Der vermisste Weihnachtsgast

Über Louise Penny

Foto: Jean-François Bérubé

 

LOUISE PENNY, 1958 in Toronto geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Angewandten Kunst achtzehn Jahre lang als Rundfunkjournalistin und Moderatorin in ganz Kanada. Mit dem Schreiben begann sie erst spät, hatte aber sofort Erfolg: Ihr erster Roman Das Dorf in den roten Wäldern wurde weltweit als Entdeckung des Jahres gefeiert, und auch die folgenden Gamache-Krimis wurden vielfach ausgezeichnet und eroberten die Bestsellerlisten weltweit, in den USA sogar Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste. Seit Kurzem ist Penny auch im deutschsprachigen erfolgreich und anerkannt: Sämtliche Gamache-Krimis standen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Weitere Bände sind im Kampa Verlag in Vorbereitung. Louise Penny lebt in Sutton bei Québec, einem kleinen Städtchen, das Three Pines zum Verwechseln ähnelt.

Audrey Villeneuve wusste, dass das, was sich in ihrer Vorstellung abspielte, nicht geschehen konnte. Sie war erwachsen und kannte den Unterschied zwischen Realität und Phantasie. Doch jeden Morgen, wenn sie auf dem Weg von ihrem Haus im Osten Montréals zum Büro durch den Ville-Marie-Tunnel fuhr, konnte sie es sehen. Hören. Spüren.

Es begann mit dem plötzlichen Aufleuchten von Bremslichtern. Der Lastwagen vor ihr scherte aus, kam ins Schlingern und rammte die Tunnelwand. Ein grauenvolles Kreischen hallte von den Betonwänden wider und raste auf sie zu, verschlang alles andere. Hupen, Sirenen, Bremsen, schreiende Menschen.

Und dann sah Audrey, wie sich riesige Betonbrocken von der Decke lösten und ein Gewirr aus metallenen Adern und Sehnen hinter sich herzogen. Das, was den riesigen Bau zusammenhielt. Das, was die Stadt Montréal zusammenhielt.

Bis heute.

Und dann, und dann … schloss sich das Oval aus Tageslicht am Ende des Tunnels. Wie ein Auge.

Und dann war Dunkelheit.

Und das lange, lange Warten darauf, zerschmettert zu werden.

Jeden Morgen und jeden Abend, wenn Audrey Villeneuve durch dieses Wunderwerk der Technik, das ein Ende der Stadt mit dem anderen verband, fuhr, stürzte es ein.

Sie drehte das Radio lauter und sang mit.

Trotzdem kribbelten ihre Hände auf dem Lenkrad, gleich darauf wurden sie kalt und taub, und ihr Herz begann zu hämmern. Schneematsch klatschte gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer schoben ihn weg und hinterließen einen streifigen Halbmond.

Der Verkehrsfluss geriet ins Stocken. Kam zum Stillstand.

Audreys Augen weiteten sich. Das war bisher noch nie vorgekommen. Es war schon schlimm genug, durch den Tunnel zu fahren. Mittendrin stehen zu bleiben war ein Albtraum. Sie erstarrte innerlich.

»Alles wird gut.« Aber sie konnte ihre Stimme nicht hören, so abgehackt kam ihr Atem und so laut war das Heulen in ihrem Kopf.

Mit dem Ellbogen verriegelte sie die Tür. Nicht um jemanden auszuschließen, sondern um sich einzuschließen. Ein schwacher Versuch, sich selbst davon abzuhalten, die Tür aufzureißen und wegzulaufen, schreiend aus dem Tunnel zu rennen. Sie umklammerte das Lenkrad. Fest. Fester. Noch fester.

Ihr Blick schoss zu der verdreckten Wand auf ihrer Seite, zur Decke, zur gegenüberliegenden Wand.

Die Risse.

O Gott, Risse.

Und die halbherzigen Versuche, sie zu verspachteln.

Nicht um sie zu reparieren, sondern um sie zu verbergen.

Das bedeutet nicht, dass der Tunnel einstürzt, beruhigte sie sich.

Doch dann wurden die Risse größer und verschlangen jeden klaren Gedanken. Alle Ungeheuer, die in ihrer Phantasie lebten, zwängten sich heraus, streckten die Arme aus, drangen durch diese Risse hervor.

»Fahr, fahr doch«, flehte sie.

Aber Audrey Villeneuve saß in der Falle. Von Grauen erfüllt. Sie konnte nirgendwohin. Der Tunnel war schlimm, aber das, was sie im grauen Dezemberlicht erwartete, war noch schlimmer.

Seit Tagen, Wochen, Monaten – ja seit Jahren, wenn sie ehrlich war – hatte sie es gewusst. Es gab Ungeheuer. Sie verbargen sich in den Rissen in Tunneln und in dunklen Seitenstraßen und ordentlichen Reihenhäusern. Sie hießen Frankenstein und Dracula und Martha und David und Pierre. Und fast immer begegnete man ihnen dort, wo man es am wenigsten erwartete.

Sie sah in den Rückspiegel und blickte in zwei verängstigte braune Augen. Dahinter sah sie jedoch auch ihre Rettung. Ihre Silberkugel. Ihren Holzpfahl.

Ein hübsches Cocktailkleid.

Stundenlang hatte sie daran genäht. Zeit, die sie damit hätte verbringen können, verbringen sollen, Weihnachtsgeschenke für ihren Mann und ihre Töchter einzupacken. Zeit, die sie damit hätte verbringen können, verbringen sollen, Plätzchen in Form von Sternen und Engeln und fröhlichen Schneemännern zu backen, mit Knöpfen aus Zuckerperlen und Augen aus Schokolinsen.

Stattdessen war Audrey Villeneuve jeden Abend, wenn sie nach Hause gekommen war, schnurstracks in den Keller zu ihrer Nähmaschine gegangen. Sie hatte sich über den smaragdgrünen Stoff gebeugt und alle ihre Hoffnungen in dieses Cocktailkleid eingenäht.

Heute Abend würde sie es anziehen, zu der Weihnachtsfeier gehen, sich umsehen und die verwunderten Blicke auf

Sie würde die Verantwortung loswerden und könnte sich wieder um ihr Leben kümmern. Die Mängel würden behoben werden. Die Risse geschlossen. Die Ungeheuer dahin zurückkehren, wohin sie gehörten.

Die Ausfahrt zur Champlain Bridge kam in Sicht. Normalerweise nahm sie die nicht, aber heute war kein normaler Tag.

