Cover-Bild von Des Pudels Kern

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Christiane Geldmacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: depositphotos.com (tuulijumala; Elena3567; inxti74; eedough; archideaphoto); shutterstock.com (Olha Rohulya; ThomBal); PNGTree

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1
Wettschuld

 

Der Weckdienst im Hause Fink kannte kein Pardon. Rosa schreckte hoch und sah auf die Uhr. Früh, viel zu früh an einem Sonntag. Vielleicht konnte sie Zeit schinden. Noch fünf Minuten dösen, das musste ihr gegönnt sein. Sie legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte, ganz regelmäßig zu atmen. Mit etwas Glück konnte sie so Tiefschlaf vortäuschen.

Natürlich wurde der Trick durchschaut. Kater Rudi sprang aufs Bett und von dort auf Rosas Bauch. Ohne hinzuschauen wusste sie, welche der beiden Katzen sich auf ihr niedergelassen hatte. Zweifellos Rudi. Der grau getigerte Kater war inzwischen fast ausgewachsen und wog fünf Kilo. Sofort begann er, mit beiden Vorderpfoten rhythmisch zu treteln. Durch ihr luftiges Sommernegligé spürte Rosa den Druck seiner Ballen deutlich, trotz rücksichtsvoll eingezogener Krallen. Gleichzeitig schnurrte Rudi so voller Wonne, dass sein gesamter Körper in vibrierende Schwingung geriet. Hätte nicht bereits das stattliche Gewicht ihn verraten, dann diese Ekstase beim Milchtritt.

Rudis Schwester enterte nun ebenfalls das Bett. Rosa blinzelte und sah die auf sie gerichteten Katzenaugen. Hungrige Raubtieraugen. Schnell schloss sie die Lider. Ruby wartete einen Moment auf die gewünschte Reaktion. Als diese ausblieb, erinnerte sie mit einem lang gezogenen Määäh an die Pflichten als Dosenöffnerin. Wegen dieses eigentümlichen Miauens, das sich wie ein jämmerliches Blöken anhörte, hatte Rosa ihr den Kosenamen Lämmchen gegeben. Nimmersatt hätte auch gepasst, denn Ruby war zwar wohlgenährt, aber permanent hungrig. Sie schlang gierig alles in sich hinein, dessen sie habhaft werden konnte: Brot, Kuchen, Kekse, Käse, Wurst, nichts war vor ihr sicher. Sogar eine Gurke hatte sie schon mal angeknabbert.

Rubys Klagetöne vermischten sich mit dem schnurrenden Dieselmotor zu einem Konzert, das Rosa kapitulieren ließ. Es half alles nichts. Ausschlafen am Wochenende gehörte der Vergangenheit an. Und Aufwachen mit Sebi leider ebenfalls. Dabei waren sie jetzt doch Pensionäre, wie Sebi scherzhaft zu sagen pflegte. Auch heute war seine Seite des Bettes leer, bis auf Ruby, die dort hockte.

Obwohl sie nun wieder miteinander verheiratet waren und am Wattenmeer zusammenlebten, bekam sie ihren Mann selten zu Gesicht. Nicht nur im Schlafzimmer. Es kam ihr so vor, als hätten sie in Wuppertal trotz Scheidung und getrennter Wohnungen mehr gemeinsame Zeit verbracht. Der Pensionär war erstaunlich diszipliniert und mit Feuereifer bei der Sache. Er stand morgens vor ihr auf und ging meistens nach ihr zu Bett. Weder seinen Job bei der Polizei noch seine spätere Tätigkeit als Privatermittler hatte er auch nur annähernd so ernst genommen wie seine Rolle als Inhaber der Pension Zum Jadebusen. Die Detektei Fink existierte zu Rosas Bedauern seit ihrem Umzug lediglich als Schild, das er an der Tür zum Büro befestigt hatte. Dezent von innen, damit es garantiert niemand entdeckte.

Schatz, wenn hier alles erst mal rund läuft und es zeitlich passt, melde ich die Detektei eventuell als Nebengewerbe an, hatte Sebi in Aussicht gestellt. Was im Klartext hieß, dass die Detektei ebenfalls Vergangenheit war. Rosa seufzte bedauernd, während sie die Näpfe mit Katzenfutter füllte. Nach zwei Fällen war ihre Karriere als Hobbydetektivin schon beendet. Aber andererseits – man konnte nie wissen. Bei Bedarf würde sie ohne Sebi tätig werden. Wer brauchte schon einen Gewerbeschein? Sie war einsatzbereit.

