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Umschlagfoto: pixabay

© 2019 Peter Held, Martin Weiß, Lars Charbonnier

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7504-8371-2

Vorwort

Die vorliegende Aufsatzsammlung zur Persönlichkeitsentwicklung von Männern ist das Ergebnis eines zweijährigen Entstehungsprozesses. Sie versucht die Komplexität des Lebens von Männern aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und hilfreiche Impulse für die Persönlichkeitsentwicklung zu geben. Die Autorinnen und Autoren stammen aus unterschiedlichen Wissenschafts- und Lebenskontexten und geben so ausschnitthaft aus ihrer je spezifischen Perspektive Einblicke in das Leben und Erleben von Männern. Als logische Konsequenz spiegeln die Beiträge selbst die Komplexität männlichen Lebens wider. Sie sind in Herangehensweise, Intention, formaler Textgestalt und Inhalt bewusst heterogen und zum Teil auch widersprüchlich. Dies ist von uns Herausgebern gezielt so gehalten, um die Komplexität des Mannerlebens nicht durch einen verengten Blickwinkel zu domestizieren. Folglich entspricht nicht jeder Beitrag in diesem Buch der Meinung der Herausgeber.

Wir danken an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren und den Interviewpartnerinnen und -partnern für ihre Aufgeschlossenheit gegenüber unserem Buchprojekt, für die konstruktive Zusammenarbeit sowie für die Mühe und Kreativität, die sie in ihre Textbeiträge gelegt haben. Ein ganz besonderer Dank geht an Frau Silvia Kehl, die alle Texte Korrektur gelesen hat.

Mit dem Erlös des Buches unterstützen wir das „Informationszentrum für Männerfragen e.V.“ – eine Frankfurter Beratungsstelle für Männer mit den inhaltlichen Schwerpunkten Sexualität, Gewalt und sexualisierte Gewalt. Sie bietet vor allem unterschiedliche therapeutische Maßnahmen für Täter und Opfer von Gewalt an.

Peter Held, Martin Weiß, Lars Charbonnier

Darmstadt, Bamberg, Berlin 2019

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Peter Held, Martin Weiß, Lars Charbonnier

Das vorliegende Buch ist für ein breites Publikum interessierter Leserinnen und Leser konzipiert. Es ist weder ein klassisches Ratgeberbuch, noch ist es primär für den fachwissenschaftlichen Diskurs geschrieben. Unsere Aufsatzsammlung bietet auf theoretisch gehobenem Niveau konkrete Anregungen zur Persönlichkeitsentwicklung von Männern – aus diesem beruflichen Kontext stammen alle drei Herausgeber. Drei Begriffe bilden die inhaltliche Klammer dieser Aufsatzsammlung: „Mann sein“, „komplexe Welt“ und „Persönlichkeitsentwicklung“. Durch kurze Erläuterungen zu diesen drei Begriffen soll in dieser Einleitung Intention und Schwerpunktsetzung des vorliegenden Buches erläutert werden.

1. Komplexe Welt – Beschreibung des kontextuellen Rahmens

Durch verschiedene soziokulturelle Prozesse1 ist unsere Welt komplizierter und komplexer geworden. Dabei ist der Umgang mit »Kompliziertheit« für uns weniger schwierig als die Bewältigung von »Komplexität«. So sind mechanische Uhren beispielsweise komplizierte Systeme. Oft bestehen sie aus über 1500 Einzelteilen und man spricht dann von großen Komplikationen. In einem solchen mechanischen System sind alle Einzelteile unmittelbar miteinander verbunden und haben ihre jeweiligen Funktionen. Möchte ein Laie eine solche Uhr erklären oder sogar reparieren, ist er in der Regel völlig überfordert. Aber eine geschulte und erfahrene Uhrmacherin hingegen nicht: Sie hat das nötige Fachwissen und gewinnt dadurch den Überblick über das komplizierte mechanische System. Dieses Beispiel einer mechanischen Uhr zeigt, dass Kompliziertes mit ausreichendem Wissen darüber durchaus überschaubar und beherrschbar ist. Mit dem richtigen Wissen ist das Verhalten der Mechanik auch voraussehbar. Solange die Uhr nicht defekt ist, wird durch Betätigung eines Drückers immer das gleiche Ereignis ausgelöst, wie z.B. die Stoppfunktion. Der Kybernetiker Heinz von Foerster spricht in diesem Zusammenhang von »trivialen Maschinen2«. Eine triviale Maschine ist – so von Foerster – nicht nur trivial, sondern auch unerhört simpel: Sie tut nichts anderes als irgendeinen Input in einen bestimmten Output zu verwandeln. Man kann sagen, dass Kompliziertheit ein Maß für Unwissenheit ist: Sie verschwindet durch Lernprozesse. Anders ist es bei der »Komplexität«3. Wir verstehen darunter ein geschlossenes Ganzes, dessen Teile vielfältig und unüberschaubar miteinander verknüpft sind. Es ist das Verhalten eines Systems oder Modells, dessen viele Komponenten auf verschiedene Weise miteinander interagieren können. Bei komplexen lebendigen Systemen handelt es sich nach von Foerster um »nicht-triviale Maschinen«. Bei ihnen ist bei Eingabe eines bestimmten Inputs nicht bekannt, welcher Output herauskommen wird. Komplexität steht für Unvorhersehbarkeit und für Überraschungen, mit denen man rechnen muss. Die Chaos- oder Komplexitätstheorie nennt als Beispiel den Flügelschlag eines Schmetterlings in Florida, der durch die entstehende Luftbewegung das Wetter bei uns beeinflussen kann. Da sich die unterschiedlichen Variablen, die das Wetter bestimmen, nur schwer erfassen lassen, lässt es sich nur sehr schwer vorhersagen - Wetter ist eben komplex.