Audrey setzte den Blinker und sah, dass der Mann in dem Auto neben ihr sie mit einem finsteren Blick bedachte. Wo zum Kuckuck wollte sie hin? Sie saßen alle in der Falle. Aber Audrey Villeneuve mehr als die anderen. Der Mann zeigte ihr den Mittelfinger, aber sie war nicht beleidigt. In Québec entsprach das praktisch einem freundlichen Winken. Falls die Québecer jemals ein Auto entwerfen würden, hätte es als Kühlerfigur einen Mittelfinger. Normalerweise hätte sie »freundlich zurückgewinkt«, aber ihr gingen andere Dinge durch den Kopf.

Sie drängelte sich auf die äußerste rechte Fahrspur, zur Brückenausfahrt. Die Tunnelwand war kaum einen Meter von ihr entfernt. Sie hätte die Faust in eines der Löcher stecken können.

»Alles wird gut.«

Aber Audrey Villeneuve wusste, dass es, egal was passierte, wahrscheinlich nicht gut werden würde.

»Legen Sie sich doch selbst eine Ente zu«, sagte Ruth und drückte Rosa etwas fester an sich. Ein lebendes Daunenkissen.

Constance Pineault lächelte und blickte vor sich hin. Noch vor vier Tagen wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, eine Ente haben zu wollen, aber jetzt beneidete sie Ruth tatsächlich um Rosa. Und nicht nur wegen der Wärme, die die Ente an diesem bitterkalten Dezembertag spendete.

Noch vor vier Tagen wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, ihren gemütlichen Sessel im Bistro zu verlassen, um auf einer eiskalten Bank neben einer Frau zu sitzen, die entweder betrunken oder dement war. Aber hier saß sie.

Noch vor vier Tagen hatte Constance Pineault nicht gewusst, dass Wärme viele Formen haben konnte. So wie gesunder Menschenverstand. Aber jetzt wusste sie es.

»Aab-weeeehr«, rief Ruth den jungen Eishockeyspielern auf dem zugefrorenen Teich zu. »Verflixt noch mal, Aimée Patterson, das könnte Rosa ja besser.«

Aimée glitt an ihnen vorbei, und Constance hörte sie etwas murmeln, das »Scheibe« hätte heißen können. Oder …

»Sie vergöttern mich«, sagte Ruth zu Constance. Oder zu Rosa. Oder ins Nichts.

»Sie haben Angst vor Ihnen«, sagte Constance.

Ruth bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Sind Sie immer noch da? Ich dachte, Sie wären gestorben.«

Vier Tage zuvor hatte sie gedacht, sie würde nie wieder lachen können. Aber während sie bis zu den Knöcheln im Schnee neben Ruth saß und sich den Hintern abfror, hatte sie etwas entdeckt. Versteckt. Hier in Three Pines. Das Lachen.

Schweigend sahen die beiden Frauen dem Treiben auf dem Dorfanger zu, nur von einem gelegentlichen Quaken unterbrochen, von dem Constance hoffte, dass es von der Ente kam.

Obwohl im gleichen Alter, waren die beiden Frauen so verschieden wie Tag und Nacht. Constance war weich, Ruth war hart. Constances lange und seidige Haare waren zu einem ordentlichen Knoten geschlungen, die von Ruth waren strohig und raspelkurz. Constance hatte Rundungen, Ruth hatte Kanten. Schroffe, harte Kanten.

Rosa regte sich und schlug mit den Flügeln. Dann glitt sie von Ruth’ Schoß auf die schneebedeckte Bank und watschelte die paar Schritte zu Constance. Kletterte auf Constances Schoß und machte es sich dort gemütlich.

Ruth kniff die Augen zusammen. Das war ihre einzige Regung.

Seit Constances Ankunft in Three Pines hatte es Tag und Nacht geschneit. Sie hatte ihr gesamtes Erwachsenenleben in Montréal verbracht und völlig vergessen, dass Schnee so schön sein konnte. Ihrer Erfahrung nach war Schnee etwas, das beseitigt werden musste. Eine Last, die vom Himmel fiel.

Doch das hier war der Schnee ihrer Kindheit. Fröhlich, heiter, weiß und sauber. Je mehr, desto besser. Etwas zum Spielen.

Er bedeckte die Häuser aus Natursteinen, Schindeln und Ziegeln, die den Dorfanger säumten. Er bedeckte das Bistro

Bei ihrer Ankunft hatte Constance vor Myrnas Buchladen geparkt und war besorgt gewesen, als sich das Schneetreiben im Laufe des Abends zu einem Schneesturm auswuchs.

»Soll ich mein Auto lieber woanders hinstellen?«, hatte sie Myrna gefragt, bevor sie zum Schlafen nach oben gegangen waren. Myrna war ans Fenster ihres Ladens für neue und gebrauchte Bücher getreten und hatte überlegt.

»Ich denke, es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.«

Es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.

Und sie behielt recht. Constance hatte eine unruhige Nacht lang auf die Sirenen der Schneepflüge gelauscht. Auf die Aufforderung, ihr Auto auszugraben und wegzufahren. Die Fenster hatten in ihren Rahmen gewackelt, als der Wind Schnee dagegenpeitschte. Sie hörte den Sturm zwischen den Bäumen und um die trutzigen Häuser heulen. Wie etwas Lebendiges, das auf der Jagd war. Schließlich war Constance unter ihrer warmen Daunendecke weggedämmert. Als sie aufwachte, war der Sturm weitergezogen. Constance trat ans Fenster und rechnete damit, ihr Auto unter dem Schnee begraben zu sehen, nur mehr eine weiße Erhebung unter einem halben Meter Neuschnee. Stattdessen war die Straße geräumt, und alle Autos waren ausgegraben.

Es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.

Und endlich galt das auch für sie.

Vier Tage und vier Nächte hatte es ununterbrochen geschneit, bevor Billy Williams mit seinem Schneepflug zurückgekommen war. Bis dahin war Three Pines eingeschneit

Allmählich wurde der siebenundsiebzigjährigen Constance Pineault klar, dass es ihr nicht deshalb gut ging, weil sie in ein Bistro gehen konnte, sondern weil sie in das Bistro von Olivier und Gabri gehen konnte. Es gab nicht einfach nur einen Buchladen, es gab Myrnas Buchladen, Sarahs Bäckerei und Monsieur Béliveaus Gemischtwarenladen.

Als autonome Städterin war sie gekommen, und jetzt saß sie eingeschneit neben einer Verrückten auf einer Bank und hatte eine Ente auf dem Schoß.

Wer war hier gaga?

Aber Constance Pineault wusste, dass sie kein bisschen verrückt, sondern endlich zur Vernunft gekommen war.

