Lebenskunst nach Leopardi

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Barbara Kuhn / Milan Herold

Lebenskunst nach Leopardi

Anti-pessimistische Strategien im Werk Giacomo Leopardis

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Inhalt

Fußnoten

Zeit, Gesang und Lebenskunst

Giacomo Leopardi: Zibaldone. Ed. commentata e revisione del testo critico a cura di Rolando Damiani. Tomo secondo. Milano: Mondadori 32003, 3007sq. Im folgenden wird aus dem Zibaldone unter Angabe der Sigle Zib. und der Seitenzahl des Autographs nach dieser Ausgabe zitiert. Die Übersetzung folgt, wo nicht anders angegeben, folgender Ausgabe: Giacomo Leopardi: «Zibaldone. Gedanken zur Literatur», in: id.: Ich bin ein Seher. […] Aus dem Ital. hg. von Sigrid Siemund. Leipzig: Reclam 1990, hier 477 [«Über die Lektüre eines Stücks wahrer Gegenwartsdichtung in Versen oder in Prosa […] kann man (auch in diesen prosaischen Zeiten) und vielleicht besser, das sagen, was Sterne über ein Lächeln sagte: daß sie dem so kurzen Gewebe unseres Lebens ein Fädchen hinzufügt. Sie erfrischt uns sozusagen; und erhöht unsere Lebenskraft»].

Paul Heyse: «Leopardis Weltanschauung», in: Giacomo Leopardi: Opuscula moralia oder Vom Lernen, über unsere Leiden zu lachen. Operette morali. Ausgesucht und übers. von Burkhart Kroeber auf der Basis der Erstübersetzung von Paul Heyse. Berlin: AB – Die andere Bibliothek 2017, 300.

Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1986, 141.

Ibid.

Christof Nahen: Leopardi-Variationen. Über Poetik als Kulturkritik. Aachen: Shaker 2002, 24 und 15.

Die Geschichte dieser Mißverständnisse und ihre Konsequenzen für das Bild Leopardis und seines Werks wären ein lohnenswerter und vergnüglicher Gegenstand eines eigenen Beitrags: Man denke nur an die Vielfalt der Übersetzungen des Infinito und die Frage, ob nun das Herz ‹beinahe› oder gerade ‹nicht› erschrickt, aber auch an die Verwechslungen des Pronomens «mi» mit einem Reflexivpronomen in «io nel pensier mi fingo» oder «eterno io mi credei», so daß dieses lyrische Ich nicht unendliche Räume sich in Gedanken erschafft, sondern vermeintlich sich selbst fingiert, oder daß es nicht die Illusionen, sondern sich selbst für ewig hielt.

So spricht etwa Invernizzi zwar zunächst noch vorsichtig vom «cosiddetto pessimismo storico» Leopardis, greift das Konzept aber wenig später als offenbar fraglos gesetztes wieder auf, wenn er vom «passaggio dal pessimismo storico a quello cosmologico» handelt, der die folgende Schaffensphase bestimme (Giuseppe Invernizzi: «Leopardi, Schopenhauer e il pessimismo europeo», in: Italienisch 40 [1998], 20 und 22). Gegen diese Reduktion Leopardis auf das pessimistisch-nihilistische Denken Schopenhauers, die, wenngleich heute «l’insopportabile ritornello relativo alla tonalità pessimistica dell’opera leopardiana» vielleicht weniger häufig gespielt werde, dennoch geradezu einen «luogo comune» darstelle, schreibt etwa Miranda: «Troppo spesso l’accostamento Schopenhauer-Leopardi si è rivelato funzionale all’esigenza, affatto ideologica, di omologare la complessa meditazione leopardiana […] alle tonalità pessimistico-nichilistiche del pensiero schopenhaueriano» (Ernesto Miranda: «Per un etica tragica. Il paradigma dell’antico in Schopenhauer e Leopardi», in: Rivista di letteratura italiana 23 [2005], 35).

So weist etwa Palandri darauf hin, daß die Rede vom «pessimismo leopardiano» häufig eingesetzt werde «per liquidare le difficoltà che il suo pensiero presenta» (Enrico Palandri: Verso L’infinito. Firenze / Milano: Bompiani 2019, 153), und schon Negri hatte dieselbe Vokabel gebraucht, um die reduktive Wirkung des Stereotyps zu unterstreichen: «Una volta, Leopardi e Schopenhauer, era lo stereotipo che si usava per liquidare la portata sovversiva della critica leopardiana. […] Leopardi, ovvero il grande vinto, il pessimismo cosmico, ecc. Nulla di meno vero. Questo andare di citazione in citazione, scegliendo le più disperate e tirandone conclusioni definitorie, è solo un malvezzo» (Antonio Negri: Lenta Ginestra. Saggio sull’ontologia di Giacomo Leopardi. Milano: Mimesis 2001, 107sq.; diese Passage zitiert auch Miranda zu Beginn seines Aufsatzes: cf. Miranda: «Per un etica tragica», 35).

Cf. das kurze Schlußkapitel im erst kurz nach der Tagung, auf die dieser Band zurückgeht, erschienenen Buch von Prete, das überschrieben ist mit «Oltre lo stereotipo del pessimismo» (173–184), und hier insbesondere: «Tra le formule critiche di più elevata divulgazione e più ostinate, c’era, e sopravvive ancora, quella del pessimismo. È vero che presso molti critici questa parola, riferita al pensiero leopardiano, appare all’interno di indagini preziose e può non avere una sua assolutezza definitoria. Ma, al di là di quelle pagine critiche, nell’uso scolastico la parola può impedire, proprio per la sua astrazione e genericità, di cogliere la relazione profonda che c’è in Leopardi tra la teoresi e la poesia, tra l’interrogazione filosofica e la forma poetica. Può anche impedire di considerare la variabile e a volte vivacemente contraddittoria modulazione di un pensiero in costante movimento, che non mira a una compiuta e statica formulazione» (Antonio Prete: La poesia del vivente. Leopardi con noi. Torino: Bollati Boringhieri 2019, 174sq.).