Unsere Lebenswelt ist eine funktional differenzierte, hochkomplexe Gesellschaft, welche unterschiedlichen Veränderungsprozessen unterworfen ist, die in der Soziologie unterschiedlich beschrieben, charakterisiert und bezeichnet werden. In dieser komplexen Lebenswelt hilft nach Auffassung von Wissenschaftlern und Trendforscherinnen das verbreitete linear-kausales Denken wenig bei der Lösung der zentralen Gegenwartsfragen. Es bezieht sich auf triviale Maschinen und ist für lebendige, komplexe Systeme nicht geeignet. Die Lebenswelt tendierte allerdings unwillkürlich zur Komplexität, was nicht nur durch neue Technologien deutlich sichtbar wird. Diese Entwicklung hat in vielen Bereichen deutlich an Geschwindigkeit zugenommen. Auf das Phänomen der »Beschleunigung« hat besonders der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa in seiner gleichnamigen Habilitationsschrift hingewiesen4. Durch die sozialen Geschwindigkeiten geraten die Menschen unter Druck und verlieren den Bezug zu sich selbst sowie zu ihren Familien und Freundinnen. Bereits früher hat der amerikanische Soziologe Richard Senett darauf hingewiesen, dass unser Wirtschaftssystem den »flexiblen Menschen« verlange, der stets bereit sein muss, seine bisherigen Arbeitsbezüge zugunsten der Bedarfe des Unternehmens zu verlassen, was mit Beziehungsabbrüchen einhergeht und mit der Notwendigkeit, sich auf Neues und neue Menschen einzulassen. Damit werden die seelischen Bindungssysteme der Menschen enorm belastet. Im Kontext der traditionellen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern betrifft dies Männer in besonderer Weise. Durch die beschriebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nimmt so für die Einzelnen die Kompliziertheit wie Komplexität der Welt und des Lebens zu, weil sie die Welt immer wieder neu kennenlernen und die sozialen und kulturellen Zusammenhänge neu verstehen müssen. In einer komplexen Welt zu leben, bedeutet, veränderungsfähig zu werden und sich prozess- und resonanzorientiert selbst zu steuern. Diese besonderen Herausforderungen, vor der wir Individuen gestellt sind, werden in der Soziologie wie folgt beschrieben:

So spricht Jürgen Habermas von einer „neuen Unübersichtlichkeit“ der Welt, in der es der Einzelnen schwerer fällt, sich zu orientieren. Zwar können wir eine zunehmende Entgrenzung und Vernetzung der Welt beobachten, doch für die Individuen entsteht eine gegenläufige Entwicklung. Im Kontext der zunehmenden Unübersichtlichkeit der Welt, sieht sich der Einzelne immer mehr auf sich gestellt und muss die Grenzen um sein Selbst erkennen und definieren5.

Der Soziologe Ulrich Beck hat bereits Anfang der 1980er Jahre den Begriff der »Individualisierung« erstmals als Schlagwort für die Beschreibung der heutigen sozialen Lebensbedingungen eingesetzt. Der Begriff »Individualisierung« bezeichnet in der Soziologie einen Prozess eines Übergangs des Individuums von der Fremd- zur Selbstbestimmung, der mit der Industrialisierung und Modernisierung der westlichen Gesellschaften einhergeht. Nach Auffassung von Beck findet seit dem Ende der fünfziger Jahre ein zweiter Individualisierungsprozess statt. Alte gesellschaftliche Zuordnungen wie Stand und Klasse würden obsolet, die Pluralisierung von Lebensstilen nehme weiter zu und die Identitäts- und Sinnfindung werde zur individuellen Leistung. Der Staat ziehe sich – was ökonomische Leistungen angeht – zurück. Das verlangt dem Menschen sehr viel Selbstorganisation ab. Wir werden zu Gestaltern unserer Biografie, das Leben wird zum Projekt, dessen Erfolg und Misserfolg vom Einzelnen verantwortet werden muss, was häufig mit Schuldgefühlen einhergeht. Wir gewinnen sehr viele Möglichkeiten zur Entfaltung, sind aber auch oft überfordert. Durch die Industrialisierung kommt es zu einem Zerfall traditioneller Bindungen, z.B. in Familien oder Freundeskreisen. Damit ergibt sich für die Einzelne die Freiheit, aber auch die Notwendigkeit, ihre Biografie und ihre sozialen Netzwerke zunehmend selbst und eigenständig zu gestalten. Wir leben heute selbstverständlich mit den Chancen und Möglichkeiten, selbstbestimmt zu sein und zu leben. Diese Freiheit bürdet dem Individuum aber auch eine große Verantwortung auf. Konnte und musste man sich früher als Angehöriger einer Religion, eines Berufsstandes, einer Klasse oder einer Dorfgemeinschaft sehen, so haben wir heute die Wahl, wie wir uns einbinden. Gross spricht von der »Multioptionsgesellschaft«, wonach der Mensch in einer Welt der Vielfalt wählen darf, aber auch muss. Das bedeutet relativ viel Aufwand für die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung.

2. Mann sein – der inhaltliche Fokus des Buches

In unserem Buch geht es schwerpunkmäßig um das Mannsein heute. Im gegenwärtigen soziokulturellen Kontext spätmoderner Gesellschaften stehen Männern kaum noch Modelle für die Gestaltung ihrer Biografien und Rollen zur Verfügung. Förderliche Rollenvorbilder für Männer fehlen heute weitgehend. Das schafft eigentlich Raum, diese neu zu besetzen. Doch dabei stellen sich Fragen: Wie hätten wir ihn denn gerne – den Mann? Weiche Seiten sollte er haben, stark sollte er sein, einfühlsam, verständnisvoll und trotzdem dominant, fürsorglich gegenüber seiner Frau und den Kindern. Dann sollte er erfolgreich im Beruf sein... Eine schwierige Aufgabe! Die gängige Sichtweise, die unsere Gesellschaft geprägt hat, ist das Bild der dominanten Männlichkeit. Es wurzelt in der Zeit der Aufklärung. Davor war Macht nämlich eine Frage des Standes gewesen und nicht primär des Geschlechts. Doch die Wissenschaft definierte im frühen 19. Jahrhundert die Geschlechterrollen neu: Der Mann war Verstand, prägte die Kultur und dominierte den politischen Raum. Der Mann und das Männliche waren das Übergeordnete. Die Frau galt als Emotion, Natur und Familie. Die Frau und das Weibliche waren das Untergebene. Das Ideal der überlegenen Männlichkeit war somit geboren – ein Phänomen, das uns noch heute prägt. Die heutige Krise des Mannes bzw. des Mannseins ist eine Folge dieses Modells, das ja seine Funktionsuntüchtigkeit in gewisser Weise erwiesen hat. Es ist ganz klar, dass weder der erste noch der zweite Weltkrieg dieses schreckliche Ausmaß an Gewalt gehabt hätte, wenn die Hegemonialmacht des traditionellen Männlichkeitsmodells sich nicht durchgesetzt hätte. Dieses Modell hat sich dank des Feminismus deutlich verändert.