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust auf einen Drink haben«, sagte Constance.

»Herrgott noch mal, Sie alte Schachtel, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Ruth stand auf und wischte den Schnee von ihrem Wollmantel.

Constance erhob sich ebenfalls und gab Rosa mit den Worten »Lieber ein Schrecken mit Ente« an Ruth zurück.

Ruth akzeptierte die Ente und den Kommentar mit einem Schnauben.

Auf der Straße trafen sie auf Olivier und Gabri, die aus dem Bistro kamen.

»Ein Schwulengestöber«, sagte Ruth.

»Früher war ich so unschuldig wie Schneewittchen«, vertraute Gabri Constance an. »Dann geriet ich unter die sieben Zwerge.«

Olivier und Constance lachten.

»Du hörst dich an wie Mae West«, sagte Ruth. »Die hatte aber eindeutig mehr Oberweite.«

»Das wird schon noch«, erwiderte Olivier und musterte seinen wohlbeleibten Lebensgefährten.

Aber im Grunde dachte sie nur mit Missbilligung an sie. Sogar mit Abscheu.

Bis vor vier Tagen. Bis der Schnee zu fallen begann und das kleine Dorf im Tal von der Welt abgeschnitten wurde. Bis sie herausgefunden hatte, dass Olivier, der Mann, dem sie so kühl begegnet war, ihr Auto freigeschaufelt hatte. Unaufgefordert. Ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Bis sie vom Fenster ihres Schlafzimmers in Myrnas Loft über dem Buchladen gesehen hatte, wie Gabri sich mit gesenktem Kopf gegen das Schneetreiben stemmte und den Dorfbewohnern, die es nicht zum Frühstück ins Bistro schafften, Kaffee und warme Croissants brachte.

Sie sah zu, wie er anschließend gleich noch Veranden und Eingangsstufen und Wege freischaufelte.

Und wieder ging. Zum nächsten Haus.

Constance spürte an ihrem Arm Oliviers kräftige Hand, die sie stützte. Was würde ein Fremder denken, der in diesem Augenblick ins Dorf käme? Dass Gabri und Olivier ihre Söhne waren?

Sie hoffte es.

Constance trat durch die Tür, und ihr stieg der inzwischen vertraute Geruch des Bistros in die Nase. Die dunklen Holzbalken und die breiten Kieferndielen waren durchdrungen von mehr als hundert Jahren Kaminrauch und Kaffeearoma.

»Hier drüben.«

Constance folgte der Stimme. Obwohl die Sprossenfenster so viel Tageslicht wie möglich hereinließen, war es dämmerig. Ihr Blick wanderte zu den beiden großen Kaminen, in denen ein munteres Feuer prasselte und vor denen bequeme Sofas

In den Sesseln hatten es sich einige Gäste bequem gemacht, tranken Café au Lait oder heiße Schokolade und lasen mehrere Tage alte französisch- und englischsprachige Zeitungen.

Die Stimme war vom anderen Ende des Raums gekommen, und auch wenn Constance die Frau noch nicht richtig sehen konnte, wusste sie doch, wer gerufen hatte.

»Ich habe Tee für euch bestellt.« Myrna stand neben dem Kamin und wartete auf sie.

»Du redest mit der da, oder?«, erwiderte Ruth, ließ sich auf den besten Sessel am Feuer plumpsen und legte die Füße auf den Hocker.

Constance umarmte Myrna und spürte ihren weichen Körper unter dem dicken Pullover. Myrna war groß, schwarz und zwanzig Jahre jünger als sie, dennoch fühlte sie sich an und roch, als wäre sie Constances Mutter. Anfangs hatte es Constance aus dem Gleichgewicht gebracht, so als hätte sie einen Stoß erhalten. Aber dann begann sie sich auf diese Umarmungen zu freuen.

Constance trank ihren Tee, sah in das flackernde Kaminfeuer und hörte mit halbem Ohr zu, als Myrna und Ruth sich über die letzte Bücherlieferung unterhielten, die sich wegen des Schnees verzögerte.

Die Wärme machte sie schläfrig.

Vier Tage. Und jetzt hatte sie zwei schwule Söhne, eine große schwarze Mutter und eine demente Dichterin als Freundin und dachte darüber nach, sich eine Ente zuzulegen.

Wie gebannt sah sie in die Flammen und verlor sich in ihren Gedanken. Sie war sich nicht sicher, ob Myrna verstand, warum sie gekommen war. Warum sie nach so vielen Jahren Kontakt mit ihr aufgenommen hatte. Dabei war wichtig, dass Myrna es verstand, aber ihr lief die Zeit davon.

»Der Schneefall lässt nach«, sagte Clara Morrow. Sie nahm ihre Mütze ab und strich sich über die zerzausten Haare, machte es damit aber nur schlimmer.

Constance schreckte hoch. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Clara zu ihnen gestoßen war.

Sie hatte sie an ihrem ersten Abend in Three Pines kennengelernt. Clara hatte Myrna und sie zum Essen eingeladen, und Constance, die sich eigentlich nach einem ruhigen Abendessen mit Myrna sehnte, hatte nicht gewusst, wie sie die Einladung höflich ablehnen sollte. Also hatten sie ihre Mäntel und Stiefel angezogen und waren hinübergestapft.

Eigentlich hätten sie nur zu dritt sein sollen, was schon schlimm genug war, aber dann war noch Ruth Zardo mit ihrer Ente aufgetaucht, und aus einem anstrengenden Abend wurde ein Fiasko. Rosa die Ente hatte die ganze Zeit etwas von sich gegeben, das wie »Fuck, fuck, fuck« klang, während Ruth den gesamten Abend damit verbracht hatte, zu trinken, zu fluchen, Beleidigungen zu verteilen und dazwischenzureden.

Natürlich hatte Constance schon von ihr gehört. Die demente und verbitterte Gewinnerin des Literaturpreises des Generalgouverneurs war so etwas wie Kanadas Nationaldichterin.

Wer verletzte dich so unheilbar, dass du die ausgestreckte Hand mit Verachtung strafst?

Das war eine gute Frage, wie Constance im Laufe des Abends klar wurde. Sie war versucht, sie der verrückten

Clara hatte mit Ziegenkäse gefüllte Omelettes gemacht. Dazu gab es gemischten Salat und Baguette. Sie hatten in der großen Küche gegessen, und nach dem Essen hatte Clara sie in ihr Atelier geführt, während Myrna Kaffee kochte und Ruth und Rosa sich ins Wohnzimmer verzogen. Das Atelier war ein einziges Chaos, überall Pinsel und Paletten und Leinwände. Und es roch nach Ölfarbe, Terpentin und reifen Bananen.

