ein paar Wochen zu früh auf die Welt zu kommen. Ich verstehe diese Würmchen nicht. Warum haben sie es so eilig? Es geht ihnen doch gut, da wo sie sind. Den ganzen Tag herumschwimmen in einer großen Fruchtblase, Verantwortung für nichts und niemanden, nur so ein bisschen wachsen – das stelle ich mir großartig vor.

»Hoffentlich habt ihr nächste Woche schönes Wetter. Für hier haben sie ja Regen angesagt. Ganz schön gemein, ausgerechnet am Ferienanfang.« Wenn meine Mutter wüsste, dass Regen in den Ferien gerade meine kleinste Sorge ist! Zwei Wochen Spanien. Mit dem Bus nach Tossa de Mar – Meer, Sonne, Strand, Sangria. Das war der Plan, bevor Isa beschloss, mir meinen Freund auszuspannen.

»Mama, Stefan hat eine Depässion.« Das war mein kleiner Bruder Lenny. Lenny ist acht, total klug und Stefan ist sein Meerschweinchen und total doof. Stefan stammt aus dem Zoo und sollte eigentlich mal ein leckeres Festmahl für die dort ansässigen Pythons werden. Was Stefans Herkunft und ursprüngliches Schicksal betraf, haben meine Eltern meinen Bruder natürlich eiskalt angelogen. Aber als Lenny mich gerade mal wieder durch seine bloße Anwesenheit in den Wahnsinn trieb, habe ich ihm von der Sache mit den Schlangen erzählt. Danach hat Lenny ungefähr eine Stunde geheult und so ziemlich genau einen Tag nicht mit mir geredet.

»Das heißt De-pres-sion und Meerschweinchen kriegen keine Depression.« Danke, Mama.

Seit Lenny von der Zoogeschichte weiß, steht Stefan unter Naturschutz. Jedes ungewöhnliche Grunzen bauscht mein Bruder zu einer schweren Krankheit auf und ich glaube, kein Meerschweinchen war innerhalb eines Jahres so oft beim Tierarzt wie Stefan. Woher Lenny das mit der Depässion schon wieder hat, wissen die Götter.

»Ich fahr nicht mit nach Spanien«, werfe ich in die Runde.

»Was ist das denn jetzt für ein Quatsch? Natürlich fährst du.«

»Natürlich fährst du«, steigt Lenny ein, dessen Zeigefinger gerade in einer dicken Scheibe Brot nach verborgenen Schätzen pult.

»Leonard, hör auf, mit dem Essen zu spielen.«

»Oliver fährt mit Isa nach Spanien«, sage ich mit gespielter Sachlichkeit.

»Aber Oliver ist doch dein Freund«, bemerkt Lenny scharfsinnig wie immer.

»Klappe, Lenny«, zische ich über den Tisch.

»Sei nicht so gemein zu deinem Bruder, Marie. Leonard kann nichts für deine schlechte Laune.« Das ist wieder typisch mein Vater. Immer wenn die Kacke so richtig am Dampfen ist, lässt er den großen Diplomaten raushängen.

»Und, kann ich vielleicht was dafür, dass mich hier alle verarschen? Wenn dir das den Appetit verdirbt – ich hab kein Problem damit, Papa. Ich find’s nämlich auch zum Kotzen.«

Manchmal ist das die beste Methode, um Eltern zum Schweigen zu bringen: sie mit der gesamten Ladung unangenehmer Empfindungen zu konfrontieren.

Es funktioniert. Das Thema Spanien ist vorerst vom Tisch.