Sowohl Prete als auch Negri betonen ihrerseits die Erfahrung, daß die unmittelbare Konfrontation mit den Texten selbst anderes offenbart als die über Forschung und Kritik vermittelten Schablonen. So erzählt ersterer von seiner Erfahrung mit Leopardi im Schulunterricht: «mi accorgevo che il testo così com’era, libero dalle interpretazioni sopravvenute e dalle formule critiche, era una fonte ricchissima di suggerimenti e di provocazioni, soprattutto era una messa in questione di un orizzonte culturale prestabilito e convenzionale» (ibid., 174). Und letzterer unterstreicht im Vorwort zur Neuausgabe seiner Lenta Ginestra ebenfalls die Diskrepanz zwischen der Fülle der Interpretationen des Werks und der eigenen Lektüre, die einen ganz anderen Leopardi enthüllte, weil sie ihr eben nicht das ‹Labyrinth der Interpretationen› voranstellte, sondern die Texte selbst zum Sprechen, zu einem anderen Sprechen, brachte: «quando leggevo Leopardi, con breve ricorso al buon senso io mi trovavo subito a negare quello che loro, quasi unanimi, sostenevano e che il labirinto [delle interpretazioni leopardiane] nascondeva: cioè che Leopardi fosse solo poeta e non anche philosophe; che Giacomo fosse uno psicopatico e non invece un uomo disperatamente capace di gioia, che la sua ontologia […] fosse pessimista, in termini metafisici» (Negri: Lenta Ginestra, 7).

Cf. stellvertretend für viele Beiträge den Aufsatz von Sconocchia, der ausführlich noch einmal sowohl die vorgeschlagenen Quellen von Bibel und antiker Literatur bis zu Leopardis Gegenwart als auch die Geschichte der Forschungsliteratur resümiert, um abschließend eine weitere mögliche Quelle, «una possibile fonte umanistica non dichiarata» (714) aus dem 16. Jahrhundert vorzuschlagen: ein lateinischsprachiges Gedicht des friaulischen Dichters Federico Frangipane (Sergio Sconocchia: «Per una storia del ‹Passero solitario› di Leopardi», in: Concentus ex dissonis. Scritti in onore di Aldo Setaioli. A cura di Carlo Santini / Loriano Zurli / Luca Cardinali. Tomo secondo. Napoli: Edizioni Scientifiche Italiane 2006, 681–719). Exemplarisch findet sich ein Teil der zahllosen Beiträge zum Passero solitario im Literaturverzeichnis am Ende dieser einführenden Überlegungen zusammengestellt; bis auf wenige Ausnahmen, bei denen ich direkt einen Bezug herstelle, werde ich sie jedoch nicht einzeln in den Anmerkungen auflisten, um diese nicht über Gebühr in die Länge zu ziehen.

I.  Leopardis Vögel

Leopardis Gedichte werden unter Angabe von Gedichttitel und Verszahl stets zitiert nach der Ausgabe: Giacomo Leopardi: Poesie e Prose. Vol. I. Poesie. A cura di Mario Andrea Rigoni con un saggio di Cesare Galimberti. Milano: Mondadori 31990. Übersetzungen folgen, wo nicht anders angegeben, der weitgehend so nah wie möglich am Originaltext bleibenden Ausgabe: id.: Canti e frammenti. Gedichte und Fragmente. Italienisch / Deutsch. Übers. von Helmut Endrulat. Hg. von Helmut Endrulat / Gero Alfred Schwab. Stuttgart: Reclam 2011. Gelegentlich werden stillschweigend kleine Änderungen vorgenommen, wenn zum Verständnis der Argumentation noch größere Nähe erforderlich ist.

Vergnüglich ist die Fortsetzung dieses Bildes am Gedichteingang, die selbst den Hühnern einen Vers in diesem Gesang oder Gedicht zugesteht: «Odo […] la gallina, | Tornata in su la via, | Che ripete il suo verso» (vv. 2–4 [«Die kleine Henne | kehrt auf die Gasse zurück | und gackert erneut ihren Vers»]). Wie sowohl diese Verse als auch die folgenden Seiten zeigen, könnten die hier angestellten Überlegungen – nicht zuletzt als kleine Hommage an Antonio Tabucchi, der ebenfalls ein stimulierender Leopardi-Leser war – auch I volatili di fra Giacomo heißen, um das oft vergessene oder überlesene Gewitzt-Witzige an den Gesängen dieses «frère Jacques› oder ‹Bruder Jakob› zu betonen, drohte ein solcher Titel nicht, als entweder zu respektlos oder seinerseits zu vereindeutigend wahrgenommen zu werden. Die Vielzahl der Vögel Leopardis bleibt trotz des Verzichts auf die Hommage sprechend, und an Tabucchis Leopardi- (und Leopardi-Pessoa-)Texte sei zumindest en passant erinnert.

Modifizierte Übersetzung, hier in Anlehnung an Helmut Endrulat und Hanno Helbling.

«[…] Così tra questa | Immensità s’annega il pensier mio: | E il naufragar m’è dolce in questo mare» (vv. 13–15 [« […] Und so, in dieser | Unermeßlichkeit, ertrinkt mein Denken, | und süß ist mir, Schiffbruch zu leiden in diesem Meere»]).

Operette morali und Pensieri werden nach folgender Ausgabe zitiert: Giacomo Leopardi: Poesie e Prose. Vol. II. Prose. A cura di Rolando Damiani. Milano: Mondadori 1988. Die (hier leicht modifizierte) Übersetzung der Operette ist die vor wenigen Jahren erschienene und oben bereits genannte von Burkhart Kroeber: Leopardi: Opuscula moralia oder Vom Lernen, über unsere Leiden zu lachen. Am Rande sei an dieser Stelle Burkhart Kroeber noch einmal herzlich dafür gedankt, daß er die Tagung, auf die vorliegender Band zurückgeht, durch eine wunderbare Lesung aus diesen Opuscula moralia bereicherte und so in Leopardis Operette einmal mehr Neues zum Klingen brachte, das immer neu zum unabschließbaren Nachsinnen anregt.

Zu denken ist insbesondere an die beiden «canti» La sera del dì di festa («Posa la luna», v. 3), wo die Ruhe des Mondes wie der friedlich schlafenden «donna mia» in signifikantem Gegensatz zur inneren Unruhe des Ich steht, und A se stesso («Or poserai per sempre, | Stanco, mio cor. […] | Posa per sempre. […] | […] Non val cosa nessuna | I moti tuoi», v. 1sq. und vv. 6–8), dessen Sprecher-Ich sich als das genaue Gegenbild zu den Vögeln des Elogio imaginiert.