»Peter hätte mir den ganzen Tag damit in den Ohren gelegen, dass ich aufräumen soll«, sagte Clara und betrachtete das Durcheinander.

Während des Essens hatte Clara über die Trennung von ihrem Mann gesprochen. Constance hatte eine mitfühlende Miene aufgesetzt und überlegt, ob sie vielleicht aus dem Badezimmerfenster klettern könnte. In einer Schneewehe sein Leben auszuhauchen, konnte doch nicht so schlimm sein, oder?

Und jetzt sprach Clara wieder über ihren Mann. Ihren Noch-Mann. Es kam Constance vor, als würde Clara in Unterwäsche herumspazieren. Die intimsten Dinge preisgeben. Es war unangenehm und unschicklich und unnötig. Constance wollte einfach nur noch heim.

Aus dem Wohnzimmer hörte sie »Fuck, fuck, fuck«. Sie wusste nicht, und inzwischen interessierte es sie auch nicht mehr, ob es von der Ente oder von der Dichterin kam.

Clara ging an einer Staffelei vorbei. Auf der Leinwand waren die geisterhaften Umrisse von etwas zu sehen, das vielleicht mal ein Mensch werden würde. Ohne große Begeisterung folgte Constance Clara in den hinteren Teil des Ateliers. Clara schaltete eine Lampe ein, und ein kleines Bild wurde in Licht getaucht.

Auf den ersten Blick wirkte es uninteressant, jedenfalls unscheinbar.

Constances Nackenhaare stellten sich auf. Hatte Clara sie erkannt? Wusste sie, wer sie war?

»Lieber nicht«, hatte sie mit fester Stimme geantwortet.

»Ich verstehe«, hatte Clara gesagt. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich gemalt werden wollte.«

»Warum nicht?«

»Ich hätte zu viel Angst davor, was jemand sehen könnte.«

Clara hatte gelächelt, dann war sie zur Tür gegangen. Constance war ihr gefolgt, nachdem sie einen letzten Blick auf das kleine Bild geworfen hatte. Es zeigte Ruth Zardo, die mittlerweile auf Claras Sofa eingeschlafen war und schnarchte. Auf dem Bild hielt die alte Dichterin mit klauenartigen hageren Händen einen blauen Schal um ihren Hals zusammen. Unter der Haut, durchscheinend wie Zwiebelschalenpapier, zeichneten sich Adern und Sehnen ab.

Clara hatte Ruth’ Verbitterung eingefangen, ihre Einsamkeit, ihre Wut. Constance merkte, dass es ihr schwerfiel, den Blick von dem Porträt abzuwenden.

An der Tür zum Atelier drehte sie sich noch einmal um. Sie sah nicht mehr so gut wie früher, aber das war auch gar nicht nötig, um zu erkennen, was Clara tatsächlich eingefangen hatte. Es war Ruth. Aber es war noch jemand anderes. Ein Anblick, an den Constance sich aus ihrer gottesfürchtigen Kindheit erinnerte.

Es war nicht nur die verrückte alte Dichterin, sondern auch die Jungfrau Maria. Die Muttergottes. Vergessen, gekränkt. Zurückgelassen. Zornig auf eine Welt blickend, die sich nicht mehr daran erinnerte, was sie ihr geschenkt hatte.

Constance war erleichtert, dass sie Claras Bitte, sie malen zu dürfen, abgelehnt hatte. Wenn Clara so die Muttergottes sah, was würde sie dann in ihr sehen?

Später am Abend war Constance wie zufällig noch einmal

Clara hatte Verzweiflung eingefangen, aber auch Hoffnung.

Constance hatte sich mit ihrem Kaffeebecher wieder zu Ruth und Rosa, Clara und Myrna gesellt und ihnen dieses Mal richtig zugehört. Und ganz langsam hatte sie angefangen zu begreifen, wie es sein mochte, wenn man hinter die Fassade eines Menschen blicken konnte.

Das war vor vier Tagen gewesen.

Und nun hatte sie ihre Sachen gepackt und war aufbruchsbereit. Nur noch eine letzte Tasse Tee im Bistro, dann wäre sie weg.

»Fahr nicht.«

Myrna hatte es leise gesagt.

»Ich muss.«

Constance wich Myrnas Blick aus. Das war ihr zu viel Nähe. Stattdessen blickte sie aus dem vereisten Fenster auf das verschneite Dorf. Es dämmerte, und an Bäumen und Häusern leuchteten die ersten Weihnachslichter.

»Kann ich wiederkommen? Über Weihnachten?«

Darauf blieb es lange still. Und Constances Ängste kehrten zurück, krochen aus dieser Stille. Sie blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände.

Sie hatte sich entblößt. Sich zu der Vorstellung verleiten lassen, dass sie sicher war, gemocht wurde, willkommen war.

Dann spürte sie eine große Hand auf ihrer und hob den Kopf.

»Spaß?«, sagte Gabri und ließ sich auf das Sofa plumpsen.

»Constance kommt Weihnachten wieder her.«

»Toll. Dann können Sie an Heiligabend zum Weihnachtssingen kommen. Wir geben die Top Ten zum Besten. ›Stille Nacht‹, ›Feliz Navidad‹ …«

»›Jingle Boys‹«, sagte Clara.

»›I’m dreaming of a queer Christmas‹«, sagte Myrna.

»Die Klassiker eben«, sagte Gabri. »Aber dieses Jahr üben wir auch was Neues ein.«

»Hoffentlich nicht ›O Holy Night‹«, sagte Constance. »Ich bin nicht sicher, ob ich schon so weit bin.«

Gabri lachte. »Nein. ›The Huron Carol‹. Kennen Sie das?« Er summte ein paar Takte des alten Québecer Weihnachtslieds.

»Das mag ich sehr«, sagte sie. »Heute singt das ja keiner mehr.« Allerdings war es kaum überraschend, in diesem kleinen Dorf auf etwas zu stoßen, das in der Welt draußen in Vergessenheit geraten war.

Constance verabschiedete sich und ging von Myrna und À bientôt-Rufen begleitet zu ihrem Auto.

Sie ließ den Motor an, um ihn warmlaufen zu lassen. Inzwischen war es zu dunkel zum Eishockeyspielen, und die Kinder hatten die Spielfläche verlassen und schwankten auf ihre Schläger gestützt auf ihren Schlittschuhen durch den Schnee.

Jetzt oder nie, dachte Constance.

»Das haben wir auch immer gemacht«, sagte sie, und Myrna folgte ihrem Blick.

