Ein Freund wie kein anderer
Oliver Scherz
, geboren 1974 in Essen, ist Kinderbuchautor und ausgebildeter
Schauspieler. Er hat das Schreiben für Kinder mit der Geburt seiner Tochter für
sich entdeckt und lässt sich seitdem immer wieder aufs Neue vom eigenwilligen,
fantasievollen Blick von Kindern auf die Welt überraschen und beflügeln. Wenn
er etwas von ihrer Lebensfreude und Unverstelltheit in seinen Büchern wieder-
findet, hat er das Gefühl, dem Wesentlichen ein Stück näher gekommen zu sein.
Oliver Scherz lebt mit seiner Familie in Berlin.
www.oliverscherz-autor.de
Barbara Scholz
, 1969 in Herford geboren, machte zunächst eine Ausbildung zur
Druckvorlagenherstellerin. Anschließend studierte sie in Münster Grafik De-
sign mit dem Schwerpunkt Illustration. Seit 1999 arbeitet sie als freie Illustra-
torin. Für ihr Bilderbuch »Verflixt, hier stimmt was nicht« wurde sie mit dem
Buxtehuder Kälbchen ausgezeichnet.
Thienemann
Ein
wie kein
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nderer
reund
F
Mit Bildern von
Barbara Scholz
Oliver Scherz
Für
Juli und Michel,
Lieselotte und Frieda,
Kasimir und Benno
Inhalt
Habbis Geheimnis
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Ein Wolf auf drei Beinen
22
Yaruk
33
Eine Heldengeschichte
41
Das Tal der Wölfe
55
Zwei Freunde
67
Niemals ist ein Wolf dein Freund
81
Auf der Flucht
92
Im Niemandsland
105
Der Abschied
111
Winterschlaf
120
7
Habbis Geheimnis
Habbi drehte sich im Laufen um. Seine Mutter Hieme
stand hoch aufgerichtet am Eingang des Baus und rief
ihren Kindern warnend hinterher: »Wenn ein Falke über
euch fliegt, verschwindet unter der Erde. Hört ihr? Und
haltet die Ohren offen!
Kojoten
schleichen auf leisen
Pfo-
ten
! Vergesst das niemals!«
Dann war sie hinter hohen Sträuchern verschwunden.
Vor Habbi leuchteten Blüten, Büsche und Bäume in
der Sonne auf und in der Ferne sah er grün bewachsene
Berge.
»Komm, wir laufen bis zum Waldrand …«, sagte sein
Bruder Hebbe direkt hinter ihm. »Die Waldbeerenhecke
ist am weitesten weg vom Bau …«
»Die kennen wir doch längst!«, rief Habbi. Er wollte
neue Schätze für seine geheime Sammlung finden. Und
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die lagen meistens abseits der ausgetretenen Futter-
pfade, die die Erdhörnchen jeden Tag nahmen. »Wir er-
kunden lieber den Wald!«
»Das dürfen wir nicht!«, flüsterte Hebbe.
»Aber ich war noch nie im Wald.«
»Weil wir es eben nicht dürfen!«
»Trotzdem.« Habbi sprang hinter einer Vogelfeder
her. Der Wind ließ die Feder auf und ab tanzen. Mal
flog sie höher, mal direkt vor ihm. Und als sie endlich
am Ufer eines Baches zu Boden sank, lagen da noch wei-
tere Schätze.
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Habbi stopfte eine Besonderheit nach der anderen in
seine Backentaschen.
»Guck, wach ich gefungen hag!!«, nuschelte er und
spuckte die gesammelten Wunder vor seine Füße. »Hier,
in dem Stein ist eine Fliege, Hebbe!!« Er hielt sich ei-
nen durchscheinenden, goldgelben Stein vors Auge und
drehte sich zu seinem Bruder um. Aber Hebbe war gar
nicht mehr hinter ihm. Er hatte sich in Luft aufgelöst.
»Hebbe?!«
Habbi ließ den Stein sinken. Erst jetzt merkte er, dass
er den Erdhörnchen-Weg längst verlassen hatte und auf
einer Lichtung im Wald gelandet war.
Kojoten schleichen auf leisen Pfoten, schoss es ihm
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durch den Kopf. Aber mit seinen aufgestellten Ohren
hörte er nur Käfersummen und Vogelgesang.
Schnell stopfte er die bunte Feder, ein leeres Schne-
ckenhaus, den goldgelben Stein mit der Fliege und ein
Stück Eidechsenschwanz zurück in die Backentaschen.
Wenn er alles gut verstaute, gab es darin noch für zwei
bis drei weitere Wunder Platz. Oder für ein paar Beeren.
Vielleicht sollte ich besser zu Hebbe zurück und mit
ihm Beeren sammeln, überlegte Habbi, während er neu-
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gierig beobachtete, was der Waldbach an ihm
vorbeitrieb. Ein Blatt … einen Baumsamen …
einen schillernden Libellenflügel! Habbi rannte
sofort hinterher. Wenn er so einen in seiner Samm-
lung hätte! Er könnte ihn nachts unter seinem Heu-
lager hervorziehen und schauen, ob er auch im Dunkeln
schillerte!
Habbi überholte den Libellenflügel, wartete kurz am
Ufer und langte in den Bach. Doch so oft er das auch
wiederholte: Außer nassen Pfoten zog er nichts aus dem
welligen Wasser.
Also hastete er weiter dem Flügel nach, stolperte über
seine eigenen Beine, vergaß alles um sich herum. Er
wunderte sich nicht über das tiefe Rauschen, das er für
das Rascheln der Blätter in den Baumkronen hielt. Er
nahm kaum wahr, wie das Rauschen lauter und lauter
wurde. Bis er aus dichtem Gestrüpp hervorsprang und
der Wald auf einmal endete.