II.  Der Vogel und der Mensch

Einer der interessantesten Beiträge zum Passero solitario ist der kurze, bereits 1992 erschienene Aufsatz von Albert Gier, den ich daher im folgenden mehrfach aufgreife (cf. Albert Gier: «Die Gegenwart als Vor-Vergangenheit. Il passero solitario von Giacomo Loepardi», in: Giacomo Leopardi. Rezeption – Interpretation – Perspektiven. Hg. von Hans Ludwig Scheel / Manfred Lentzen. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1992, 63–71), auch wenn ich, wie sich zeigen wird, für diesen Text wie für das Werk Leopardis generell andere Schlüsse daraus ziehe bzw. der dem Verfasser und mir vorrangig erscheinenden Frage nach der Zeit als ein allgemein menschliches Problem und eben nicht nur im biographischen Sinn eine andere Wendung gebe.

Außer Gier geht auch Besomi detailliert auf diese sprachliche Gestaltung und die vielen wechselseitigen Bezüge ein (cf. Ottavio Besomi: «Il passero solitario», in: Lettura dei Canti di Giacomo Leopardi. Due giornate di studi in onore di Alessandro Martini. A cura di Christian Genetelli. Novara: Interlinea 2013, vor allem 136–148), aber wiederum mit anderen Schlußfolgerungen als den hier gezogenen.

Zu den Bezügen zwischen den beiden Dichtern cf. insbesondere den Band: Hölderlin und Leopardi. Hg. von Sabine Doering / Sebastian Neumeister. Eggingen: Isele 2011 (Ginestra 19/20), insbes. den Beitrag von Uta Degner: «‹Paradoxe Praktiker›. Zur Poetik des Offenen bei Hölderlin und Leopardi» (117–142).

Cf. Gier: «Die Gegenwart als Vor-Vergangenheit», 65–70.

Dies erwähnt auch Gier in seinem kurzen Aufsatz und stellt in einem übersichtlichen Schema die mehrfache Verkettung aller Teile dar (cf. ibid., 66sq.), ohne indes, abgesehen von einem Fall, der Wiederholung des «core»-Reims im siebten und siebtletzten Vers (cf. 69sq.), näher auf die Funktion der Reime einzugehen.

Ohne in all die Debatten über die Datierung des Passero einzustimmen, scheint doch ein möglicher Grund dafür, warum Leopardi das erst in die Ausgabe von 1835 aufgenommene Gedicht an dieser Schwelle zwischen canzoni und idilli plaziert hat, in dieser Korrespondenz zwischen Passero solitario und Infinito zu liegen: Liest oder hört man das ‹Liederbuch› in dieser Reihenfolge, erklingt nach dem «Volgerommi indietro» unmittelbar: «Sempre caro mi fu quest’ermo colle», mithin ein weiteres Sich-Zurückwenden, das über die Gegenwärtigkeit aller Zeiten im Ich und im Augenblick des Gesangs in das bereits zitierte «naufragar […] dolce» führt.

Giovanni Battista Bronzini: «L’ossimoro leopardiano del ‹Passero solitario›», in: Lares 62 (1996), 227.

Massimiliano Chiamenti: «Un antefatto del Passero solitario», in: Forum Italicum. A Journal of Italian Studies 33 (1999), 532sq.

Dina De Rentiis: «Des Spatzens Kern – zur metapoetologischen Dimension von Giacomo Leopardis Il Passero solitario», in: Animalia in fabula. Interdisziplinäre Gedanken über das Tier in der Sprache, Literatur und Kultur. Hg. von Miorita Ulrich / Dina De Rentiis. Bamberg: University of Bamberg Press 2013, 85.

Gier: «Die Gegenwart als Vor-Vergangenheit», 66, der am Ende seines Beitrags den Schluß zieht: «Der Pessimismus des Gedichts erweist sich bei näherem Hinsehen als absolut, die scheinbar idyllischen Züge unterstreichen in Wirklichkeit die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz» (ibid., 70).

Giorgio Bárberi Squarotti: «Leopardi: le allegorie della poesia», in: Italianistica. Rivista di letteratura italiana 9 (1980), 28sq. Seine Interpretation des Gedichts abschließend, gelangt der Autor gar zu der These: «Il canto muore prima della vita, quando cessa la possibilità di farne oggetto quella vita che non è piú se non mondo vuoto e noia e tristezza. E allora non resta, appunto, che il pentimento per la vita perduta, senza più l’illusione del canto» (ibid., 30).

Cf. Michel Foucault: «L’analytique de la finitude», in: id.: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966, 323–329. Mehr noch als für den Sänger dieses einen Gedichts gilt dies für die Canti insgesamt, vielleicht gar für das Gesamtwerk Leopardis, der hellsichtig und klar, durchaus skeptisch, aber weder pessimistisch noch optimistisch auf das menschliche Leben blickt, wie neben Canti und Operette an unzähligen Stellen sein Zibaldone belegt. Überall im Werk ist jene «entschlossene Unruhe» und «bejahte Ungesichertheit» (Blumenberg) zu konstatieren, wie sie einer dem Paradigma der Immanenz entsprechenden Wirklichkeitsauffassung zugehören, weil die absolut gesetzte Immanenz, in der die «durch die Transzendenz bestimmte Grenze als Einhegung des Möglichen» nicht mehr existiert, entscheidend durch «Offenheit und Unabgeschlossenheit» charakterisiert ist (cf. Paul Strohmaier: Diesseits der Sprache. Immanenz als Paradigma in der Lyrik der Moderne (Valéry, Montale, Pessoa). Frankfurt a.M.: Klostermann 2017, 24 und 21). Nicht zuletzt das «volgerommi indietro» des Passero solitario in der hier vorgeschlagenen Lesart deutet als eine «Kenntlichhaltung dieser Offenheit» auf die «Poetik der Immanenz» (ibid., 25), wie sie die Lyrik der Moderne realisiert – und kaum zufällig steht der Name Leopardis, gemeinsam mit dem Baudelaires, am Beginn einer Lyrik der Moderne.