»Eishockey gespielt?«

Constance nickte. »Wir hatten unsere eigene Mannschaft. Unser Vater hat uns trainiert. Mama hat uns angefeuert. Es war der Lieblingssport von Bruder André.«

Myrna sah zu, wie ihre Freundin wegfuhr, und dachte nicht weiter über das eben Gesagte nach.

»Denken Sie gut nach«, sagte Armand Gamache. Seine Stimme klang neutral. Zumindest fast. Aber der Ausdruck in seinen dunkelbraunen Augen war unmissverständlich.

Er war hart und kalt. Und unnachgiebig.

Gamache sah den Agent über seine Lesebrille hinweg an und wartete.

Im Konferenzraum wurde es still. Das Rascheln von Papier, das kindische Geflüster verstummte. Selbst die belustigten Blicke wurden ernst.

Alle Augen richteten sich auf Chief Inspector Gamache.

Inspector Isabelle Lacoste, die neben ihm saß, ließ den Blick von ihrem Chef zu ihren Kollegen wandern. Sie waren beim wöchentlichen Briefing der Mordkommission der Sûreté du Québec. Ein Treffen, das dazu dienen sollte, Ideen und Informationen über laufende Ermittlungen auszutauschen. Früher war es von Gemeinschaftsgeist getragen gewesen, doch mittlerweile fürchtete sie sich vor dieser Stunde.

Wenn es ihr schon so ging, was mochte dann erst der Chief Inspector empfinden?

Es ließ sich nicht mehr so leicht sagen, was ihr Chef wirklich empfand und dachte.

Isabelle Lacoste kannte ihn besser als jeder andere im Raum. Sie arbeitete von allen am längsten mit ihm zusammen, stellte sie überrascht fest. Der Rest der alten Garde war

Und dafür war dieses Pack gekommen.

Die erfolgreichste Mordkommission des Landes war ausgeweidet worden und mittlerweile nur noch eine Ansammlung fauler, anmaßender, inkompetenter Nichtsnutze. Aber waren sie tatsächlich inkompetent? Als Mordermittler ganz sicher, doch waren sie überhaupt welche?

Natürlich nicht. Sie wusste ebenso gut wie Gamache, was die eigentliche Aufgabe dieser Männer und Frauen war. Jedenfalls nicht, Morde aufzuklären.

Trotzdem schaffte es Chief Inspector Gamache noch, sie zu befehligen. Sie zu kontrollieren. Das Gleichgewicht verschob sich allerdings, Lacoste spürte es. Jeden Tag kamen neue Agents hinzu. Sie sah, wie sie sich vielsagend zulächelten.

Lacoste merkte, wie die Wut in ihr hochstieg.

Wahnsinn der Massen. Der Wahnsinn war in ihre Abteilung eingedrungen. Und jeden Tag bezwang Chief Inspector Gamache ihn und übernahm aufs Neue die Zügel. Doch sie begannen, ihm zu entgleiten. Wie lange konnte er noch durchhalten, bevor er völlig die Kontrolle verlor?

Isabelle Lacoste wurde von vielen Ängsten geplagt. Die meisten davon hatten mit ihren kleinen Kindern zu tun, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Sie wusste, dass diese Ängste zum größten Teil irrational waren.

Dagegen war die Angst davor, was passieren würde, wenn der Chief Inspector die Kontrolle verlor, nicht irrational.

Sie fing den Blick eines älteren Agents auf, der mit vor der Brust verschränkten Armen auf seinem Stuhl lümmelte. Offensichtlich gelangweilt. Isabelle Lacoste sah ihn streng an. Er senkte den Blick und wurde rot.

Er schämte sich. Das sollte er auch.

Als sie ihn weiter finster ansah, setzte er sich aufrecht und löste die verschränkten Arme.

Inspector Lacoste wandte sich wieder Gamache zu. Er hatte seine großen Hände auf dem Tisch übereinandergelegt. Über dem Wochenbericht. Daneben lag ein unbenutzter Stift. Seine rechte Hand zitterte leicht, und sie hoffte, dass es außer ihr niemandem auffiel.

Er war glatt rasiert und sah aus wie das, was er war. Ein Mann Ende fünfzig. Nicht unbedingt attraktiv, aber distinguiert. Eher wie ein Professor als ein Polizist. Eher wie ein Forscher als ein Jäger. Er roch nach Sandelholz mit einem Hauch Rosenwasser und trug bei der Arbeit stets Jackett und Krawatte.

Sein grau meliertes Haar war sorgfältig frisiert und lockte sich leicht an den Schläfen und über den Ohren. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, die von Alter und Sorgen und Lachen herrührten. Wobei die Lachfalten in letzter Zeit nicht oft zum Einsatz kamen. Und dann war da noch die Narbe an seiner linken Schläfe und würde da immer sein. Eine Erinnerung an Ereignisse, die keiner von ihnen jemals vergessen würde.

Er maß ein Meter achtzig und war kräftig gebaut. Nicht besonders muskulös, aber auch nicht dick. Er war standhaft.

Standhaft, dachte Lacoste, wie das Festland. Wie eine Landspitze, die dem offenen Meer trotzte. Begann die unerbittliche Brandung jetzt tiefere Falten und Furchen zu graben? Zeigten sich erste Risse?

In diesem Augenblick zeigte Chief Inspector Gamache jedenfalls keinerlei Anzeichen von Schwäche. Er sah den impertinenten Agent an, und Lacoste verspürte unwillkürlich einen Anflug von Mitleid. Dieser neue Agent hatte das Festland mit einer Sandbank verwechselt und seinen Fehler zu spät bemerkt.

Sie konnte sehen, wie Frechheit in Beunruhigung

Bis jetzt war Lacoste nicht klar gewesen, wie leicht sich die Meute gegen ihresgleichen wandte oder zumindest ihre Unterstützung verweigerte.

Sie warf einen Blick zu Gamache, dessen Augen unverwandt auf den sich windenden Agent gerichtet waren, und sie wusste, was der Chef vorhatte. Er stellte sie auf die Probe. Stellte ihre Loyalität auf die Probe. Er hatte einen aus der Meute herausgesucht und wartete ab, ob ihm irgendjemand zu Hilfe kam.

Aber es kam keiner.

Isabelle Lacoste entspannte sich ein wenig. Chief Inspector Gamache hatte immer noch alles unter Kontrolle.

Gamache starrte den Agent weiter an. Jetzt begannen die anderen nervös zu werden. Einer erhob sich sogar mit einem trotzigen »Ich hab noch was zu erledigen«.