Autoren, wie der Schriftsteller Ralf Bönt6, gehen dennoch kritisch mit dem heutigen Feminismus um. Nach Auffassung von Bönt habe der Feminismus als revolutionäre Bewegung unsere Gesellschaft verändert. Er forderte die Gleichberechtigung der Frauen und habe zweifelsohne viel bewirkt. Jetzt sei er aber in der Sackgasse und viele Männer erleben sich in einer gewissen Unsicherheit in Bezug auf gesellschaftliche und familiäre Rollen. Ohne einen deutlichen Beitrag der Männer könne sein Ziel nicht erreicht werden. Es sei ist nach Auffassung von Bönt daher höchste Zeit, dass Männer über sich nachdenken und ihre eigenen Ansprüche an eine antisexistische Gesellschaft formulieren. Im Alter bedauerten Männer häufig, zu wenig Zeit mit ihren Kindern verbracht zu haben. Sie haben sich zu stark über ihre Arbeitsleistung definiert und zu wenig auf sich geachtet. Dagegen wollen junge Männer heute sorgsamer mit sich umgehen: Sie fordern ein Recht auf ein karrierefreies Leben. Mit einem untrüglichen Blick für Details und großem Respekt für die historische Leistung des Feminismus seziert Ralf Bönt die unbefriedigende Lage, in der sich Männer und Frauen momentan befinden. Kompromisslos verlangt er die Befreiung des Mannes aus seinem immer gleichen Lebensentwurf. Auch andere Autoren und Autorinnen weisen mit Titeln wie „Der Mann – das schwache Geschlecht“7 und „Männer haben keine Zukunft“8 darauf hin, dass es notwendig ist, das verbreitete »male bashing«, das unkritische Beschimpfen von allem, was männlich ist, achtsam und mit der gebotenen kritischen Vorsicht zu beobachten. So formuliert die Journalistin Carmen Sadowski, das einst starke Geschlecht komme mit seiner neuen Rolle neben starken Frauen nicht zurecht. Aufgrund der sozialgeschichtlichen Untersuchungen von Josef Christian Aigner ist es unbestritten, dass es das Phänomen der »Misandrie«, der Männerfeindlichkeit gibt. Uns geht es allerdings vor allem darum, im Gegensatz zum traditionellen Feminismus keine Opferrolle des Mannes zu konstruieren, sondern (statistisch) beobachtbare Phänomene zu benennen und Impulse für die Persönlichkeitsentwicklung zu geben. Unter der Überschrift: „Neue Männer – muss das sein?“ stand der erste deutsche Männerkongress 2010 in Düsseldorf. Nach Auffassung der dort tagenden Experten hinken Männer sowohl im Bereich Gesundheit als auch bei der Bildung und der Problemlösung den Frauen hinterher. Frauen seien stark, Männer das kranke Geschlecht, so hart fällt die Diagnose des Psychoanalytikers Matthias Franz aus, die sowohl von der World Vision Kinderstudie und dem Statistischen Bundesamt bestätigt wird:9

Hier treten Probleme für die Persönlichkeitsentwicklung von Männern offen zutage. Im Diskurs der kritischen Männerforschung wird immer wieder darauf hingewiesen, dass diese problematische Entwicklung vor allem damit zu tun hat, dass Jungen heute überwiegend unter Frauen aufwüchsen. So fehlte es an männlichen Vorbildern und an „emotional präsenten“ Vätern. Eine mögliche Lösung sieht der Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann in der Einstellung von mehr männlichen Erziehern und Lehrkräften. Andere Männerforscher forderten: Jungen müssten in der Schule ihre Körperlichkeit und ihre Aggression einbringen können. Außerdem müsse man Männer ermuntern, sich weibliche Fähigkeiten anzueignen: Sprache, Einfühlungsvermögen, offenen Umgang mit Gefühlen. Wir möchten hier ergänzen, dass die Konzeptionen von Carl Gustav Jung, der von den männlichen und weiblichen Qualitäten, »Animus« und »Anima«, spricht, eine gewisse Ausgewogenheit in der Selbststeuerung der Persönlichkeit unterstützen kann.

3. Persönlichkeitsentwicklung – Intention der Herausgeber

Als Herausgeber dieses Buches ist es uns wichtig, wahrzunehmen, dass sich durch soziokulturelle Entwicklungen die Komplexitäten der „Welt“ und der „Einzelpersönlichkeiten“ drastisch erhöht haben. Der wissenschaftlich nicht einheitlich definierte Begriff der Persönlichkeitsentwicklung wird im folgenden Zusammenhang in Anlehnung an C. G. Jungs Begriff der „Individuation“ als umfassender Prozess der persönlichen Reifung, Ich-Werdung und Selbstfindung verstanden. Es geht dabei um den Weg der Selbstgestaltung in Interaktion mit anderen sowie durch Reflexion über sich und die eigene Biografie. Ziel ist dabei auch die bewusste Aneignung oder Abgrenzung von familiär erworbenen Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern sowie die Entwicklung von persönlichen, sozialen und kommunikativen Kompetenzen, die für ein rollenadäquates Handeln in unterschiedlichen Kontexten notwendig sind.