«Resterà comunque affidata al comporre e solo a quello la felicità di Leopardi. È il canto – com’è rivelatore il titolo del suo Libro poetico! – la sua più sicura, o la sua meno provvisoria medicina» (Gilberto Lonardi: «Per leggere L’Infinito con Leopardi», in: Il corpo dell’idea. Immaginazione e linguaggio in Vico e Leopardi. A cura di Fabiana Cacciapuoti. Roma: Donzelli 2019, 169). Zur Relation des «canto» im Text und zum Text selbst als canto, auch wenn der Passero solitario hier nur ganz am Rande erwähnt wird, cf. Rainer Stillers: «Der ‹canto› in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv», in: Italienisch 40 (1998), 54 et passim, insbes.: «Der wiederkehrende Gesang hebt die Erfahrung des Verschwindens in sich auf und ermöglicht die Erfahrung einer Dauer, die dem Entzug der Ereignisse durch die Zeit entgegengesetzt ist» (ibid.). Wenngleich die Analyse sich hier auf La sera del dì di festa bezieht, sind viele Aspekte, die Stillers zu den verschiedenen «canti» und Canti herausarbeitet (ungeachtet seines Festhaltens an «Leopardis pessimistische[m] Bewußtsein» und an dessen «Fähigkeit […], den Pessimismus in aller Konsequenz zuende zu denken»), auch im Sinne der hier thematisierten anti-pessimistischen Strategien gültig, denn auch der Passero solitario zeugt von jener «Paradoxie von thematischer Negativität und Selbstbehauptung des bildschöpferischen ‹canto›» (ibid., 61), die Stillers abschließend am Tramonto della luna vorführt.

Nach den Konzepten von Prete, der etwa in seinem Aufsatz «Pensiero poetante e poesia pensante» die Untrennbarkeit der beiden Seiten in Leopardis Werk vor Augen führt (cf. Antonio Prete: Il pensiero poetante. Saggio su Leopardi. Milano: Feltrinelli 21984, 80–89). Cf. hier auch den Beitrag «Una ricordanza, una ripetizione» (ibid., 36–47), der – unter anderem – diese Frage ebenfalls aufgreift.

Von daher verblüfft die These, das «Singen des Vogels» spiele in dem Gedicht, «denkt man an seine Parallelität zum Dichten, eine eher beiläufige Rolle», zumal im zweiten Versabschnitt «überraschenderweise kein einziges Mal vom Singen (des Dichters) die Rede» sei (Hermann H. Wetzel: «Leopardis ‹Passero solitario› – eine Blauamsel, ein einsamer Sperling oder nur ein einsamer Vogel? Zur Referentialität von Poesie», in: Italienisch 40 [1998], 96). Demgegenüber bezeichnet Ricciardi «cantando» (v. 3) geradezu als «una parola chiave», die in «canti» (v. 15) wieder aufgenommen werde und sich hier «tutto funzionale all’esplicitazione del rapporto di scambio e di identità col poeta» erweise (Mario Ricciardi: «Progetto e poesia nel ‹Passero solitario›», in: Lettere italiane 40.1 [1988], 62; zum dort – in anderer Weise als in diesen einleitenden Überlegungen vorgeschlagen – hergestellten Zusammenhang von «canto», «atto poetico» und «riflessione» cf. ferner ibid., 68).

«Poiché certamente la poesia L’infinito è stata scritta per essere letta e ripetuta innumerevoli volte e noi la comprendiamo perfettamente senza recarci in quel luogo presso Recanati (ammesso che un tal luogo sia mai esistito) […]. Qui si rivela il particolare statuto dell’enunciazione nel discorso poetico, che costituisce il fondamento della sua ambiguità e della sua tramandabilità: l’istanza del discorso, cui lo shifter [sc. il questo] si riferisce, è lo stesso aver-luogo del linguaggio in generale, cioè, nel nostro caso, l’istanza di parola in cui qualsiasi locutore (o lettore) ripete (o legge) l’idillio L’infinito. [… L]’istanza del discorso è fin dall’inizio affidata alla memoria, in modo, però, che memorabile è la stessa inafferrabilità dell’istanza di discorso come tale (e non semplicemente un’istanza di discorso storicamente e spazialmente determinata), che fonda cosí la possibilità della sua infinita ripetizione. Nell’idillio leopardiano, il questo indica, già sempre oltre la siepe, al di là dell’ultimo orizzonte, verso un’infinità di eventi di linguaggio. La parola poetica avviene, cioè, in modo tale che il suo avvento sfugge già sempre verso il futuro e verso il passato e il luogo della poesia è sempre un luogo di memoria e di ripetizione» (Giorgio Agamben: Il linguaggio e la morte. Un seminario sul luogo della negatività. Torino: Einaudi 2008, 95).

Agamben: Il linguaggio e la morte, 96sq. In dieser Hinsicht unterscheidet sich, trotz der entscheidenden Gemeinsamkeiten, die die Erfahrung von Sprache in Dichtung und Philosophie besitzen – «L’esperienza poetica e quella filosofica del linguaggio non sono […] separate da un abisso, come un’antica tradizione ci ha abituato a pensare, ma riposano entrambe originalmente in una comune esperienza negativa dell’aver-luogo del linguaggio» (ibid., 93) –, die dichterische Spracherfahrung von der philosophischen, die in aller Regel über jenes metrisch-musikalische Element nicht verfügt (cf. ibid., 96).

Indem die Fügung den Blick in die Zukunft (in der Futurform des Verbs) mit jenem in die Vergangenheit (in dessen Semantik und der Präposition) im Akt des künftigen Sich-Zurückwendens zusammenfallen läßt und diesen ‹doppelten Blick› als letztes Wort des Textes zugleich als offen, als unabgeschlossen kennzeichnet, unterscheidet sich die hier erklingende Gestalt ‹künftiger Vergangenheit› essentiell von einem resignativen (oder auch ‹pessimistischen›) Futur II, das seinerseits eine Relation von Zukunft und Vergangenheit ausdrückt, aber eine in dieser Zukunft abgeschlossene Handlung impliziert. Das Ich des Passero solitario singt eben nicht ‹ich werde mich zurückgewandt haben›; sein Zurückwenden, das «volgerommi indietro» erfolgt bei jedem Hören, Sprechen, Lesen des Gedichts und verwirklicht so jenes infinito-indefinito, das lyrisches Sprechen vom philosophischen, parole von termini unterscheidet, ohne dabei auf das pensare im poetare zu verzichten.

Cf. die berühmte Passage des Zibaldone vom 30. November 1828 über die «doppia vista» (Zib. 4418). Zu dieser Stelle und generell zum Augenblick bei Leopardi cf. Milan Herold: «Leopardi: Übergang zur modernen Dichtung», in: id.: Der lyrische Augenblick als Paradigma des modernen Bewusstseins. Kant, Schlegel, Leopardi, Baudelaire, Rilke. Göttingen: V&R unipress / Bonn University Press 2017, 206 und 244 et passim, ferner Luigi Capitano: «L’Oriente delle chimere», in: Rivista Internazionale di studi leopardiani 9 (2013), 112sq.

