Der Doppelgänger

Auf Grund von Mißerfolgen in meinem Leben verfiel ich in Depressionen. Da zog eine Anzeige meine Aufmerksamkeit auf sich, die ich zufällig in einer Zeitung las: »Bist du traurig? Hast du keinen Erfolg? Hältst du dich für vom Schicksal benachteiligt? Straße der Rentnerfreuden 13, Hinterhof rechts.«

Unter der angegebenen Adresse herrschte ein großer Andrang. Man mußte ein Billett an der Kasse kaufen und dann warten. Es wurden nur zehn Personen auf einmal hereingelassen.

Als die Reihe an meine Zehnerschaft kam, führte uns ein Diener ins Innere. Es war eine gräßliche Einzimmerbehausung. Auf einer erbärmlichen Pritsche wanden sich einige Kinder in Krämpfen. Emailschildchen an den Wänden informierten: »Bitte rauchen und spucken – es schadet sowieso nicht mehr.« Und: »Bitte nicht die Türen schließen – wozu?«

An einem Tisch saß ein Mann mit einem Bein und eingefallenen Wangen. Als wir uns mehr oder weniger in diesem Loch verteilt hatten, sah der Mann auf die elektrische Uhr, räusperte sich und begann zu sprechen. Es war seine Lebensbeichte.

»Bitte, verzeihen Sie, daß meine Frau nicht da ist«, sagte er zu Beginn, »sie weilt im Krankenhaus. Und jetzt werde

Je länger er sprach, desto fröhlicher wurde ich. Denn im Vergleich mit seinem Leben mußten meine Mißerfolge wie Lappalien erscheinen. Es war dies eine einzige Kette von Niederlagen und Krankheiten. Schon bei der Beschreibung der Umstände, unter denen er zum Waisenkind wurde, erhellten sich die Gesichter der Kunden ein wenig, und als er zu der Geschichte seiner ersten Schwindsucht kam, wurden sie erheblich fröhlicher. Von Zeit zu Zeit gab er Schmerzensschreie von sich, zum Schluß verfiel er in leises Weinen. Als er geendet hatte, betrachtete er unsere strahlenden Gesichter und gestand uns, daß er obendrein noch Alkoholiker sei und bereit, sich für eine kleine Nachzahlung auf der Stelle unter Alkohol zu setzen, was ihm zusätzlich schaden würde. Einige Leute nutzten dieses Angebot aus. Ich verließ diesen Ort beträchtlich im Geiste gestärkt.

Einige Zeit später, als ich abends nach Hause zurückkehrte, traf ich diesen Mann auf der Brücke. Er stand da und starrte in die träge Strömung des Flusses. Er sah aus, als hätte er Kummer.

Ich näherte mich ihm.

»Irgendwelche neuen Sorgen?« fragte ich. »Eine Vergiftung? Ein Ekzem? Oder vielleicht, Gott verhüte, Syphilis?«

»Ach was«, er seufzte schwer. »Lassen wir das Geschäft. Ich bin einfach traurig.«

Er sah so düster in die Tiefe, daß ich das nicht länger ertragen konnte.

»Wissen Sie was?« sagte ich. »Ich weiß nicht, was es sein

»Eh, wirklich?« fragte er schon lebhafter.

»Ja, und außerdem hat mich in diesem Sommer auf dem Land ein Blitz getroffen.«

Er wurde so sichtlich heiter, daß es mich etwas unangenehm berührte. Also fügte ich hinzu:

»Aber er hat mich nicht erschlagen.«

Seine Miene verdüsterte sich wieder.

»Aber es hat weh getan? Was?« fragte er hoffnungsvoll.

Es war etwas so Flehentliches in seiner Stimme, daß ich ihm, weil ich ein so gutes Herz habe, antwortete:

»Sehr.«

»Na, dann werde ich mal wieder«, sagte er fast fröhlich. »Irgendwie wird’s schon werden, nicht wahr?«

Und er ging pfeifend fort. Seit der Zeit habe ich bei ihm Rabatt.