Blaupause des Bandes ist der Begriff der »Persönlichkeit«. Er beschreibt das komplexeste System, das wir kennen. Sowohl »Welt«, »Mann« als auch »Persönlichkeit(-sentwicklung)« wären solche komplexen Systeme, die man jedoch nicht verdinglichen darf. Wir Herausgeber haben Respekt vor diesen „Phänomenen“. Deshalb möchten wir deren Komplexität so weit wie möglich reduzieren, aber auch so komplex wie nötig belassen. Wie z.B. Julius Kuhl10 gezeigt hat, lassen sich komplexe Systeme mit linkshemisphärischen psychischen Systemen (»Objekterkennungssystem« und „Denken“) sowie durch klassische wissenschaftliche Vorgehensweisen nicht mehr gut steuern. Das Gehirn „schaltet“ ab einem gewissen Grad von Komplexität auf die rechtshemisphärischen Systeme (»intuitive Verhaltenssteuerung« und »Extensionsgedächtnis«). In den Aufsätzen unseres Buches sollen deshalb Modelle (innere Landkarten) für die Phänomene »Mann«, »Welt« sowie »Persönlichkeit« entwickelt werden, die weit und beweglich genug sind, dass sich der heutige Mann darin wiederfinden kann. Sie müssen aber auch so komplexitätsreduziert sein, dass sie keine Beliebigkeit erzeugen und dem Leser genügend Klarheit für seine Orientierung geben.

Konzeptionell geht das Buch von einem romantischen Wissenschaftsbegriff aus. Alexander R. Lurija11 – der Hauptvertreter dieses Ansatzes – will die (linkshemisphärische) wissenschaftliche Tendenz, nur das Generalisierbare gelten zu lassen, hinter sich lassen. Ihn interessieren der „Reichtum der konkreten Lebensprozesse“. Dieser Denkansatz passt zum Vorgehen von C.G. Jung, der eine intuitive Wissenschaft betrieben hat, ohne sie selbst so zu benennen. Intuitive Wissenschaft meint hier folgendes: C.G. Jung sind die vier „Orientierungsfunktionen“ (Intuition, Empfindung, Fühlen und Denken) einfach so, eben „intuitiv“, zugefallen. Dann hat er sie deduktiv „heruntergebrochen“ und durch eigenes empirisches Material angereichert. Dabei hat CG. Jung sein Gesamtwerk nicht konsistent konzeptualisiert, sondern Widersprüche stehen gelassen. So hat er auch Begriffe in verschiedenen Aufsätzen unterschiedlich definiert. Diese begriffliche Unklarheit wollen wir in unserem Buch vermeiden. Allerdings halten wir eine gewisse Spannung zwischen den Aufsätzen für wünschenswert im Sinne einer »Ambiguitätstoleranz«.

Das Buch bietet zum einen (linkshemisphärische) aktuelle und diskursrelevante Informationen über die behandelten Fragestellungen und Themen rund um die Herausforderung, als Mann in einer komplexen Welt Persönlichkeitsentwicklung betreiben zu wollen. Darin erschöpft sich aber unsere Intention als Herausgeber nicht. Wir glauben vielmehr, dass unser Buch selbst einen wichtigen Beitrag zur Identitätsbildung der (lesenden) Männer (und vielleicht auch Frauen) leisten kann. Wir beziehen uns hierbei auf systemische Ideen wie „inneres Team“ (F. Schulz von Thun) und „inneres Parlament“ (G. Schmidt), auf die Idee der „Patchwork-Identität“ des Münchner Sozialpsychologen Heiner Keupp und auf Identitätskonzepte der Theologie, die die Unabgeschlossenheit und Fragmentarität der menschlichen Identität ins Zentrum stellen, etwa Dietrich Bonhoeffer und Henning Luther12.

Sieht man ein Buch – aus konzeptionellen Gründen hier einmal – als „Persönlichkeit“ an, dann wollen wir bei der Zusammenstellung der Beiträge (= Teilpersönlichkeiten) den Leser dabei unterstützen, dass er sich die Teile (= Aufsätze), die er lesen möchte, im Rahmen seiner Selbststeuerung so auswählt, dass sie zu seinem momentanen Entwicklungsbedarf (Persönlichkeit, Identität) passen, was unserer Meinung nach auch den gegenwärtigen Lesegewohnheiten entspricht.

Das Buch wird in vier Hauptabschnitte gegliedert sein, die die drei Phänomene „Mann“, „komplexe Welt“ und „Persönlichkeitsentwicklung“ mit vier unterschiedlichen Fokussierungen in den Blick nehmen werden. Diese Fokussierungen können dem Leser auch als Raster für die eigene Persönlichkeitsentwicklung dienen. Dabei werden die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen zu unterschiedlich gelagerten Beiträgen führen: solchen, die stärker von Begriffen und Theorien herkommen, wie Identität oder Individuation, und solchen, die stärker von Phänomenen her ihre Themen entfalten, wie Erfahrungen der Flüchtlingshilfe oder ein Kinofilm.

Zum Schluss noch ein Bild: Wir gehen von inneren (An-)Teilen aus, die bei dem einen Mann stärker kategorisiert werden, bei dem anderen weniger. In unserem Modell heißt z.B. Heterosexualität nicht, dass im Innenleben „alles“ auf die Beziehung mit Frauen ausgerichtet sein muss. Es gibt Männer, deren innerer Beobachter eine Mehrheitsentscheidung herbeigeführt oder gesehen hat. Dennoch gibt es homosexuelle Anteile, die Mitglieder der inneren Seelenfamilie sind.

Die Sorge um Beliebigkeit hören Systemikerinnen sehr häufig. Wir sind keine Vertreter des „anything goes“ (P. Feyerabend). Nach unserer Auffassung wird Beliebigkeit dadurch vermieden, dass eine gefühlsmäßig bewertende Persönlichkeit (B. Schmid), eine Zahl von für sie stimmigen »stories« auswählt und andere loslässt. Wir sind mit Vertretern der Postmoderne wie J.-F. Lyotard der Meinung, dass die Zeit der „großen Erzählungen“ vorbei ist und dass es keine Welterklärungsformel geben kann.