»Setzen Sie sich«, sagte der Chief Inspector, ohne ihn anzusehen. Und der Agent plumpste wie ein Stein zurück auf seinen Stuhl.

Gamache wartete. Und wartete.

»Désolé, patron«, sagte der Agent schließlich. »Ich habe den Verdächtigen noch nicht vernommen.«

Die Worte verpufften. Ein armseliges Geständnis. Sie alle hatten den Agent lügen hören, was die Vernehmung betraf, und jetzt waren sie gespannt, was der Chief Inspector tun würde. Wie er den Mann zerlegen würde.

»Darüber sprechen wir nach dem Meeting«, sagte Gamache.

»Ja, Sir.«

Die Reaktion am Tisch folgte unmittelbar.

Verschlagenes Grinsen. Nachdem der Chief Inspector kurz

Isabelle Lacoste stellte erschrocken fest, dass auch sie sich gewünscht hätte, dass der Chief Inspector den Agent niedermachte und demütigte. Zurechtstutzte. Als Warnung an jeden, der Chief Inspector Gamache verärgerte.

Bis hierher und nicht weiter.

Aber Isabelle Lacoste war schon lange genug bei der Sûreté, um zu wissen, wie viel einfacher es war zu schießen, als zu reden. Wie viel einfacher es war zu schreien, als ruhig zu bleiben. Wie viel einfacher es war, andere zu demütigen und herabzusetzen und die eigene Autorität zu missbrauchen, als sich anständig und höflich zu verhalten, selbst denjenigen gegenüber, die das nicht taten.

Wie viel mehr Mut Freundlichkeit erforderte als Gemeinheit.

Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die Sûreté hatte sich geändert. Inzwischen herrschte hier eine Kultur, die Gemeinheit honorierte und förderte.

Chief Inspector Gamache wusste das. Dennoch hatte er gerade ungeschützt seine Kehle präsentiert. War das Absicht, fragte sich Lacoste. Oder war er tatsächlich dermaßen geschwächt?

Sie wusste es nicht mehr.

Was sie wusste, war, dass der Chief Inspector in den vergangenen sechs Monaten zugesehen hatte, wie seine Abteilung ausgehöhlt und korrumpiert worden war. Seine Arbeit zunichtegemacht. Er hatte zugesehen, wie diejenigen, die ihm gegenüber loyal waren, gingen. Oder sich gegen ihn wandten.

Am Anfang hatte er den Kampf aufgenommen, aber er war niedergerungen wurden. Immer wieder hatte sie ihn nach einem Streit mit dem Chief Superintendent in sein Büro

»Weiter«, sagte Gamache.

Und so ging es noch eine Stunde lang. Jeder Agent stellte Gamaches Geduld auf die Probe. Doch das Festland hielt stand. Kein Anzeichen, dass es zerfiel, kein Anzeichen, dass all das überhaupt eine Wirkung auf den Chief Inspector hatte. Endlich war das Briefing vorbei, und Gamache erhob sich. Isabelle Lacoste stand ebenfalls auf, und es gab ein kurzes Zögern, bevor der erste Agent und nach und nach alle anderen aufstanden. An der Tür drehte der Chief Inspector sich um und sah den Agent an, der gelogen hatte. Nur ein kurzer Blick, aber er reichte. Der Agent folgte Gamache in sein Büro. Bevor sich die Tür hinter ihnen schloss, erhaschte Isabelle Lacoste einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Chief Inspectors.

Er wirkte erschöpft.

 

»Setzen Sie sich.« Gamache deutete auf einen Stuhl und ließ sich auf dem Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch nieder. Der Agent gab sich unerschrocken, hielt unter dem strengen Blick aber nicht lange durch.

Als der Chief Inspector sprach, klang aus seinen Worten eine selbstverständliche Autorität.

»Fühlen Sie sich hier wohl?«

Die Frage überraschte den Agent. »Ich denke schon.«

»Kommen Sie, das kriegen Sie besser hin. Es ist eine einfache Frage. Fühlen Sie sich hier wohl?«

»Ich muss ja wohl hier sein.«

»Müssen tun Sie gar nichts. Sie könnten kündigen. Sie sind ja kein Sklave. Außerdem nehme ich mal an, Sie sind nicht so dumm, wie Sie sich stellen.«

»Ich stelle mich nicht dumm.«

»Nein? Wie würden Sie es dann bezeichnen, wenn man

Es war klar, dass der Agent nicht damit gerechnet hatte, erwischt zu werden. Ganz bestimmt war er nicht auf die Idee gekommen, dass er sich allein mit dem Chief Inspector in dessen Büro wiederfinden würde und ihm Rede und Antwort stehen müsste.

Vor allem aber war er nicht auf die Idee gekommen, dass Chief Inspector Gamache ihn einfach nur nachdenklich mustern würde, statt über ihn herzufallen und ihn in Stücke zu reißen.

»Ich würde es als dumm bezeichnen«, gab der Agent zu.

Gamache ließ ihn nicht aus den Augen. »Es ist mir egal, was Sie über mich denken. Es ist mir egal, was Sie über Ihren Einsatz hier denken. Sie haben recht, es war nicht Ihre Entscheidung, hier zu sein, genauso wenig wie meine. Sie sind kein ausgebildeter Mordermittler. Aber Sie sind ein Agent der Sûreté, einer der besten Polizeien der Welt.«

Der Agent grinste höhnisch, doch gleich darauf wich das Grinsen leichter Verblüffung.

Der Chief Inspector machte keine Witze. Er glaubte das tatsächlich. Er hielt die Sûreté für einen großartigen und effizienten Polizeiapparat. Einen Wellenbrecher zwischen den Bürgern und denen, die ihnen Schaden zufügen wollten.

»Sie kommen doch aus der Abteilung für Schwerverbrechen, wenn ich nicht irre.«

Der Agent nickte.

»Dort müssen Sie furchtbare Dinge gesehen haben.«

Der Agent saß reglos da.

»Es ist schwer, da nicht zynisch zu werden«, sagte der Chief Inspector leise. »Hier haben wir es nur mit einer Sache zu tun. Das hat einen großen Vorteil. Wir werden zu

Der Agent blickte in Gamaches Augen und meinte einen kurzen Moment lang, die furchtbaren Tode zu sehen, die sich über Jahre hinweg angesammelt hatten. Die Jungen und die Alten. Die Kinder. Die Väter und die Mütter, die Töchter und Söhne. Getötet. Ermordet. Verlorene Leben. Und die Leichen wurden diesem Mann vor die Füße gelegt.

Es schien, als hätte sich der Tod zu ihnen gesellt und ließe die Luft im Büro schal und stickig werden.