III.  Literatur und Lebenskunst

Miranda: «Per un’etica tragica», 47. Cf. hierzu und zum oben angesprochenen Verständnis des «sconsolato» auch: «L’etica leopardiana, insomma, ci pare caratterizzata dalla tenacia di un antagonismo che si rifiuta di trarre, dalla considerazione della inevitabilità della sconfitta cui il fato destina, motivo di rassegnazione o di rinuncia. E, naturalmente, una tale etica tragica è perfettamente consonante con la concezione della funzione estetico-morale che Leopardi attribuisce alla poesia, la quale deve appunto produrre ‹un effetto grande e forte, un’impressione e una passion viva› che metta gli uditori in una ‹disposizione tutta di abborrimento e detestazione verso i malvagi› [Zib. 3454sq.]» (ibid., 49).

«Si dans mes plus vieux jours aux approches du départ, je reste, comme je l’espére, dans la même disposition où je suis, l[a] lecture [de mes rêveries] me rappellera la douceur que je goute à les écrire, et faisant renaitre ainsi pour moi le tems passé doublera pour ainsi dire mon existence. En depit des hommes je saurai gouter encore le charme de la societé et je vivrai decrepit avec moi dans un autre age, comme je vivrois avec un moins vieux ami» (Jean-Jacques Rousseau: Les Rêveries du promeneur solitaire, in: id.: Œuvres complètes. Vol. I. Les Confessions. Autres Textes autobiographiques. Éd. publiée sous la direction de Bernard Gagnebin / Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1981, 1001).

Cf. allein im folgenden Zitat das Glück oder die Lust, die durch die «frutti», das «assaporar[e]» und «gustare» sowie durch «calore» und «riscald[are]» empfunden werden. Auch die «reliquia», die hier wie andernorts dem Vergangenen oder Geglaubten eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt, eine Art ‹Realpräsenz› verleiht, wenngleich sie sich hier freilich nicht in Holzsplittern o.ä. manifestiert, sondern in klingenden Versen, ist Teil dieser ‹Sinnenlust›, die neben dem Sehen des vor die inneren Augen Gestellten das Schmecken, Hören und Tasten impliziert (und vielleicht strömt die im kostbaren Schrein der Verse ‹konservierte› «reliquia» sogar einen gewissen Duft aus, denn madeleine- und aubépine-Erfahrungen machte vor Proust durchaus auch Leopardi schon).

Auf diese Passage weist – allerdings ohne den Bezug zum Passero solitario und dessen «spesso […] volgerommi indietro» herzustellen – auch Gardini hin: cf. Nicola Gardini: «History and pastoral in the structure of Leopardi’s Canti», in: The Modern Language Review 103 (2008), 77.

Übersetzung hier frei nach Siemund («Zibaldone: Gedanken zur Literatur», 466) und Helbling (Giacomo Leopardi: Das Gedankenbuch. Aufzeichnungen eines Skeptikers. Auswahl und Übers. von Hanno Helbling. München: Winkler 1985, 567sq.), da nur die – stellenweise zusätzlich modifzierte – Mischung aus beiden jene Isotopie der Sinnlichkeit vermitteln kann, die das Original prägt.

Die Übersetzung folgt der Neuausgabe der erstmals 1928 erschienenen Edition, die durch ein – hier nicht mehr aufgenommenes – Geleitwort von Theodor Lessing eingeleitet und, wie Peters in seinem Nachwort 1951 hinzufügt, «im Jahre 1933 öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt» (87) worden war. Möglicherweise lag dies vor allem am Publikationsort, dem «pazifistischen und sozialistischen Fackelreiter-Verlag», dessen Verleger Walter Hammer später auch verfolgt und inhaftiert wurde (cf. ibid.); es unterstreicht aber zugleich das im folgenden zitierte Benjaminsche Urteil über die Pensieri als «Kunst der Weltklugheit für Rebellen» und «todesmutige[s] Experimentieren mit dem Explosivstoffe ‹Welt›» (Giacomo Leopardi: Gedanken. Pensieri. Aus dem Ital. übertr. von Richard Peters. Hamburg: Schröder 1951, 61sq. Aufgrund einiger «Kürzungen und Streichungen» seitens des Verlags firmiert der zitierte Gedanke in dieser Ausgabe unter der Nummer 75).

Walter Benjamin: [Rezension von] «Giacomo Leopardi, Gedanken. Deutsch von Richard Peters […]» [1928], in: id.: Gesammelte Schriften. […] Bd. III. Kritiken und Rezensionen. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, 117sq.

Cf. Maria Corti: «Passero solitario in Arcadia», in: Paragone. Letteratura 194 (1966), 14. Allerdings verknüpft Corti, anders als diese Seiten hier, ihre Feststellung mit der Klage, der Suche nach den Quellen des Gedichts werde demgegenüber zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt: einer Klage, in die zumindest in der Gegenwart gewiß nicht mehr eingestimmt werden kann, nachdem gewissermaßen ‹Meere› von Quellen aufgetan wurden und werden, die ihrerseits manches Mal, ebenso wie die Suche nach dem ‹richtigen› Vogel, eher zum Selbstzweck werden, als noch zur immer neuen Lektüre des immer neuen Gedichts selbst anzuregen.

Mann: Der Zauberberg, 141.

So Anfang und Ende der zu Beginn zitierten Einleitung: «Seitdem der Pessimismus als philosophische Doktrin […] täglich lauter als die einzig befriedigende Lösung aller Tages- und Menschheitsfragen gepriesen wird […], seitdem ist auch der Dichter des Pessimismus aus dem Dunkel herausgetreten. [… Doch] wie seltsam wird das Phrasengeräusch der Pessimisten von der Nichtigkeit der Welt übertönt durch dieses memento vivere ihres größten Dichters!» (Heyse: «Leopardis Weltanschauung», 269 und 300).

I.

Zitate und Textverweise im Folgenden und ohne weitere Spezifizierung nach der Ausgabe Giacomo Leopardi: Pensieri. A cura di Antonio Prete. Milano: Feltrinelli 42014. Die römischen Ziffern bezeichnen einen jeweiligen Pensiero Leopardis.