In unserem Buch spiegeln sich deshalb die Persönlichkeiten der Herausgeber in der Begegnung mit den Autoren und Autorinnen.

Literatur


1 Beispielhaft sind hier zu nennen: Individualisierung, Globalisierung, Ökonomisierung und Flexibilisierung.

2 Von lateinisch »trivialis« = „gewöhnlich“. Damit wird ein Umstand bezeichnet, der als naheliegend, für jedermann leicht ersichtlich oder erfassbar angesehen wird.

3 Lateinisch: »complecti«: umschlingen, zusammenfassen, umfassen.

4 Hartmut Rosa (2005).

5 Stefan W. Schimmel (2009), 70.

6 Ralf Bönt (2012).

7 Carmen Sadowski (2010).

8 Walter Hollstein (2017).

9 Carmen Sadowski (2010).

10 Julius Kuhl (2001).

11 Alexander Lurija (1993).

12 Luther betont, dass Bildungsprozesse (hier also auch: Identitätsbildungsprozesse) stets unabschließbar seien. Luthers Ideen zur Persönlichkeit als Fragment könnten in unser Buch integriert werden.

Erster Fokus:
Mann-Sein in einer komplexen Welt

Identität und Männlichkeit:
(Nicht nur) Psychoanalytische Konstruktionen und Perspektiven

Lars Charbonnier

„Wann ist ein Mann ein Mann?“, fragt Herbert Grönemeyer in seinem Hit „Männer“.13 Vor mehr als 30 Jahren hinterfragt er klassische Eigenschaften von Männern, indem er sie aufzählt und kontrastiert. Natürlich klingt sein Lied wie eine Identitätsbeschreibung von Männern im Allgemeinen, weniger über einen Mann und seine individuelle männliche Identität. Genau in diesem mindestens bipolaren Verstehensraum aber bewegt sich die Rede von Identität und Männlichkeit, wenn sie heute auf die Entwicklungsperspektive hin betrachtet werden soll: Welche allgemeinen Kennzeichen einer Identität, also welche sozial geteilten, kulturell charakteristischen („gender“), vielleicht biologisch mitgegebenen Aspekte („sex“) treten wie in Wechselwirkungen mit dem individuellen Erleben und Ausprägen von männlicher Identität? Kann denn heute diese Kategorie in ihrem Spannungsfeld von „sex“ und „gender“ überhaupt überindividuell sinnvoll konzeptioniert werden? Als Einführung ins Thema dieses Buches will dieser Beitrag Zugänge eröffnen zum Nachdenken über Identitätsentwicklung und Männlichkeit, indem insbesondere wirkmächtige klassische sowie einige (nach wie vor) aktuell diskutierte identitätstheoretische Ansätze der psychoanalytischen Tradition vorgestellt und auch zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Er ist insofern weniger zukunftsweisend instruktiv als vielmehr eine darin aber hoffentlich anregende Erinnerung an prägende Schritte des allgemeinen Diskurses über männliche bzw. geschlechtliche Identität und ihre je subjektiv-individuelle Entwicklung. Viele dieser Ansätze und noch viele weitere mehr kommen an anderen Stellen in diesem Band ausführlicher zum Klingen und ich hoffe, dass der Gesamtklang der Beiträge dann eine anregende Melodie für jeden Leser ermöglicht!

1. Identität heute verstehen und gestalten – Einleitende Bemerkungen

Der Begriff der Identität leitet sich sprachgeschichtlich aus dem Lateinischen (idem) ab und meint so viel wie Gleichheit oder Selbigkeit. Er bezeichnet somit sowohl die Gleichheit verglichener Elemente wie auch in seiner Gesamtheit die Einzigartigkeit eines Objektes bzw. und insbesondere einer Person. Mit Blick auf den Menschen liefert der Identitätsbegriff das in Sprache ausgedrückte Symbol einer wohl grundmenschlichen Eigenschaft: der Frage nach dem je eigenen einzigartigen Sein. „Identität läßt sich als die Antwort auf die Frage verstehen, wer man selbst oder wer jemand anderer sei.“14 So definiert es Heiner Keupp im Lexikon der Psychologie. In Bezug auf die eigene Person kann diese Frage in unterschiedlichen Phasen des Lebens auftauchen, ausgelöst durch Schicksalsschläge und einschneidende Lebenserfahrungen oder auch durch die Auseinandersetzung mit den prägenden Kontexten des eigenen Lebens. In unser individualisierten und pluralen und damit komplexen Gesellschaft stellt die Gleichzeitigkeit der Ansprüche ganz unterschiedlicher Rollen und Bezüge eine besondere Herausforderung dar. In seiner intensiven Auseinandersetzung mit Identität und Religion in der heutigen Gesellschaft schreibt der Theologe Christopher Zarnow: „Identität wird in der modernen Gesellschaft angesichts der ihr eigenen Differenzierungs- und Pluralisierungsdynamik damit tendenziell zu einem Dauerthema.“15

Thematisierung allein aber genügt nicht. Vielmehr wird die Auseinandersetzung mit und die Konstruktion der eigenen Identität in der Vielfalt der Lebensbezüge als eine aktive Aufgabe verstanden, wofür der Begriff der „Identitätsarbeit“ steht und woraus entsprechend vielfältige Perspektiven auf diese folgen. Noch einmal Zarnow: „Die Vielfalt der individuellen Bearbeitungsstrategien spiegelt sich auf der Ebene des wissenschaftlichen Identitätsdiskurses in der Suche nach sprechenden Leitmetaphern: Von der ,Bastelexistenz‘ über die ,Patchwork-Identität‘ bis hin zu ,nomadischen‘ Selbstkonzepten reicht die Palette der gebotenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Interpretationsmodelle.“16