Von Sebis ungewohnter Arbeitswut einmal abgesehen, liebte Rosa ihr neues Leben in Dangast. Nach der spontanen Entscheidung, zusammen hierherzuziehen, hatten sie Sebis fünfzigsten Geburtstag Anfang dieses Jahres noch groß in Wuppertal gefeiert und dabei direkt das Hochzeitsgeschenk eingelöst, den Gutschein für eine Schwebebahnfahrt im altehrwürdigen Kaiserwagen. Die folgenden drei Monate waren mit Umzugsvorbereitungen wie im Flug vergangen.

Entgegen den düsteren Prognosen ihrer Eltern und Schwiegereltern empfand sie kein bisschen Heimweh. Zwischen Bergischem Land und Jadebusen lagen schließlich keine Welten, sondern nur drei Fahrstunden. Sie konnte Familie und Freunde besuchen, wenn sie wollte, und problemlos Besuch aus Wuppertal über Nacht unterbringen. Im Anbau der früheren Zimmerwirtin Wiebke Janssen, in den sie nun mit Sebi eingezogen war, gab es zwar kein Gästezimmer, aber sie besaßen schließlich eine Pension. Sebi plante die offizielle Neueröffnung erst für Ende August. Bis dahin modernisierte er zusammen mit den zwei Angestellten Agnes und Beeke-Luise, die er beide von Wiebke übernommen hatte, die Pensionsräume. Rosa packte natürlich auch mit an. Hinzu kamen die vielen freiwilligen Hilfskräfte aus dem Freundes- und Familienkreis, die Sebi statt zahlender Urlaubsgäste akquirierte. Über Pfingsten war die Pension voll gewesen bis unters Dach: Eltern und Schwiegereltern, dazu Sebis elfjährige Tochter Frieda. Sogar Wiebke hatte bereits von ihrer lebenslangen Option auf freie Unterkunft Gebrauch gemacht. Christi Himmelfahrt war sie mit Bernd aus Wuppertal angereist, um bis Pfingstmontag im Hafenzimmer zu nächtigen und ihnen mit gut gemeinten Tipps auf die Nerven zu gehen. Glücklicherweise hatten sich Bernd und Wiebke dann nach Bremerhaven und von dort aus auf ihre erste Kreuzfahrt begeben.

Rein rechnerisch war Sebis Herangehensweise unklug. Von seiner üppigen Erbschaft war zwar auch nach dem Kauf der Pension einiges übrig, sodass sie sich den Ausfall der Hauptsaison leisten konnten, aber das finanzielle Polster schmolz zusehends dahin. Für die Arbeiten hätte Rosa lieber Profis engagiert, die das Ganze effizient über die Bühne brachten. Dann wären sie längst fertig und könnten die Sommermonate mitnehmen. Sebi zeigte sich jedoch uneinsichtig. Er wollte die Renovierung auf Biegen und Brechen selbst durchziehen. Selbst ist der Mann, hatte er allen Ernstes getönt. Er, der immer behauptet hatte, zwei linke Hände zu haben, gehörte nun in den umliegenden Heimwerkermärkten zur Stammkundschaft.

Im Anbau war Sebi ebenfalls nicht untätig gewesen. Nach Entfernung einer Wand gingen Küche und Wohnbereich nun ineinander über. Rosa hatte alles nach ihrem Geschmack eingerichtet, natürlich nicht, ohne Sebi gelegentlich nach seiner Meinung zu fragen. Von ihm waren keine Einwände gekommen. Inspiriert vom gediegenen Landhaus-Stil der Katzenzüchterin Monika Müller hatte Rosa sich für weiß getünchte Wände, helle Dielen und skandinavische Möbel entschieden. Maritime Bilder und Deko in Blautönen sorgten für Farbtupfer. Im Wohnzimmer war eine ganze Wand Rosas Büchern vorbehalten, die in dem deckenhohen beleuchteten Regal gut zur Geltung kamen. Neben einem großen blauen Sofa mit blau-weiß gestreiften Kissen stand der Kratzbaum aus Naturholz. Er fügte sich harmonisch ein, aber leider zogen Sofa und Kissen Katzenhaare geradezu magisch an. Bei der nächsten Gelegenheit wollte Rosa Monika unbedingt das Geheimnis ihres komplett haarfreien Züchterinnenhaushalts entlocken. Auf wundersame Weise haftete an Monikas Heimtextilien nie auch nur ein einziges Katzenhaar – und an ihrer eleganten Kleidung auch nicht.