Hier wie im Folgenden werden die italienischen Zitate aus den Pensieri im unmittelbaren Anschluss an ein jeweiliges Zitat ins Deutsche übersetzt. Übersetzungen vom Vf.

Für Hobbes leitet sich der «Krieg eines jeden gegen jeden» aus den drei wesentlichen Konfliktgründen ab, die er in der menschlichen Natur angelegt sieht, nämlich: «competitio, defensio, gloria». Insoweit ist dies im Grunde mit Leopardis Vorstellung einer substantiell von Antagonismen bestimmten Gesellschaft vereinbar. Freilich kann sich, Hobbes zufolge, diese missliche Situation durchaus ändern, und zwar durch eine Macht, die die Menschen im Zaum hält – eine politische Dimension, die dem Denken Leopardis fremd ist. So heißt es in Kapitel XIII des Leviathan: «Manifestum igitur est, quamdiu nulla est potentia coerciva, tamdiu conditionem hominum eam esse quam dixi bellum esse uniuscujusque contra unumquemque.» Thomas Hobbes: Opera philosophica quae latine scripsit Omnia […]. III. Leviathan, sive de materia, forma, et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis. Ed. by William Molesworth. Second Reprint [London: Bohn 1841]. Aalen: Scientia-Verlag 1966, 99.

Cf. Francesco De Sanctis: Leopardi. A cura di Carlo Muscetta / Antonia Perna. Torino: Einaudi 1960, 289. Es ist z.B. die Rede von «un parto dell’umor nero».

So mitunter in den Operette morali, etwa in einem Sprechpart des Porfirio in dessen Dialog mit Plotino: «E saria pur duro ed iniquo che la ragione, la quale per far noi più miseri che naturalmente non siamo, suol contrariar la natura» (Giacomo Leopardi: Operette morali. A cura di Giorgio Ficara. Con un saggio di Andrea Zanzotto. Milano: Mondadori 2016, 234).

So in der Rezension der deutschen Übersetzung der Pensieri von Richard Peters (1928): Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. III. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, 118.

II.

Hierin zeigt sich im Übrigen ein subtiler Unterschied zwischen Leopardis Lebenskunst und der Auffassung des ihm oft als philosophisch affin zur Seite gestellten Schopenhauer. So merkt dieser etwa zum Konzept der Eudämonie an, «daß ihr Name selbst ein Euphemismus ist und daß unter ‹glücklich leben› nur zu verstehen ist ‹weniger unglücklich›, also erträglich zu leben». Dies bilanziert im Kleinen Schopenhauers grundsätzliche Überzeugung, jeder Mensch sei entscheidend durch seine naturgegebene Individualität bestimmt: «Jeder steckt in seinem Bewusstsein wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in demselben; dabei ist ihm von außen nicht sehr zu helfen.» Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit. Hg. von Rudolf Marx. Stuttgart: Kröner 1968, 133 und 5. Geht Schopenhauer von gesonderten menschlichen Individualitäten aus, so gilt hingegen für Leopardi die pluralische Basis von «gli uomini» (42, 48, 63, 70) oder die dem als Grundlage seiner Gesellschaftsbetrachtung letztlich identische Sammelkategorie «l’uomo» (57, 68, 90, 99). In diesem generischen Verständnis von Menschsein ist schließlich die Voraussetzung zu sehen für die prinzipiell allen Menschen offenstehende Möglichkeit, ‹leben zu lernen›.

Cf. Giacomo Leopardi: «Memorie e disegni letterari. Elenco di letture», in: id.: Tutte le opere. Vol. I. A cura di Walter Binni / Enrico Ghidetti. Firenze: Sansoni 1969, 372.

Dies mag nicht zuletzt dadurch begründet sein, dass Leopardi beim Abfassen seiner Pensieri offenbar nie vergaß, «che essi erano nati in lui da un’esperienza autobiografica» (Ugo Dotti: Il savio e il ribelle. Manzoni e Leopardi. Roma: Editori Riuniti 1986, 75).

Einen anderen, plausiblen Ansatz in der Beurteilung von Leopardis Denken und Konzeptualisierung verfolgt der Philosoph Severino, wenn er «un andamento rigoroso come quello di Aristotele» erkennt (Emanuele Severino: Il nulla e la poesia. Alla fine dell’età tecnica: Leopardi. Milano: Rizzoli 1990, 176sq.).

Cf. Luigi Blasucci: «I registri della prosa: ‹Zibaldone›, ‹Operette›, ‹Pensieri›», in: id.: Lo stormire del vento tra le piante. Testi e percorsi leopardiani. Venezia: Marsilio 2003, 101–123.

Giacomo Leopardi: Tutte le Opere. Vol. III. Le Lettere. A cura di Francesco Flora. Milano: Mondadori 51970 (11949), 1127.

Bei Montaigne resultiert dies im Kapitel «De la solitude» seiner Essais schon aus der letzten Endes apodiktischen Festlegung: «La plus grande chose du monde c’est de savoir être à soi», verbunden mit der Aufforderung, sich von der Gesellschaft zurückzuziehen. Cf. Michel de Montaigne: Œuvres complètes. Texte établi et annoté par Robert Barral en collab. avec Pierre Michel. Paris: Seuil 1967, 112. In den Pensieri handelt es sich indessen darum, das individuelle Ich als Teil der Kategorie der «uomini», der Menschen an sich, zu verstehen und folglich gesellschaftlich zu positionieren.

Die entscheidende Rolle des Herzens bei Pascal beruht freilich auf der Verbindung des Herzens zu Gott – ein Umstand, der für Leopardis Ferne zu Gott nicht gelten kann: «C’est le cœur qui sent Dieu et non la raison. Voilà ce que c’est que la foi. Dieu sensible au cœur, non à la raison.» Blaise Pascal: Pensées. Texte de l’édition Brunschvicg. Introd. et notes par Ch[arles]-Marc des Granges. Paris: Garnier Frères 1961, 147 (P. 278).

Zu La Rochefoucaulds insgesamt negativer Sicht des «amour-propre» cf. François de La Rochefoucauld: Maximes. Suivis des Réflexions diverses, du Portrait de La Rochefoucauld par lui-même et des Remarques de Christine de Suède sur les Maximes. Éd. de Jacques Truchet. Éd. revue et augmentée. Paris: Garnier 1967, 165: «Dieu a permis, pour punir l’homme du péché originel, qu’il se fît un dieu de son amour-propre pour en être tourmenté dans toutes les actions de sa vie» (Maxime 22 der «Maximes posthumes»).