Ein wesentliches Charakteristikum der Identitätsarbeit tritt im vergleichenden Blick der Perspektiven hervor: Die Arbeit am Selbstverhältnis ist nicht ohne Prozesse der Selbst- und Fremdverständigung leistbar. Identität ist somit in der Konstruktion wie Reflexion ein Akt sozialer Konstruktion und damit immer ein mehrdimensionales Geschehen, was die kulturwissenschaftlichen Diskurse in ihrer Betonung der Unterschiedlichkeit von sex und gender völlig zu Recht herausgearbeitet haben. In diesem mehrdimensionalen Prozess wird auf individuelle Weise eine soziale Verortung versucht. Es geht um das Herstellen eines Passungsverhältnisses von subjektiver Innensicht und einer gesellschaftlich-sozialen Außenperspektive: „Identität bildet ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und der äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar: Sie soll einerseits das unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial Akzeptable darstellbar machen. Insofern stellt sie immer eine Kompromißbildung zwischen ,Eigensinn‘ und Anpassung dar.“17

Wenn nun in diesem Aufsatz auf psychologische Perspektiven eingegangen werden soll, sind auch diese nicht unabhängig aus sich heraus entwickelt worden. Beantwortet „Identität im psychologischen Sinne [...] die Frage nach den Bedingungen, die eine lebensgeschichtliche und situationsübergreifende Gleichheit in der Wahrnehmung der eigenen Person möglich machen (innere Einheitlichkeit trotz äußerer Wandlungen)“18, nimmt sie damit selbstverständlich die Frage auf, die etwa Platon bereits reflektiert hat: Sokrates legt er in seinem Dialog über das Gastmahl folgende Aussage in den Mund: „auch jedes einzelne lebende Wesen wird, solange es lebt, als dasselbe angesehen und bezeichnet: z.B. ein Mensch gilt von Kindesbeinen an bis in sein Alter als der gleiche. Aber obgleich er denselben Namen führt, bleibt er doch niemals in sich selbst gleich, sondern einerseits erneuert er sich immer, andererseits verliert er anderes: an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und seinem ganzen körperlichen Organismus. Und das gilt nicht nur vom Leibe, sondern ebenso von der Seele: Charakterzüge, Gewohnheiten, Meinungen, Begierden, Freuden und Leiden, Befürchtungen: alles das bleibt sich in jedem einzelnen niemals gleich, sondern das eine entsteht, das andere vergeht“19.

Wenn nun auf den Aspekt der Geschlechtsidentität im Besonderen fokussiert wird, muss zunächst festgehalten werden, dass es auch für den Begriff der Geschlechtsidentität keine verbindliche und allgemein oder auch nur in den Bezugswissenschaften anerkannte Definition gibt. Im Sinne gerade postmoderner kulturwissenschaftlicher Theorien ist genau das auch der angemessene Umgang mit diesem Thema und gar kein zu verfolgendes Ziel.

2. Psychologische Perspektiven auf Identität

Identität wird psychologisch als konzeptioneller Rahmen verstanden für die Interpretation der eigenen Erfahrungen einer Person und damit als Basis alltäglicher Identitätsarbeit. Diese verfolgt das Ziel, ein individuell gewünschtes oder notwendiges „Gefühl von Identität“ zu erzeugen. Das Streben nach sozialer Anerkennung und Zugehörigkeit ist für das „evolutionäre Mängelwesen“20 Mensch die Voraussetzung für diese Prozesse. Insbesondere in der Pluralität und Individualisierung spätmoderner Kontextbedingungen hat diese alltägliche Identitätsarbeit die Aufgabe, die Verknüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen. Das Spektrum reicht hier von stark biologisch verorteten Identitätsaspekten wie etwa dem körperlichen Geschlecht (sex) bis hin zu rein in Lebensstilfragen sich konstituierenden Aspekten, etwa dem Musikgeschmack oder dem Kleidungsstil. Dazwischen liegt ein kaum abbildbarer Raum an weniger scharfen Konstitutionsprozessen. Diese Verknüpfungsprozesse sind selbst abhängig von den machtbestimmten Räumen und Beziehungen, in denen sie stattfinden. Mit Blick auf die männliche Identität könnte diese individuelle Verknüpfungsarbeit unterschiedlicher Identitätsaspekte beispielhaft folgende Aspekte beinhalten, die das gedachte Ich für sich in ein kohärentes Identitätskonzept zu integrieren versucht: „Ich fühle mich männlich, weil ich einen Männerkörper habe, spiele den ,Männersport‘ Fußball und sehe zugleich gern ,weiblich‘ konnotierte Liebes-Filme. Durch die kritischen Anfragen von Feministinnen an meine Vater-Rolle bin ich irritiert. Ich arbeite als Pflegekraft in einem sog. Frauenberuf.“ Die Ressourcen, die einer Person für diese Herausforderungen zur Verfügung stehen, sind ein weiterer, wesentlicher Faktor dieser Identitätsarbeit, „die von individuell-biographisch begründeten Kompetenzen über die kommunikativ vermittelten Netzwerkressourcen (Soziale Netzwerke) bis hin zu gesellschaftlich-institutionell vermittelten Ideologien und Strukturvorgaben reichen“21.

Leitend für die Konstruktion der individuellen Identität sind also unterschiedlich ausgeprägte Bedürfnisse, die sich sowohl aus der persönlichen wie der gesellschaftlichen Lebenssituation ergeben – und damit wiederum wandelbar sind. Die subjektiven Konstruktionen von Identität sind deshalb nicht beliebiger und jederzeit revidierbar, sondern stets aktualisierte Versuche, sich in einem “Gefühl von Identität“ in ein “imaginäres Verhältnis zu ihren wirklichen Lebensbedingungen“ zu setzen (Althusser).22 Diese Konstruktionen kommen in der Regel nicht ohne Typisierungen, gängige Muster und Idealisierungen und Normierungen aus. Der Psychologe Keupp stellt fest: „Der Identitätsbegriff vermittelt in spezifischer Verwendungsweise – zumindest unausgesprochen – den normativen Sollzustand ,gelungenen Lebens‘. Gerade diese Konnotation hat ihn zugleich zum Gegenstand heftiger Kritik gemacht.“23

Dem Konzept wurde etwa durch das Vorgaukeln einer scheinbaren Möglichkeit gelingenden Lebens in einer Subjektivität verneinenden, gar zerstörenden Gesellschaft die ideologische Versöhnung zwischen Subjekt und Gesellschaft vorgeworfen (Theodor Adorno, Michel Foucault). In der feministischen Kritik wird Identität als patriarchal bestimmte Zwangsfiguration für weibliche Subjektivität kritisiert (Feministische Psychologie, am Anfang stand sicher auch Simone de Beauvoir, bis heute diskursprägend etwa Judy Butler). Die Beachtung dieser Identitätszwänge und ihrer Konsequenzen für die Subjekte ist deshalb zwingend erforderlich. Zugleich können aber auch die Möglichkeiten von darin zu gewinnender Handlungsfähigkeit aufgezeigt werden.