»Moin, mein Schatz! Du bist ja schon auf. Ich wollte dir Frühstück ans Bett bringen.«

Rosa zuckte beim Klang von Sebis Stimme zusammen. Er musste sich bemüht haben, leise zu sein, denn sie hatte ihn nicht hereinkommen gehört. In einer farbbeklecksten Malerlatzhose tauchte er plötzlich im Wohnzimmer auf – mit einer Brötchentüte, die er nun auf dem Tisch ablegte.

»Bekomme ich ein Begrüßungsküsschen?«, fragte er gut gelaunt.

Sie reckte sich zu ihm hoch. Doch der Kuss fiel flüchtig aus, was daran lag, dass Sebi neuerdings aufs Rasieren verzichtete und die sprießenden Bartstoppeln an ihrer Wange kratzten. Schneller als üblich löste Rosa ihre Lippen von seinen. Sebis Miene verriet, dass er sich mehr Leidenschaftlichkeit erhofft hatte. In dieser Hinsicht musste sie ihn jedoch enttäuschen.

»Das mit dem Frühstück im Bett ist lieb gemeint von dir, aber ich muss doch meine Wettschuld einlösen. Heute ist der 23. Juni. Gorch-Fock-Lauf. Schon vergessen?«

Ungläubig schaute Sebi sie an, bevor er sagte: »Nein, aber ich habe das für einen Scherz gehalten. Wie lange ist diese Wette jetzt her?« Er dachte kurz nach. »Ein dreiviertel Jahr, und du warst reichlich angeheitert. Soweit ich weiß, bist du genau einmal gelaufen, dann nie wieder. Davon mal abgesehen, dürfte es deinen Wettpartner nicht mehr interessieren.«

»Wettschulden sind Ehrenschulden«, protestierte Rosa. »Angeheitert hin oder her, ich erinnere mich genau. Ich habe nicht nur mit Oli, sondern auch mit den anderen Friesenfüßen gewettet, dass ich dabei bin.« Nach einer kleinen Kunstpause ergänzte sie lächelnd: »Nicht, dass ich mitlaufe. Dabei sein kann ich auch, indem ich zuschaue.«

»Ach so«, äußerte Sebi lahm und guckte so wenig begeistert, dass Rosa schnell hinterherschob: »Wir können aber trotzdem vorher zusammen frühstücken.«

»Gut, dann bereite ich das schon mal vor.«

Er entnahm der Tüte mehrere frisch duftende Brötchen und zu Rosas Freude auch zwei Croissants. Als er begann, die Brötchen aufzuschneiden, ging Rosa ins Bad, um sich rasch anzuziehen. Den seltsamen Blick, den er ihr hinterherschickte, nahm sie aus den Augenwinkeln noch wahr. Wahrscheinlich hielt er sie für irre. Das konnte sie nachvollziehen. Schließlich war ihr Wettpartner Oli, ehemals Mitglied im Laufverein Friesenfüße, inzwischen verstorben. Aber beim ersten Training mit Oli hatte sie sich zwei Dinge geschworen: Zum einen sollte das erste auch das letzte Training mit ihm gewesen sein. Nie mehr so eine Schinderei. Da ihr selbst ernannter Coach schon ein paar Tage später tot umgefallen war, hatte sie sich noch nicht mal eine Ausrede einfallen lassen müssen. Zum anderen hatte sie sich geschworen, trotzdem beim nächsten Gorch-Fock-Lauf anwesend zu sein. Nicht auf, sondern neben der Strecke.

Am Esstisch erzählte Rosa ihrem ziemlich wortkargen Gegenüber, dass sie zum Zuschauen mit Nele verabredet war. Mit Olis früherer Freundin verband sie inzwischen eine lockere Freundschaft. Alle zwei Wochen trafen sie sich im Dangaster Kurhaus oder in der Wilhelmshavener Eisdiele Gelato zum Schnacken, wie es auf Norddeutsch hieß. Der tödliche Kollaps ihres treulosen Freundes war die Initialzündung für Nele gewesen, ihr Leben nach einer relativ kurzen Trauerphase komplett umzukrempeln. Sie hatte das schäbige Apartment gekündigt, in welches sie Oli zuliebe eingezogen war, und auch den Job in der Kurverwaltung. Jetzt wohnte sie in Wilhelmshaven – im selben Viertel wie Vereinskamerad Malte. Das erwies sich heute als sehr praktisch, denn von dort aus erreichte man in fünf Gehminuten Start und Ziel des Laufevents am Kulturzentrum Pumpwerk.

