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Meinem Enkel
Frederick Somberg
gewidmet

Sonne, Sand und Meer

1959

Ich bin der festen Überzeugung, dass mir mein ausgeprägtes Fernweh und meine Reiselust durch meine Großmutter Anna vererbt wurde.

Sie reiste ebenso gern wie ich und nutzte jede Gelegenheit die sich bot, in die Ferne zu ziehen.

So ganz offen zugeben wollte sie es allerdings auch nicht. Meine Oma reiste schon in früh in ihren jungen Jahren. Besuch bei den Schwiegereltern in Thüringen oder kurz nach dem Krieg zu meinem Vater. Diesen an seinem Krankenlager im Lazarett im Erzgebirge zu besuchen, war ihr eine leichte Übung. Mein Großvater väterlicherseits war Maschinenbauer, ein zu seiner Zeit, vergleichsweise sehr moderner Beruf. Bis zum Ende seines Berufslebens arbeitete er auf verschiedenen Großbaustellen im süddeutschen Raum. Meine Oma reiste ihm sehr gern nach.

„Ich fahr ja nicht zu meinem Vergnügen“, betonte meine Großmutter immer wieder, wenn sie wieder einmal ihren kleinen Koffer packte, ihren neuen Mantel anzog und von uns zum Bahnhof begleitet werden wollte, um meinen Opa in Mannheim oder Heidelberg zu besuchen. Fahrkarte und Mantel waren mit dem Geld meiner Eltern bezahlt. Das damals junge Ehepaar hatte es zusammengespart, um neue Schlafzimmermöbel anzuzahlen. Denn obwohl mein Großvater nicht gerade schlecht verdiente, benötigte meine Oma immer etwas zusätzlich. Die später erfolgten Rückzahlungen des kleinen Kredites wurden so diskret behandelt, dass mein Opa sie für für Zuwendungen an meine Eltern der Oma hielt und hin und wieder erinnerte er sie, dass er und Oma ja das Schlafzimmer der jungen Leute bezahlt hätten und ein wenig Dankbarkeit ja nicht zu viel verlangt wäre. Meine Oma schwieg wissend und so hatten meine Eltern ebenfalls noch sehr lange eigene Erinnerungen an diese Reisen, ohne je mitgefahren zu sein. Besonders wenn wir uns wieder einmal die schwarzweiß Fotografien ansehen durften die meine Großeltern, in einem großen Fass sitzend und Wein trinkend, zeigten.

„Ich will mitfahren“, forderte ich kaum fünfjährig ein. „Kinder die was wollen, die kriegen was auf die Bollen“, war die viel erprobte Antwort meiner Oma. „Du kannst verreisen, wenn du dein eigenes Geld verdienst“. „Auch nach Amerika“? Ich wollte unbedingt nach Amerika. „Nach Amerika reist man nicht, sondern dorthin wandert man aus“. Die Antwort kam deutlich. „Du willst doch nicht auswandern? Du bist doch ein Mädchen, die bleiben bei der Mutter zu Hause bis sie heiraten. Amerika das ist nur ein Traum der sich für unsereins nicht erfüllt“. Aber ich ließ mich nicht beirren. Wer weiß, vielleicht wird ja doch mal daraus. Auch meine Oma lenkte ein. “Warum eigentlich nicht, in diesem Jahrhundert hat sich schon so viel verändert? Warum sollte dann ein Mädchen nicht auch nach Amerika reisen“.

Vorerst allerdings hieß es sich mit den Erzählungen der Familienmitglieder beim Sonntagskaffee zu begnügen. Einige Verwandte kannten die Welt schon, waren sogar schon einmal ins Ausland gereist.

In den fünfziger Jahren waren in unserer Familie noch diverse Onkel und Tanten, die Geschwister und Schwäger meiner Oma und Kusinen meines Vaters, reichlich vorhanden. Weiter entfernt wohnende Angehörige wurden zu Lebensfesten Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Beerdigungen und natürlich zu Geburtstagen besucht. Zu denen die in der Nähe wohnten, ging man am Sonntag zum Kaffee. Bei Bohnenkaffee und Obstboden, der je nach Jahreszeit belegt war, wurde geklatscht, gestrunzt und gelästert.