Wenn im Folgenden einige Erklärungsansätze zur Identitätsbildung vorgestellt werden, sind sie als Anregung an den Lesenden zu verstehen. Sie werfen aus den je eigenen theoretischen Zugängen Fragen auf, die in der Erforschung und Erfassung der eigenen Identität als Persönlichkeit und auch als Mann heute noch hilfreich und erhellend sein können. Sie werden dabei dargestellt als das, was sie sind - zeit- und kontextabhängige Konstruktionen.

2.1 Der psychoanalytische Klassiker: Sigmund Freud

Sigmund Freud beschreibt die psychosexuelle Entwicklung des Menschen und darin die Frage nach der Entstehung und Ausprägung von Identität als ein Phasenmodell mit bereits unbewusst in der frühen Kindheit erfolgenden wesentlichen Weichenstellungen. Der Sexualtrieb als grundlegende Kraft der seelischen Entwicklung eines Menschen wirkt für ihn prägend bereits ab dem frühen Säuglingsalter. Dieser Trieb wird alters- und entwicklungsstandspezifisch durch den je wirksamsten Erfahrungssinn ausgelebt und – im Falle normaler Entwicklung– befriedigt. So folgt auf die erste, im 1. Lebensjahr angesiedelte und für die Herausbildung des Urvertrauens wesentliche, „orale Phase“ und die daran anschließende „narzisstische Phase“ im 2. und 3. Lebensjahr die „anale Phase“, in der die Disposition zu Besitz und Loslassen und damit Grunderfahrungen im Umgang mit Macht eingeübt werden. Die vierte Phase ist im Alter von vier bis sieben Jahren die „phallische“, in der sich die Geschlechtsidentität an den äußeren Geschlechtsmerkmalen zu bilden beginnt. In diesem Alter beginnen Jungen mit ihrem Glied zu posieren. Typische Reaktionen darauf beobachtete Freud im Verhalten von Erzieherinnen, die den Jungen drohten, man würde ihnen das Glied abschneiden, wenn sie damit spielten. Außerdem, so Freud, würden Jungen die Annahme entwickeln, dass die eigene Schwester oder die eigene Mutter einmal einen Penis besessen haben mussten, diesen aber durch Kastration verloren hätten. Beides führt bei Jungen zur „Kastrationsangst“. Im gleichen Alter stellen die Mädchen fest, dass ihnen im Vergleich zu den Jungen „etwas fehlt“, und dieses Gefühl der Verärgerung des Mädchens nennt Freud den „Penisneid“.

Diese Phase ist in der Theorie Freuds von besonderer Bedeutung mit Blick auf die Gestaltung eigener Geschlechtsidentität: Denn wie das Kind in dieser phallischen Phase die Bedeutung des eigenen Geschlechts erlebt, so prägt es sein Dominanzverhalten aus. Störungen führen dann etwa zur Unterdrückung des anderen Geschlechts oder zur Unterwerfung unter dieses.

In dieser Phase ist auch die berühmte Beschreibung des „Ödipuskomplex“ verortet, in der es um die Beziehungsklärung zwischen dem Kind und dem andersgeschlechtlichen Elternteil geht. Kurz gesagt: Jungen entwickeln den Triebwunsch, sich mit der Mutter geschlechtlich zu vereinigen. Deshalb gerät der Vater als Rivale in den Blick. Ihm gegenüber werden Todeswünsche gehegt, was wiederum zu Schuldkomplexen führt. Dieser sog. Ödipuskomplex kann nur dann gelöst werden, so Freud, wenn die Identifikation des Jungen mit dem Vater gelingt. In dem Fall übernimmt der Junge die väterlichen und gesellschaftlichen Normen- und Wertvorstellungen (Entstehung des „Über-Ich“). Ein nicht gelöster Ödipuskomplex stellt laut Freud die Hauptursache für neurotische Störungen dar und wirkt bis in die spätere Partnerbeziehung. Das Mädchen auf der anderen Seite lernt in der phallischen Phase, ihre Penislosigkeit zu akzeptieren. Gelingt ihm das, so wird sie sich mit der Mutter identifizieren und ihre eigene Geschlechtsrolle annehmen. Gelingt dies dem Mädchen nicht, führt das zum Männlichkeitskomplex, also dem krankhaften Streben, so zu sein wie ein Mann. Nicht nur hier, aber hier besonders wird deutlich, wie stark Freud selbst in männlichen Wertungen unterwegs ist und am Ende etwas konstruiert, was patriarchaler Weltsicht in hohem Maße entspricht – woher kommt die Wertung, dass ein Penis etwas wäre, worauf ein Mädchen neidisch sein müsste?

In der folgenden latenten Phase treten nach Freud die sexuellen Geschlechterfokussierungen in den Hintergrund (7-11 Jahre) und die deutlich markierte Differenz wird gelebt. Ab dem 12. Lebensjahr tritt dann in der „genitalen Phase“ mit ihren Unterabschnitten von Pubertät und Adoleszenz das Interesse am anderen Geschlecht und der Sexualtrieb wieder deutlich nach vorn. Darin endet dann für Freud auch die sexuelle Identitätsentwicklung.

Wie die Psychoanalyse als Ganze, so lebt auch dieses Konzept Freuds nicht von einer empirisch-wissenschaftlichen Überprüfbarkeit im strengen Sinne. Es wurde von Anfang an bis heute stark kritisiert – insbesondere für sein Ausblenden des Unterschiedes vom biologischen sex und dem kulturell geprägten gender. Zugleich war und ist es wirksam und wird nach wie vor als theoretischer Hintergrund angewendet, einbezogen und weiterentwickelt.