»Ach, Nele läuft nicht mit?«, wunderte Sebi sich.

»Sie wollte eigentlich und war schon angemeldet. Aber sie hat eine Achillessehnenentzündung. Ist ziemlich schmerzhaft und der Arzt hat ihr geraten, die Sehne eine Zeit lang wenig zu belasten.« Sebis Miene hellte sich bei dieser Information sichtlich auf, weshalb Rosa irritiert nachfragte: »Was ist denn bitteschön an einer Achillessehnenentzündung so erfreulich?«

»Nein, nein, das mit der Sehne tut mir leid«, stellte Sebi sogleich richtig. »Ich freue mich, dass Nele dir Gesellschaft leistet. Offen gestanden hatte ich befürchtet, mitkommen zu müssen. Dabei bin ich doch gerade so im Flow beim Streichen …« Er kratzte sich am Kinn und schaute Rosa in Erwartung ihrer Reaktion gespannt an.

»Dann schwing du mal deine Pinsel, den Flow solltest du nutzen. Fütterst du mittags die Katzen?«

Sebi nickte erleichtert. Er belegte sich sein drittes Brötchen und biss herzhaft hinein, bevor er ankündigte: »Und heute Abend machen wir es uns kuschelig, Schatz.«

Schön wär’s, aber wenn er da mal den Mund nicht zu voll nahm, dachte Rosa. Glauben würde sie es erst, wenn der Pensionär am Abend wirklich ausnahmsweise einmal wieder Zeit vor Mitternacht für sie abzwackte. Was war nur mit ihrem Sebi los? Zwanzig Jahre lang hatte sie gewünscht, ihr Ehemann möge mehr beruflichen Elan entwickeln. Doch dieser Übereifer, der seit Monaten anhielt, war ihr inzwischen unheimlich.

 

Stunden später fand Rosa, dass sie sich lange genug die Beine in den Bauch gestanden hatte. Welch ein Glück, dass sie bei dem Wetter nicht laufen musste. Bei ihr lief nur der Schweiß. Vielleicht sorgte an der Rennstrecke entlang der Küste eine leichte Brise für Abkühlung, aber hier stand nicht nur sie, sondern auch die Luft. Pralle Sonne, seit um halb zwölf der Startschuss zum Halbmarathon gefallen war – Rosa brauchte Schatten und etwas zu trinken. Aber Nele zeigte keine Anzeichen von Schwäche. Sie wollte unbedingt bleiben und auf Malte warten, um ihn auf den letzten Metern vor dem Ziel anzufeuern. Noch nicht mal das Angebot, ihr einen Eiskaffee zu spendieren, konnte Nele umstimmen. Um halb eins gab Rosa schließlich ihre Überredungsversuche auf. Nachdem sie Nele noch viel Spaß gewünscht und sich verabschiedet hatte, flanierte sie gemächlich über die Jadeallee zur Fußgängerzone. Wegen des schönen Wetters in Kombination mit einem großen Laufevent war die City so belebt wie sonst nur zur Shoppingzeit. Bevor sie das Gelato erreichte, kam sie an der früheren Boutique für Damenmode in Übergrößen vorbei. Wie immer, wenn sie das inzwischen an eine Textilkette vermietete Ladenlokal sah, bedauerte sie, dass Nordisch Curvy nicht mehr existierte. Was wohl der nette Mr. Curvy nun machte? Die Farbe ihres Lieblingsshirts, das er ihr letztes Jahr im Osterurlaub verkauft hatte, begann schon zu verblassen, weil es so oft gewaschen wurde. Sie brauchte dringend ein neues in genau diesem besonderen Korallenrot, war aber nirgendwo fündig geworden. Auch Sebi mochte dieses Shirt, allerdings weniger wegen der Farbe, die mit ihren blauen Augen, den rotblonden Locken und dem hellen, sommersprossigen Teint harmonierte, sondern weil es ihre Rundungen betonte. Tja, rund war sie zweifellos. Leider wusste sie nicht, wie Mr. Curvy mit richtigem Namen hieß und ob er der Inhaber der Boutique war oder ein sehr motivierter Verkäufer. Sie sollte ihren brachliegenden detektivischen Spürsinn reaktivieren und nachforschen, wo er nun arbeitete.