Ich war immer mal wieder gern bei Onkel Fritz und Tant Nanny, ja wir sagten Tant Nanny, zu Gast. Onkel Fritz und Tant Nanny hatten bereits ein Hobby das mir sehr gefiel. Die Beiden gönnten sich Tagesreisen, abwechselnd mit den beiden örtlichen Busunternehmern Laska und Büssemeier, in das nahe Ausland. In die Niederlande, nach Holland wie sie sagten. Sie waren in Zandvoort und Scheveningen gewesen. Sie hatten den Strand und das Meer gesehen und schwärmten von den tollen Einkaufsmöglichkeiten in Holland. Kaffee, Zigaretten und Butter, alles da und alles viel billiger als in Deutschland. Ja der Zoll, das ist ein Problem, aber man kann die Waren ja verstecken, da sei man ja inzwischen firm drin. Fahrt doch auch mal mit, Reisen bildet und man hat sich ja auch lange nichts gegönnt nach der schlechten Zeit, die ja Gott sei Dank jetzt vorüber ist.

Oma und Opa und meine Eltern berieten lange darüber, ob eine Reise ins Ausland für uns nicht doch zu teuer und zu gefährlich sei. Erstaunlicherweise entschieden sie sich für eine Fahrt ins Ungewisse und wir buchten einen Tag am Meer für zehn Personen

Ich war aufgeregt, weil ich mir so viel ich auch nachdachte das Meer nicht vorstellen konnte.

War es so wie auf dem Ölbild im Wohnzimmer, auf dem eine Hansekogge gegen den Sturm auf der Ostsee ankämpfte und diesen Kampf offensichtlich zu verlieren schien? Mein Bruder erzählte mir, dass wir ja nicht an die Ostsee, sondern an die Nordsee fahren und da ist alles anders. Dort gäbe es Ebbe und Flut und bei Ebbe ist kein Meer da und man kann nicht baden. Er war nicht bereit mir mehr zu erzählen und ich bin immer noch sicher, er wusste auch nichts Näheres. Oder war es so ruhig und schmal wie der Rhein-Herne Kanal, an dessen Ufer wir manchmal im Hochsommer unsere Freizeit verbrachten, zum Schwimmen in die schmutzige Brühe sprangen und den Binnenschiffen zusahen. Ich hatte keine Ahnung und so fürchtete ich die Reise auch bisschen.

In der Nacht vor dem großen Tag träumte ich vom Meer. In meinem Traum war das Meer ein genaues Abbild unseres Gelsenkirchener Jahnfreibades, mit einem großen Unterschied. Hier am „Meer“ kamen am Ende eines fröhlichen Badetages plötzlich Männer mit großen Holzplatten und deckten das Wasser zu. Den Besuchern wurde erklärt, jetzt sei Flut und das Badevergnügen zu Ende. Im Traum war ich sehr mutig und stark und hob eine der Holzplatten hoch und schaute darunter. Ein riesiges Höllenfeuer loderte dort und Flammen schossen heraus, ich ließ die Holzplatte schnell fallen und wachte plötzlich mit angsterfülltem Herzen auf. Ich hatte plötzlich so gar keine Lust mehr dieses Meer zu sehen.

Aber es wurde Tag und wir standen sehr früh auf, um uns mit der Familie am Hauptbahnhof zu treffen um mit dem Bus zu reisen. Zu diesem besonderen Anlass spendierte unser Vater uns die Straßenbahnfahrt mit der Linie 17 zum Hauptbahnhof. Zu anderen Zeiten wurde diese Strecke gelaufen, denn schließlich kostete eine Fahrkarte 25 Pfennig. Mein Vater selbst fuhr zu jeder Gelegenheit mit der Bahn, er hatte aufgrund seiner Kriegsverletzungen die Bahnfahrt kostenlos. Am Bahnhof trafen wir auf unsere Verwandtschaft. Neben Oma und Opa, Onkel und Tante waren auch die Mutter und der Bruder meiner Tante Fernade, genannt Tant Nanny, mit von der Partie. Die Mutter war eine recht beleibte Person, trotz der immer wieder beklagten und angeblich erst kürzlich überwundenen schlechten Zeiten. Sie war so dick, dass es beim Einsteigen in den Bus zu erheblichen Verzögerungen kam. Mutter passte nicht durch die vordere Bustür. Onkel Fritz, mein Vater und der Busfahrer drückte sie schließlich durch die Hintertür ins Wageninnere. Ob sie einen Sitzplatz hatte oder auf der Rückbank gelagert wurde, ist mir nicht mehr in Erinnerung.