»Wissen Sie, was ich nach dreißig Jahren Umgang mit dem Tod gelernt habe?«, fragte Gamache, beugte sich zu dem Agent vor und senkte die Stimme.

Unwillkürlich beugte der Agent sich ebenfalls vor.

»Ich habe gelernt, wie kostbar das Leben ist.«

Der Agent sah ihn an, wartete auf mehr, und als nichts mehr kam, ließ er sich auf seinem Stuhl wieder zurücksinken.

»Die Arbeit, die Sie tun, ist nicht unbedeutend«, sagte der Chief Inspector. »Die Menschen zählen auf Sie. Ich zähle auf Sie. Bitte nehmen Sie das ernst.«

»Ja, Sir.«

Gamache erhob sich, und der Agent tat es ihm nach. Der Chief Inspector begleitete ihn zur Tür und verabschiedete ihn mit einem Nicken.

Alle in der Mordkommission hatten gelauscht und auf den Wutausbruch gewartet. Darauf gewartet, dass der Chief Inspector den impertinenten Agent zur Schnecke machen würde. Selbst Lacoste hatte darauf gewartet und es sich gewünscht.

Aber nichts war passiert.

Als Lacoste klopfte, blickte Gamache von seiner Lektüre auf.

»Darf ich reinkommen, patron?«, fragte sie.

»Natürlich.« Er stand auf und deutete auf den Stuhl.

Lacoste schloss die Tür, wohl wissend, dass einige, falls nicht sogar alle Agents in dem großen Raum weiter lauschen würden. Es war ihr egal. Sie konnten sie mal kreuzweise.

»Die da draußen wollten sehen, wie Sie ihn fertigmachen.«

Der Chief Inspector nickte. »Ich weiß.« Er musterte sie. »Sie auch, Isabelle?«

Es hatte keinen Sinn, den Chef anzulügen. Sie stieß einen Seufzer aus.

»Ein Teil von mir hätte es auch gern gesehen. Aber aus anderen Gründen.«

»Nämlich?«

Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Agents. »Es hätte ihnen gezeigt, dass Sie sich nicht herumschubsen lassen. Gewalt ist das Einzige, was sie verstehen.«

Gamache dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte er. »Sie haben natürlich recht. Ich war auch in Versuchung, muss ich zugeben.« Er lächelte sie an. Er hatte eine Weile gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, dass ihm Isabelle Lacoste gegenübersaß und nicht Jean-Guy Beauvoir.

»Ich glaube, dass der junge Mann einmal von seiner Arbeit überzeugt war«, sagte Gamache und sah durch das Innenfenster zu, wie der Agent nach dem Telefonhörer griff. »Ich glaube, das war bei allen so. Ich glaube wirklich, dass die meisten Agents zur Sûreté kommen, weil sie helfen wollen.«

»Dienen und beschützen?«, fragte Lacoste mit einem kleinen Lächeln.

»Was hat sich geändert?«, fragte Lacoste.

»Warum fangen anständige junge Männer und Frauen an, andere zu schikanieren? Warum träumen Soldaten davon, Helden zu sein, und enden damit, dass sie Gefangene misshandeln und Zivilisten erschießen? Warum werden Politiker korrupt? Warum schlagen Polizisten Verdächtige zusammen und brechen die Gesetze, für deren Einhaltung sie eigentlich sorgen sollen?«

Der Agent, mit dem Gamache gerade noch gesprochen hatte, telefonierte. Trotz der Hänseleien seiner Kollegen tat er, was Gamache von ihm verlangt hatte.

»Weil sie es können?«, fragte Lacoste.

»Weil es die anderen auch tun«, sagte Gamache und beugte sich vor. »Korruption und Brutalität werden vorgelebt, sie werden erwartet und belohnt. Es wird zum Normalfall. Und jeder, der sich dem entgegenstellt, der sagt, dass es falsch ist, wird einfach mundtot gemacht. Oder schlimmer.« Gamache schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann diese jungen Agents nicht dafür verurteilen, dass sie vom Weg abgekommen sind. Es gibt kaum jemanden, der das nicht tut.«

Der Chief Inspector sah Lacoste an und lächelte.

»Sie wollen wissen, warum ich ihn mir nicht richtig vorgeknöpft habe, obwohl ich es gekonnt hätte? Deswegen. Und bevor Sie es als Heldentat missverstehen, es war keine. Es war eigennützig. Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich noch nicht so tief gesunken bin. Denn verlockend ist es.«

»Sich auf die Seite von Chief Superintendent Francœur zu schlagen?«, fragte Lacoste, erstaunt über das Geständnis.

»Nein, mein eigenes stinkendes Süppchen zu kochen.«

Er sah sie nachdenklich an, schien seine Worte abzuwägen.

»Ich hätte nicht zweifeln sollen.«

Und Isabelle Lacoste erkannte, wie der Fäulnisprozess in Gang gesetzt wurde. Dass es nicht über Nacht geschah, sondern nach und nach. Ein leiser Zweifel setzte sich fest. Dann folgte die Infektion. Unsicherheit. Kritik. Zynismus. Misstrauen.

Lacoste blickte zu dem Agent, mit dem Gamache gesprochen hatte. Er hatte aufgelegt und gab Notizen in seinen Computer ein, tat seine Arbeit. Aber seine Kollegen spotteten über ihn, und während Inspector Lacoste zusah, hörte er auf zu tippen und drehte sich um. Und lächelte. Er war wieder einer von ihnen.

Lacoste wandte ihre Aufmerksamkeit erneut Chief Inspector Gamache zu. Nie im Leben hätte sie es für möglich gehalten, dass sie ihm gegenüber illoyal sein könnte. Aber wenn es bei diesen ehemals anständigen Agents passieren konnte, dann konnte es vielleicht auch bei ihr passieren. Vielleicht war es bereits passiert. Wenn immer mehr von Francœurs Leuten in ihre Abteilung versetzt wurden, wenn immer mehr von ihnen Gamache infrage stellten, weil sie ihn für schwach hielten, wurde vielleicht auch sie davon infiziert.

Vielleicht begann sie schon, an ihm zu zweifeln.

Noch vor sechs Monaten hätte sie niemals infrage gestellt, in welcher Form der Chief Inspector einen Untergebenen zurechtwies. Doch jetzt hatte sie es getan. Und eine Stimme in ihr fragte sich, ob das, was sie gesehen hatte, was sie alle gesehen hatten, nicht doch Schwäche war.