Während sie auf die Eisdiele zuhielt, sah sie mehrere Leute um die Außentische schleichen, die auf freiwerdende Plätze lauerten. Das hatte Rosa nicht nötig. Seit sie regelmäßig hier einkehrte und die Besitzer so gut kannte, dass man sich duzte, bekam sie immer einen Platz, egal, wie voll es war. Sie ging hinein, um die Rossis zu begrüßen. Loretta bediente im Hintergrund die Espressomaschine und schaute nicht in ihre Richtung, aber Gianno erspähte Rosa sofort.

»Ciao, Gianno! Mächtig was los hier!«

»Moin!«, erwiderte der Italiener in bester friesischer Manier. »Wo ist Nele? Und noch nicht mal Sebi hast du mitgebracht?« Er verließ den Arbeitsbereich für seine obligatorischen Wangenküsschen, die er nie direkt auf die Haut, sondern nur angedeutet in die Luft schmatzte. Nachdem Rosa erklärt hatte, warum sie allein hergekommen war, fragte er: »Wo möchtest du sitzen, Rosa?«

»Am liebsten draußen im Schatten. Und machst du mir bitte einen extra großen Eiskaffee?«

»Sehr gern. Schattenplatz und Eiskaffee speciale, kommt beides sofort.« Gianno wies eine der Bedienungen an, einen zusätzlichen Tisch mit Stuhl unter die Markise zu stellen, bevor er wieder eilig hinter die Theke schlüpfte. Inzwischen hatte auch seine Frau Rosa erspäht und winkte ihr zu. Dann deutete Loretta auf die lange Warteschlange vor der Eisvitrine. Mit einem Nicken signalisierte Rosa, dass sie verstand. Zum Schnacken war keine Zeit. Aber das war heute auch nicht ihr primäres Anliegen. Sie setzte sich an das für sie organisierte runde Tischchen. Kurz darauf servierte die Bedienung den eisgekühlten Mokka mit Vanilleeis und Sahne. Rosa gab sich konzentriert dem Genuss hin, bis eine wohlbekannte Stimme, die aus einiger Entfernung seitlich zu ihr drang, sie plötzlich aufhorchen ließ.

»Sitz! Und jetzt Platz! So ist’s brav, Fiete.«

Leander Grafs Stimme hätte sie unter Tausenden eindeutig identifizieren können. Dieser Schmelz, dieses besondere Timbre – sogar, wenn er seinem Hund Kommandos gab, klang der Mann kultiviert. Ein Gentleman alter Schule. Und ein guter Verlierer, der zum Kauf der Pension gratuliert hatte, wenngleich er selbst daran interessiert gewesen war. Wiebkes Entscheidung, Sebi den Vorzug zu geben, hatte er ohne ein Anzeichen von Verärgerung weggesteckt und die Absicht, sich mit seiner Frau Kirsten am Jadebusen niederzulassen, trotzdem realisiert. Inzwischen gehörte den Grafs ein von Kuhweiden und Pferdekoppeln umgebenes ehemaliges Bauernhaus in Moorhausen, das sie schlüsselfertig renoviert und aufs Feinste ausgestattet gekauft hatten. Ihr exklusives Reisebüro in Bremen, das sie nach wie vor besaßen, wurde von einem Angestellten geleitet. Mit Anfang sechzig befand sich das Grafenpaar nun quasi schon im Ruhestand und genoss zusammen mit Pudelchen Fiete die Landluft an der Nordsee.

Rosa machte sich bemerkbar, worauf Leander den soeben ergatterten Platz an der Sonne verließ und sich mit Fiete zu ihr unter die schattige Markise setzte. Fiete hätte sie im Unterschied zu seinem Herrchen beinahe nicht wiedererkannt. Beim Anblick des Zwergpudels musste sie grinsen und unwillkürlich an das wollige Schaf Boris denken, das Malte letztes Jahr vor dem Schlachthof bewahrt hatte. Fietes normalerweise kurzen goldbraunen Pudellöckchen wucherten wild.