Die Busfahrt dauert eine ziemliche Ewigkeit, wir fuhren noch in drei weitere Städte um Mitreisende aufzunehmen und dann ging es in der kleinen Stadt Elten am Niederrhein über die Grenze. Ich war aufgeregt, zum ersten Mal in meinem Leben war ich im Ausland. Würde ich noch einmal die Gelegenheit bekommen so etwas zu erleben? Oder war diese Reise einmalig? So weit weg von zu Hause und alles war fremd. Die Sprache der Grenzbeamten, die Häuser auf der niederländischen Seite. Diese Häuser waren klein und aus rotem Backstein gebaut und hatten keine Gardinen. Lustig wie kann man so leben, mit offenen Fenstern in die jeder reinschauen kann. „Ja die Holländer haben keine Geheimnisse vor ihren Nachbarn, nicht so wie bei uns in Deutschland, wir sind ja im Verheimlichen Meister“, erklärten meine Verwandten.

Nach weiteren zwei weiteren Stunden Fahrtzeit lag endlich unser Ziel die Stadt Zandvoort und das Meer vor mir. Ich war erleichtert, keine Holzbretter auf dem Wasser, und begeistert, die Sonne schien, der Wind riss an meinen Haaren und die Luft roch frisch nach Salz und Tang. Nie wieder im meinem Leben werde ich diesen Duft vergessen und jedes Jahr zieht es mich ein paarmal an die Küste um durchzuatmen. Ich liebe es, das ständig sich verändernde und doch immer gleich bleibende Spiel der Gezeiten zu beobachten und einen kleinen, beruhigenden Blick in die Ewigkeit zu wagen.

Aber ich will nicht abschweifen, denn der Tag am Meer fing ja erst an.

Nach erstem Begutachten der Umgebung und vielfachem Lob des schönen Strandes, der guten und gesunden Seeluft, teilte sich unsere kleine Gruppe. Meine Großeltern, Onkel und Tante setzten sich, unter Sonnenschirme in Klappstühle und packten die mitgebrachte Verpflegung aus. Mein Opa, den ich nur mit Glatze kannte, nahm sein großes Herrentaschentuch, jeder anständige Herr hatte stets so ein Taschentuch dabei, knotete es an den vier Ecken und setzte es als Sonnenschutz auf seinen haarlosen Kopf. Danach widmete er sich den Köstlichkeiten, Kartoffelsalat im Einmachglas, Frikadellen, gekochte Eier und kalte Reibeplätzchen und noch mehr, er war zufrieden. Die ältere Generation reiste in ihren Alltagskleidern. Die Herren in Stoffhosen und Oberhemd und die Frauen im Kleid. Es zog sie auch nicht ins Wasser, sie begnügten sich mit dem Zusehen. Unsere Eltern breiteten eine Decke näher am Wasser aus und machten es sich dort gemütlich. Meine Mutter hatte nie schwimmen gelernt und so saß sie auf der Decke und beobachtete den Badebetrieb, rauchte und lästerte über die anderen Badegäste. Mein Vater, ein sehr guter Schwimmer, stürzte sich gemeinsam mit uns Kindern in die Wellen. Es war herrlich, die Wellen waren so stark, dass sie mich immer wieder umwarfen und ich kaum Halt finden konnte, aber mein Papa war ja dabei und mein großer Bruder auch. Wir wollten gar nicht mehr aus dem Wasser heraus. Mein Bruder baute im Sand kleine Kanäle und ließ Schiffchen darin in Richtung Meer schwimmen. Ich sammelte mit meiner Mutter Muscheln am Strand, ein kleines Eimerchen voll. Als ich sie später im Wasser abwaschen wollte, fanden ein paar Muscheln dabei wieder den Weg zurück ins Meer.