»Was auch immer geschieht, Isabelle«, sagte Gamache, »Sie müssen auf sich selbst vertrauen. Verstehen Sie?«

Er sah sie eindringlich an, als versuchte er, diese Worte nicht einfach nur in ihren Kopf zu pflanzen, sondern tiefer. An einen geheimen, sicheren Ort.

Er lächelte und löste damit die Spannung. »Bon. Sind Sie nur deswegen gekommen, oder gibt es noch etwas anderes?«

Da war noch etwas, aber erst als ihr Blick auf das Post-it in ihrer Hand fiel, erinnerte sie sich wieder daran.

»Vor ein paar Minuten kam ein Anruf rein. Ich wollte Sie nicht stören. Ich bin nicht sicher, ob es privat oder dienstlich ist.«

Er setzte seine Brille auf und las die Notiz, dann runzelte er die Stirn.

»Das weiß ich auch nicht.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sein Jackett fiel auf, und Lacoste bemerkte die Glock in dem Holster an seinem Gürtel. An den Anblick hatte sie sich nach wie vor nicht gewöhnt. Der Chef verabscheute Waffen.

Matthäus 10,36.

Es war eines der ersten Dinge, die er ihr beigebracht hatte, nachdem sie zur Mordkommission gekommen war. Noch immer sah sie Chief Inspector Gamache vor sich, auf demselben Stuhl, auf dem er auch jetzt saß.

»Matthäus 10,36«, hatte er gesagt. »Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Vergessen Sie das niemals, Agent Lacoste.«

Damals hatte sie geglaubt, er meinte damit, dass man bei einer Mordermittlung mit der Familie anfangen sollte. Aber inzwischen wusste sie, dass es sehr viel mehr bedeutete. Chief Inspector Gamache trug eine Waffe. Im Hauptquartier der Sûreté. Inmitten seiner eigenen Hausgenossen.

Gamache nahm das Post-it von seinem Schreibtisch. »Lust auf einen Ausflug? Wir könnten zum Mittagessen dort sein.«

Lacoste war überrascht, ließ sich aber nicht zweimal bitten.

»Wer übernimmt in der Zwischenzeit die Verantwortung?«, fragte sie, während sie nach ihrer Jacke griff.

»Wer hat sie denn jetzt?«

»Nett von Ihnen, dass Sie das sagen, aber wir wissen beide, dass es nicht stimmt. Ich hoffe nur, wir haben keine Streichhölzer herumliegen lassen.«

Als die Tür hinter ihnen zufiel, hörte Gamache den Agent, mit dem er gesprochen hatte, zu den anderen sagen: »Es geht um das Leben …«

Er machte sich über den Chief Inspector lustig, imitierte ihn mit hoher, kindlicher Stimme. Ließ es wie die Worte eines Idioten klingen.

Lächelnd ging der Chief Inspector den langen Flur zum Aufzug hinunter.

Im Aufzug beobachtete er die Anzeige. 15, 14 …

Die andere Person im Aufzug stieg aus, ließ sie allein zurück.

… 13, 12, 11 …

Lacoste war versucht, die Frage zu stellen, die niemand mithören durfte.

Sie sah zu ihrem Chef, der auf die Anzeige blickte. Entspannt. Sie kannte ihn jedoch gut genug, um die neuen Falten, die tieferen Falten zu erkennen. Die dunkleren Ringe unter den Augen.

Ja, dachte sie, machen wir, dass wir hier rauskommen. Über die Brücke, runter von der Insel. So weit weg wie möglich von diesem verfluchten Ort.

8 … 7 … 6 …

»Sir?«

»Ja?«

Er drehte sich zu ihr, und erneut sah sie die Erschöpfung, die zum Vorschein kam, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Und sie brachte es nicht übers Herz zu fragen, was mit Jean-Guy Beauvoir geschehen war. Ihr Vorgänger als Gamaches Stellvertreter. Ihr eigener Mentor. Gamaches Protegé. Und mehr als das.

Und dann war Inspector Beauvoir vor einigen Monaten nach der Rückkehr von einem Fall in einem entlegenen Kloster plötzlich versetzt worden, in die Abteilung von Chief Superintendent Francœur.

Ein Fiasko.

Lacoste hatte Beauvoir fragen wollen, was geschehen war, aber der Inspector wollte mit niemandem aus der Mordkommission mehr etwas zu tun haben, und Chief Inspector Gamache hatte eine Direktive ausgegeben. Die Leute in der Mordkommission sollten sich von Jean-Guy Beauvoir fernhalten.

Man sollte ihm aus dem Weg gehen. Er sollte verschwinden. Unsichtbar werden.

Nicht nur eine persona non grata, sondern eine persona non exista.

Isabelle Lacoste hatte es nicht glauben können. Und das war in all der Zeit, die inzwischen vergangen war, nicht einfacher geworden.

3 … 2 …

Das war es, was sie fragen wollte.

War es wahr?

Sie fragte sich, ob es ein Trick war, um Beauvoir in Francœurs Lager einzuschleusen. Um herauszufinden, was der Chief Superintendent im Schilde führte.

Bestimmt waren Gamache und Beauvoir in diesem gefährlichen Spiel nach wie vor Verbündete.

Doch mit jedem Monat, der verging, war Beauvoir immer unberechenbarer geworden und Gamache immer entschiedener. Und der Riss zwischen ihnen war zu einem Abgrund geworden. Inzwischen schienen sie in zwei verschiedenen Welten zu leben.

»Wollen Sie fahren?«, fragte Gamache und hielt ihr die Schlüssel hin.

»Gern.«

Sie fuhr durch den Ville-Marie-Tunnel und dann auf die Champlain Bridge. Gamache blickte schweigend auf den halb zugefrorenen Sankt-Lorenz-Strom tief unter ihnen. Als sie sich dem höchsten Punkt der Brücke näherten, kam der Verkehr fast zum Stehen. Auch wenn Lacoste nicht an Höhenangst litt, wurde ihr etwas mulmig. Es war eine Sache, über die Brücke zu fahren, und eine andere, knapp neben dem niedrigen Geländer stehen bleiben zu müssen. In luftiger Höhe.

Tief unter ihr konnte sie Eisschollen sehen, die in der kalten Strömung aneinanderstießen. Unter der Brücke trieb wie Klärschlamm aussehender Schneematsch.

Neben ihr sog Chief Inspector Gamache scharf die Luft ein, dann stieß er sie wieder aus und rutschte auf seinem Sitz hin und her. Ihr fiel ein, dass er an Höhenangst litt, und sie bemerkte, dass er die Hände abwechselnd zu Fäusten ballte und wieder öffnete.

»Was Inspector Beauvoir angeht«, hörte sie sich sagen. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde sie von der Brücke springen.