»Ich weiß«, kam Leander nach der Bestellung eines Espressos dem, was ihr schon auf der Zunge lag, zuvor. »Er muss dringend geschoren und getrimmt werden. Deswegen bin ich hier.«

»Hier?«, wiederholte Rosa verdutzt. »Im Gelato wird man dir in dieser Angelegenheit aber schwerlich weiterhelfen können.«

Leander lächelte milde. »Schon klar. Aber ich musste Kirsten ohnehin nach Wilhelmshaven zu einer Krimilesung fahren. Da dachte ich, vielleicht treffe ich meinen Hundestylisten zufällig hier. Er hat mich jetzt zwei Mal hintereinander versetzt, zu den vereinbarten Terminen war nur seine Frau im Salon.« Er beugte sich runter, um Fiete den Lockenkopf zu tätscheln. »Es wird allerhöchste Zeit. Schau mal, wie der Ärmste hechelt. Dem ist heiß. Und außerdem begünstigt der Filzteppich Parasiten.«

Rosas Verwirrung wuchs, was ihr wohl anzusehen war, denn Leander erklärte: »Die Eisdiele gehört den Eltern meines Hundefriseurs, den Rossis. Riccardo hat mir erzählt, dass er jeden Sonntag nach Wilhelmshaven fährt, um sie zu besuchen.«

Endlich verstand Rosa den Zusammenhang. »Es wird doch noch mehr Hundefriseure geben! Warum gehst du mit Fiete nicht einfach zu einem anderen?«

»Auf gar keinen Fall«, lehnte Leander sofort ab. »An Fiete lasse ich nur Riccardo. Der hat ein Händchen für sensible kleine Hunde und sein Salon Dog Stylissimo ist ein absoluter Geheimtipp.«

Der sensible kleine Hund begann unvermittelt zu knurren. Rosa warf einen Blick in die Richtung, in die auch Fiete starrte. Zwei Männer, die trotz des Sommerwetters Sakkos trugen, nahmen am Nebentisch Platz. Womöglich mochte Fiete keine fremden Männer. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, denn einer der beiden musterte den knurrenden Fiete abfällig. Wegen der komplett ergrauten Haare und der runzligen, sonnengegerbten Haut schätzte Rosa ihn auf etwa siebzig. Das Auffälligste an ihm war seine für den dunklen Teint ungewöhnliche Augenfarbe, ein helles, fast wässriges Blau. Der andere, ebenfalls ein südländischer Typ, aber wesentlich jünger, höchstens Anfang zwanzig, athletisch gebaut, deutete mit seinem Fuß einen Tritt in Richtung des Pudels an. Als Fiete sich daraufhin winselnd unter den Tisch verkroch, lachte der Mann leise und zischte einen kurzen Satz. Rosa tippte auf etwas wenig Freundliches in Italienisch. Sie hatte es nicht genau verstanden.

Leander drehte sich um. »Entschuldigung, haben Sie eben nach meinem Hund getreten und vai a cagare gesagt?«, wendete er sich an den athletischen Sakkoträger.

Der Angesprochene tat so, als hätte er nichts gehört, und verschanzte sich demonstrativ hinter seiner Sonnenbrille. Geschmeidig stand Leander auf, ging zum Nebentisch und nahm dem Mann die Brille ab. Der war so überrascht, dass er reglos sitzen blieb.

Übertrieben freundlich sagte Leander: »Vai a cagare bedeutet, verpiss dich – oder wörtlich übersetzt geh scheißen. Das möchte ich Ihnen ebenfalls empfehlen, wenn Sie sich nicht benehmen können. In diesem Sinne, buona giornata!« Damit setzte er dem Verdutzten die Sonnenbrille wieder auf und ging an seinen Tisch zurück.

Was nun geschah, brannte sich in Rosas Gedächtnis ein. Der große Ansturm vor der Eisvitrine hatte nachgelassen, Loretta Rossi kam höchstpersönlich heraus, um Leander den Espresso zu servieren. Auf halbem Wege blieb sie abrupt stehen. Sie ließ das Tablett mit Wasserglas und Espressotasse fallen und starrte die Italiener an, die im selben Moment gleichzeitig aufstanden. Offenbar sah sie die beiden nicht zum ersten Mal. Der Grauhaarige öffnete sein Sakko, machte einen halben Schritt auf Loretta zu und strich sich mit zwei Fingern lässig über den Kehlkopf. Die mahlenden Kiefer des Jüngeren verrieten, dass er etwas sagen wollte. Durch ein angedeutetes Kopfschütteln und Zungenschnalzen hielt der Grauhaarige seinen Begleiter davon ab. Ohne ein Wort entfernten sie sich langsam – aber die Geste war so unmissverständlich gewesen, dass Rosas Atem einen Moment ausgesetzt hatte.