Nach dem Baden und einem ausgiebigen Picknick, machten wir uns am frühen Nachmittag auf, um in dem damals noch kleinen, Städtchen Zandvoort einzukaufen. Onkel und Tante kannten die besten Möglichkeiten bereits von ihren früheren Aufenthalten. So stöberten wir durch die Geschäfte und suchten nach den begehrten Schnäppchen. ZIGARETTEN standen ganz oben auf der Liste, dicht gefolgt von Kaffee und Butter, alles aufgrund von Steuersparnissen so viel billiger als in Deutschland. Meine Eltern kauften reichlich ein. Mit Tüten bepackt trafen wir am Spätnachmittag wieder am Bus ein. Alle Mitfahrer waren bepackt wie zu Weihnachten. Jetzt hieß es die guten Sachen so unterzubringen, dass der Zoll sie nicht finden konnte. Die älteren Frauen packten Kaffeepakete in ihre, damals noch aus mehr Stoff gefertigten, Büstenhalter und Korsetts und hofften, die Zollbeamten würden aus Höflichkeit und Anstand den Damen nicht an die Wäsche fassen. Mein Vater hatte an diesem Tag extra für die Reise ein weißes Hemd angezogen. Jetzt steckte er sich die unverzollten Zigarettenpäckchen hinter dem Rücken in das Hemd. Die Zehnpfund Butter wurden in die nasse Badekleidung gewickelt und im Bus unter die Sitze gelegt. Der Rest der Einkäufe war eher unproblematisch und konnte in den Tüten bleiben. So kam der Bus am Grenzübergang Elten an. Unter den Fahrgästen wurde es sehr ruhig, als die niederländischen Grenzbeamten einstiegen und die Ausweise forderten. Sie blickten jedem, wie einem höchst Verdächtigen, lange ins Gesicht. Dann verabschiedeten sie sich und die Reisegruppe atmete hörbar auf.

Aber zu früh gefreut, jetzt kam der deutsche Zoll und der hatte mehr Interesse daran Geld einzutreiben. Der Bus wurde auf eine andere Spur geleitet und musste vor einer Baracke stehen bleiben. Alle Reisenden wurden aufgefordert auszusteigen, ihre Sachen mitzunehmen und in die Baracke zu treten. Ich durfte sitzen bleiben, weil ich noch so klein war. Ich konnte aber vom Bus aus durch die Barackenfenster sehr gut sehen, was da vor sich ging. Jeder musste an einer Gruppe Zöllner vorbeigehen und seine Einkaufstüten und Taschen ausleeren. Die Jacken wurden ausgezogen, um dann von den Beamten abgetastet zu werden. Die Damen mit dem Kaffee im BH wurden mit einem Stöckchen abgetastet, der Beamte musste sie gar nicht anfassen und das eine oder andere Pfund Kaffee durfte nachverzollt werden. Ich glaube aber hier waren nur kleine Summen fällig die zu verkraften waren. Heute bin ich überzeugt, dass es gewollt war die Käufer aus Deutschland nach Holland zu bringen. Die Zollkontrollen waren eher zur Einschüchterung, der damals noch sehr ungeliebten Deutschen gedacht. Denn auch mit Zollgebühren lohnte sich die Fahrt auf jeden Fall.

Mein Vater wurde, davon bin ich überzeugt von den Grenzbeamten mit großem Mitleid betrachtet, denn als er in den Bus stieg, bot er nicht nur ihnen sondern auch uns einen Blick auf seine Rücken und auch auf fünfzehn Zigarettenpäckchen. Die Marke deutlich durch das dünne weiße Hemd zu lesen. Er hatte vergessen seine Jacke beim Verlassen Baracke wieder über zu ziehen. Aber die