Cf. Benjamin: Gesammelte Schriften. III, 118.

Indessen darf nicht verschwiegen werden, dass es im Hinblick auf die Lebensklugheit durchaus Parallelen zwischen dem Leopardi der Pensieri und Gracián gibt. Das gilt unter anderem, doch besonders für die Notwendigkeit nüchterner Selbsterkenntnis. Siehe dazu z.B. die Eintragungen «34: Conocer su realce rey», «161: Conocer los defectos dulces» und «225: Conocer su defecto rey». Cf. Baltasar Gracián: Oráculo Manual y Arte de Prudencia, in: id.: Obras completas. Edición, introducción y notas de Santos Alonso. Madrid: Cátedra 2011, 354, 391, 410.

Cf. dazu die Hinweise und Ausführungen von Vincenzo Guarracino: Guida alla lettura di Leopardi. Milano: Mondadori 1998, 136.

Cf. Leopardi: Tutte le opere. Vol. III. Le Lettere, 648.

Die Bipolarität impliziert schlüssigerweise die Kategorie des «malvagio», des «Bösen» (CIX, 161), wobei Leopardi diese Qualität nicht als reinen Selbstzweck entsprechender Individuen versteht, sondern als subjektiv vermeinte Notwendigkeit, um schwerem Schaden zu entgehen. Demnach handelt es sich um Personen, die in anderem Zusammenhang als «dolcissimi» und «innocentissimi» zu gelten haben (CIX, 161).

III.

In dieser Existenzauffassung ist unschwer jenes «sentimento antivitale» zu erkennen, das Luporini aus Leopardis «nichilismo» ableitet, der sich besonders in den letzten Jahren des Zibaldone manifestiere und auf einer spezifischen Selbstanalyse des leopardischen Ichs beruhe, das sich essentiell durch «circostanze esterne» konditioniert und der «propria nullità» ausgeliefert sehe (cf. Cesare Luporini: Decifrare Leopardi. Napoli: Macchiaroli 1998, 227). Luporinis Konzept der das Subjekt in jedem Falle determinierenden gesellschaftlichen Umstände wird nun freilich durch das Prinzip der Lebenskunst in beträchtlicher Weise relativiert.

Die Bedeutung aphoristischen Schreibens in den Pensieri ist hoch zu veranschlagen. In Bezug auf den Zibaldone – und die mit diesem verknüpften Pensieri – betrachtet Rigoni den Autor gar als «il più grande aforista dell’Italia moderna». Die Besonderheit seiner Aphorismen bestehe darin, mit dem Epigramm zu interferieren und so zugleich über eine polemische Qualität zu verfügen. Cf. Mario Andrea Rigoni: Il pensiero di Leopardi. Prefazione di Emil M. Cioran. Milano: Bompiani 1997, 198sq.

In der Tat beruft sich Guicciardini des Öfteren auf die «natura» des Menschen, doch ebenso auf die «varie nature degli uomini» oder auch auf eine sozial differenzierte «natura», etwa eines Herrschers und seiner Untertanen. Dies zeigt sich gelegentlich in seinen Ricordi, z.B. unter den Eintragungen 61 sowie 165 (cf. Francesco Guicciardini: «Ricordi», in: id.: Opere. A cura di Vittorio De Caprariis. Milano / Napoli: Ricciardi 1953, 110 und 131).

Savoca hegt Zweifel an einem deterministischen «ipotetico sistema materialistico leopardiano», einem Prinzip, das für manche Wissenschaftler in Leopardis Wahl satirischer Mittel einen verlässlichen Ausdruck finde. Er seinerseits erkennt eher «venature o anche ipotesi di pensiero ateo, materialistico e nichilistico», Aspekte, die indes auf einer «antica base positivamente religiosa […] e cristiana» aufbauten (cf. Giuseppe Savoca: Giacomo Leopardi. Roma: Marzorati / Editalia 1998, 160sq.).

IV.

Diese Einstellung des Lebenskünstlers macht ihn verwandt mit Machiavellis Herrschergestalten, die im Grunde ja Überlebenskünstler sein sollen. In beiden Fällen ist der persönliche Vorteil die oberste Maxime. Die dominierende Gestalt muss sich also hier wie dort über die anderen Menschen hinwegsetzen, sich ihnen überlegen erweisen. Bei Machiavelli kann das allerdings nicht in einem «calpestare» der Welt bestehen, denn die Menschen – «gli uomini» gemäß einer durchgängigen Formel – seien hauptsächlich von «Liebe» oder von «Furcht» umgetrieben, und zum Herrschen, zum «comandare», müsse man entscheiden, über welchen der beiden Pole Gefolgschaft und Gehorsam besser zu erreichen seien. Meist sei dies über die Option für das «temere» möglich, wobei freilich die Gefahr eines «farsi troppo temere» vermieden werden müsse. Cf. Niccolò Machiavelli: «Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio», in: id.: Il Principe e le opere politiche. Introduzione di Delio Cantimori. Milano: Garzanti 1976, 404. Leopardis Lebenskünstler des atypischen Pensiero LXXV erweist sich also – bei aller Differenz zwischen privater und politischer Dominanz – als entschieden resoluter denn Machiavellis weitblickender Autokrat.

Interessanterweise weicht Leopardi hier von seiner üblichen Semantik im Hinblick auf das Lexem «uomo» ab. Dieses meint nun nicht mehr ‹Mensch› bzw. ‹menschliches Wesen›, sondern ‹Mann›, was durch das Gegensatzverhältnis der Termini «uomo» und «donna» manifest ist. Lässt sich daraus die Möglichkeit ableiten, Leopardi verstehe auch in den anderen Kontexten der Pensieri in latenter Weise unter «uomo» stets oder primär das männliche Geschlecht? Im Konkreten weist darauf nichts hin. Überdies – so wird sich im Folgenden am Duktus der Argumentation zeigen – fügt sich das begriffliche Aufspalten von «uomo» in «uomo» und «donna» durchaus in die Sonderstellung von Pensiero LXXV.