Beinahe verschluckte Habbi seine gesammelten Schät-
ze: Direkt vor ihm war die Welt wie abgebrochen. Bäu-
me lagen entwurzelt und hinabgerutscht auf einem stei-
len Geröllhang. Ganze Felsbrocken waren nach unten
gefallen und zersprungen!
Das Rauschen war zu einem dröhnenden Donnern an-
gewachsen: Der Bach trug Habbis Libellenflügel zu ei-
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nem großen, reißenden
Fluss. Weniger als hun-
dert Schritte entfernt stürzte der Flü-
gel mitsamt dem großen Fluss in die Tiefe.
Das muss das Ende der Welt sein, dachte Habbi er-
schrocken.
Jedem Erdhörnchen-Kind wurden die Geschichten
vom Ende der Welt erzählt, wo ein gefräßiges Untier da-
rauf wartete, einen mit donnerndem Gebrüll in die Tiefe
zu ziehen. »Deshalb dürft ihr niemals die Erdhörnchen-
Wege verlassen! Denkt an das Untier!«, hatte die Mutter
Habbi und seinen Geschwistern oft genug eingeschärft.
Habbi wagte trotzdem einen Blick über die Kante.
Weit unten traf das Flusswasser tosend auf einen See
und wurde zu weißem Schaum. Unzählige Tröpfchen
schwebten in der Luft darüber und leuchteten in einem
bunten Regenbogen auf.
Der Wasserfall war zwar beängstigend groß, wie
ein Untier sah er jedoch nicht aus. Dafür war er viel
zu schön. Lange schaute Habbi gebannt zwischen dem
weißen Schaum und dem Regenbogen hin und her.
Schließlich blieb sein Blick auf dem See hängen, weil
er glaubte, seinen Libellenflügel auf dem Wasser schil-
lern zu sehen.
Vorsichtig machte er ein paar Sprünge das Geröllfeld
hinab. Da löste sich plötzlich ein Stein. Bevor Habbi sich
festhalten konnte, riss der eine Stein noch weitere Stei-
ne mit sich und Habbi rutschte den Hang hinab. Er stol-
perte, überschlug sich, kugelte immer weiter.
Am Fuß des Geröllfelds prallte er mit Wucht gegen
etwas Weiches und zu seinem großen Glück nicht gegen
den schweren Felsblock, der direkt dahinter aufragte.
Er taumelte zurück und sah vor sich ein großes Tier
mit dichtem grau-schwarzen Fell.
Einen Kojoten hatte Habbi schon einmal gesehen. Das
Tier hier hatte auch eine längliche Schnauze und einen
buschigen Schwanz wie ein Kojote. Es war aller-
dings viel größer! War das vielleicht das Un-
tier?!
Langsam öffnete es jetzt seine Augen. Sie
waren glasklar und grün wie einer der
bunten Steine aus Habbis Sammlung.
Regungslos verharrte Habbi auf sei-
nen Hinterbeinen. Auch das grau-schwarze Tier beweg-
te sich nicht. Dabei hätte es nur einen kurzen Satz ma-
chen müssen, um ihn mit seinem Maul zu packen!
Vor Schreck sprang Habbi in die Höhe. Dann rannte
er das Geröllfeld hinauf. Erst rückwärts und nach einer
blitzartigen Drehung vorwärts. Fast genauso schnell,
wie er den Abhang nach unten gekugelt war, bewältig-
te er den Weg nach oben.
Er jagte in den Wald hinein, erkannte zu spät, dass er
gar nicht wusste, in welche Richtung er lief, irrte zwi-
schen Baumriesen umher, bis er endlich den kleinen
Bach wiederfand, an dessen Ufer er entlanghetzte. An
der Stelle, an der er den goldgelben Stein mit der Flie-
ge entdeckt hatte, folgte er dem Geruch seiner eigenen
Spur und stieß kurz danach auf den rettenden
Futterpfad.
Kein Erdhörnchen war dort mehr zu se-
hen. Denn als Habbi dem Dorf entge-
genrannte, ging bereits die Sonne
unter.
Seine Mutter Hieme stand hoch auf-
gerichtet vor dem Eingang des Baus,
genau so wie Stunden zuvor.
Habbi sah, wie sich ihre Sorge erst in
große Erleichterung und dann in ebenso
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großen Ärger verwandelte. Sobald sie ihn zu fassen be-
kam, zog sie ihn in den Bau.
»Du weißt genau, dass ihr nach Hause kommen sollt,
bevor die Sonne hinter dem Wald verschwindet!!«
Habbi war so froh, die Stimme seiner Mutter zu hören,
dass ihm das Schimpfen nichts ausmachte.
»Nachts lauert da draußen der Vielfraß! Und die Eu-
len sehen schärfer als wir bei Tag!« Hieme strich sich
über die fast kahle Stelle an ihrem Hinterkopf, an der
sie immer ihr Fell raufte, wenn sie sich um ihre Kinder
sorgte. Dann zog sie ihren Sohn weiter durch die Gänge
zur Schlafhöhle.
Hier roch es nach warmem Heu, Sicherheit und dem
vertrauten Duft der Geschwister. In der Mitte hockte
Habbis Schwester Humma, die mit ihrem Winterspeck
schon jetzt die halbe Schlafhöhle ausfüllte. Sie knab-
berte an ihrem Heulager, während sich drei weitere Ge-
schwister an ihrer Wampe wärmten.