In diesem Punkt setzt sich Leopardi wiederum deutlich vom aufklärerischen Denken ab. Für Voltaire etwa, im Artikel «Méchant» des Dictionnaire philosophique, ist die Bosheit, die Qualität des «méchant», die unbedingte Ausnahme unter den Menschen. Deshalb gilt: «Il y a donc infiniment moins de mal sur la terre qu’on ne dit et qu’on ne croit.» Der Mensch sei nicht von Geburt aus schlecht, er werde es vielmehr, wie er krank werde. Wäre die Krankheit eine der menschlichen Natur ‹inhärente›, könnte er gar nicht genesen. Der Blick auf die Welt offenbare freilich das Gegenteil. Für Voltaire könnte demzufolge Leopardis im Kern negative Sicht der Gesellschaft im strikten Sinne nur auf eines zurückzuführen sein: «le plaisir de se plaindre et d’exagérer», wie es einem «esprit mélancolique» eigne. Cf. Voltaire: Dictionnaire philosophique. Préface par Étiemble. Texte établi par Raymond Naves. Notes par Julien Benda. Paris: Garnier 1967, 302sq.

Die Sentenz stellt zugleich ein anschauliches Beispiel dafür dar, wie Leopardi in den Pensieri bestimmte Gedanken und Überlegungen aus dem Zibaldone übernimmt und diese modifiziert, komprimiert sowie mit apodiktisch formulierter Schärfe versieht. Dabei weicht eine ursprünglich eher deskriptive Betrachtung einer handlungsorientierten. So liest man auf der Seite 829 (20. März 1821) des Zibaldone: «La ingiuria eccita in tutti gli animi il desiderio di vederla punita, ma negli alti il desiderio di punirla» (Giacomo Leopardi: Zibaldone. Ed. integrale diretta da Lucio Felici. Roma: Newton & Compton 1997, 196). Offenbar führt hier die Reflexion nicht zur Supposition einer reaktiven Handlung gegenüber den Beleidigern, sondern bildet allein eine, wenn auch intensive, psychische Gestimmtheit ab. Darüber hinaus ist die punitive Disposition in diesem Falle psychologisch abgestuft: Nur die hochgemuten Geister tendieren zur eigenen Tat. Demgegenüber ist das Diktum von Pensiero LXXV kategorisch auf alle, nämlich «gli uomini», gemünzt und impliziert die Aufforderung zum konkreten Handeln.

So die prägnante Formel von Carl von Linné aus der Philosophia botanica (1751), um die nicht sprunghaften, sondern kontinuierlichen Veränderungen in der Natur zu umschreiben (cf. Carolus Linnaeus [Carl von Linné]: Philosophia botanica in qua explicantur fundamenta botanica […]. Lehre: Cramer 1966). Diese Auffassung sieht sich später plausiblerweise in Frage gestellt durch die Erkenntnis biologisch diskontinuierlicher Veränderungen – Mutationen – sowie das Phänomen des Quantensprungs in der modernen Quantenphysik.

Auch in neueren Studien sieht sich die Beharrlichkeit der Negativität von Leopardis Denken in den Pensieri weiterhin und mitunter allzu peremptorisch herausgestellt. So hebt etwa Galimberti «un amarissimo distacco» hervor, «senza più veri intenti satirici, che sottintendano una qualche speranza di mutamento» (Cesare Galimberti: Cose che non sono cose. Saggi su Leopardi. Venezia: Marsilio 2001, 210sq.).

Leopardi persuasore di vita?

Carlo Michelstaedter: Poesie. A cura di Sergio Campailla. Milano: Adelphi 1987, 79–84.

Cf. Giacomo Leopardi: «Dialogo di Plotino e di Porfirio», in: id.: Operette morali. A cura di Laura Melosi. Milano: Rizzoli 2008, 537–570 (nel testo con l’abbreviazione DPP e il numero di pagina dell’edizione menzionata).

Nel commento di Laura Melosi la Ginestra è richiamata a proposito dell’«idea di una confederazione solidale degli uomini», cui si appella Plotino nelle ultime parole del Dialogo (Leopardi: Operette morali, 570, nota).

Cf. Giacomo Leopardi: «La ginestra», vv. 111-157, in: id.: Canti. Introduzione, commenti e note di Fernando Bandini. Milano: Garzanti 1975, 303–324.

«Immaginavi tu forse che il mondo fosse fatto per causa vostra? Ora sappi che nelle fatture, negli ordini e nelle operazioni mie, trattone pochissime, sempre ebbi ed ho l’intenzione a tutt’altro, che alla felicità degli uomini o all’infelicità. Quando io vi offendo in qualunque modo e con qual si sia mezzo, io non me n’avveggo, se non rarissime volte: come, ordinariamente, se io vi diletto o vi benefico, io non lo so; e non ho fatto, come credete voi, quelle tali cose, o non fo quelle tali azioni, per dilettarvi o giovarvi. E finalmente, se anche mi avvenisse di estinguere tutta la vostra specie, io non me ne avvedrei» (Giacomo Leopardi: «Dialogo della Natura e di un Islandese», in: id.: Operette morali, 286).

Cf. Giacomo Leopardi: «Frammento sul suicidio», in: id.: Poesie e prose. A cura di Rolando Damiani / Mario Andrea Rigoni con un saggio di Cesare Galimberti. 2 vol. Milano: Mondadori 1987–1988, vol. 2, 275–277.

Cf. Giacomo Leopardi: «Disegni letterari», in: id.: Poesie e prose. Vol. 2, 1204–1220. Si vedano le pagine introduttive di Laura Melosi al Dialogo di Plotino e di Porfirio (Leopardi: Operette morali, 537–541).

Cf. Giacomo Leopardi: Zibaldone. Ed. commentata e revisione del testo critico a cura di Rolando Damiani. 3 vol. Milano: Mondadori 1997 (nel testo con l’abbreviazione Zib. e il numero di pagina del manoscritto autografo).

Sul nichilismo leopardiano si veda l’importante volume di Luigi Capitano: Leopardi. L’alba del nichilismo. Napoli / Salerno: Orthotes Editrice 2016; cf. in particolare le pagine 222–226 dedicate al Dialogo di Plotino e di Porfirio, in cui la prospettiva suicida di Porfirio esprime una forma di «nichilismo in atto».

«Non ci può essere dubbio che su un piano meramente razionale il Leopardi (come è comprovato ad abundantiam ed esemplarmente da questo stesso Dialogo il cui primo progetto risale ad anni addietro e che raccoglie materiali disseminati a piene mani e in tempi diversi nello ZibaldoneLa vocazione di Tristano. Storia interiore delle