In der Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklung und den lebensgeschichtlichen Bedingungen der Identitätsentwicklung fokussiert dieser Ansatz auf Fragen nach den Rollenvorbildern, die einem Mann als Kind zur Verfügung standen, insbesondere denen von Vater und Mutter. Wie wurde Männlichkeit gelebt und gestaltet? War der eigene Vater emotional anwesend? Stand er für Abgrenzungs-, Orientierungs- und Identifikationsprozess zur Verfügung? Wie hat die Mutter auf diese Gestaltung reagiert? Wie konnten weibliche Aspekte angenommen und integriert werden?24 Ist gerade in den ersten Phasen sinnliche Befriedigung möglich und erfolgreich gewesen? Oder wurde hier mit normativen Grenzen und schambesetzten Verboten Entwicklung gehemmt oder gar gestört, was bis ins hohe Erwachsenenalter Folgen zeigt– etwa im Verhältnis zu den eigenen Geschlechtsorganen? Alle diese Fragen sind für die Entwicklung männlicher Identität bedeutsam.

Eine Theorie, die sich dezidiert im Anschluss an Freud versteht und zugleich eigene Schwerpunkte setzt, ist die Beschreibung von Identitätsentwicklung bei Erikson:

2.2 Identitätsentwicklung nach Erik H. Erikson

Für Erik H. Erikson besteht „das Kernproblem der Identität in der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten“25. An anderer Stelle definiert er Identität als ein Grundgefühl: „Das Gefühl der Ich-Identität ist [...] das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten“26. Somit schlägt Erikson ein Verständnis von Identität vor, demnach das subjektive Vertrauen in die eigene Kompetenz zur Wahrung von Kontinuität und Kohärenz zentral steht. Die Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ fußt auf diesem „Identitätsgefühl“. Sie führt hinein in komplexe Zusammenhänge der inneren Strukturbildung einer Person, die Erikson in acht Phasen beschreibt.

Jede dieser acht Stufen wird von Erikson durch eine Krise ausgelöst, die über eine bipolare Spannung charakterisiert wird. Mit dieser Krise muss sich das Individuum aktiv auseinandersetzen. Aufgrund der Herausforderungen an das menschliche Leben in seiner biografischen Entwicklung ist diese Stufenfolge für Erikson nicht umkehrbar. Die vorangegangenen Phasen bilden also das Fundament für die kommenden. Erst wenn Urvertrauen gefasst wurde, kann Autonomie angemessen gestaltet werden, erst wenn ich Intimität bezogen leben kann, werde ich generative Entwicklungen wirklich ermöglichen können, usw. Die bei ihrer Bewältigung gemachten Erfahrungen sind entsprechend hilfreich, um die Krisen der höheren Lebensalter zu verarbeiten. Eine erfolgreiche Bewältigung einer solchen Entwicklungsstufe liegt entsprechend in der Klärung des Konflikts auf dem positiv ausgeprägten Pol des Spannungsfeldes. Das bedeutet für Erikson freilich nicht, dass ein Konflikt jemals vollständig gelöst würde. Für das Erreichen einer nächsten Entwicklungsstufe ist eine ausreichend erfolgreiche Bearbeitung notwendig. Im Unterschied zu Freud gibt Erikson so dem Unbewussten der psychosexuellen Dimension weniger Raum. Er erweitert und ergänzt die psychoanalytische Theoriebildung im Blick auf die Ich- und Identitätsentwicklung mit einer Perspektive auf den gesamten Lebenslauf und auf ein breiteres Spektrum an Lebenserfahrungen und Entwicklungsdimensionen der Persönlichkeitsentwicklung.

Wie Freud ist auch Erikson für sein Theoriemodell kritisiert worden – insbesondere mit dem Aufkommen der Ansätze postmoderner Identitätskonstruktion. Wesentlicher Kritikpunkt ist der Anspruch auf die Kontinuität im Durchgang durch sein Stufenmodell, insbesondere die Annahme, dass ein adäquates Durchlaufen bis zur Adoleszenz eine gesicherte Basis der Identitätsentwicklung für das weitere Erwachsenenleben sichern würde. Weiterhin wurde seine inhaltliche Setzung kritisiert, dass es tatsächlich möglich wäre, innere und äußere Welt konfliktfrei zu synchronisieren. Zumindest brauchen auch die negativen Erfahrungen, brauchen Leiden, Schmerz, Ohnmacht und Unterwerfung als Erlebnisdimensionen der Anpassungsprozesse ihre Wahrnehmung und Wertschätzung. Das gilt selbst dann, wenn diese Anpassungsprozesse von der Außenwelt als gelungen wahrgenommen würden. Am Ende wird die Idee einer reifen Ich-Integrität als gänzlich unmöglich abgelehnt. Dies hat der Theologe Henning Luther in Aufnahme von postmoderner Philosophie in seiner Rede von der „Identität als Fragment“27 konzeptualisiert. Dort lehnt er jeden Anspruch auf eine „ganze“, „runde“ Identität ab und betont gerade das Fragmentarische jeder Identität.

Mit der Perspektive dieses Ansatzes von Erikson und eingedenk der kritischen Anmerkungen kann ich meine Identitätsentwicklung als Mann in Abhängigkeit vom Lebensalter und bei nicht zu strenger Anwendung der Grenzen dahingehend befragen: Welche Herausforderungen sind mir in meinem Leben in welcher Weise eigentlich bisher wie begegnet? Wie bin ich mit diesen umgegangen? Inwieweit habe ich Urvertrauen und damit vertrauensvolle Beziehungsfähigkeit erfahren und erlernen können. Wie initiativ bin ich bei der Verfolgung meiner eigenen Ziele? Wie autonom gestalte ich meine Beziehungswelten? Wie gestalte ich meine intimen Beziehungen, meine Freundschaften, meine Rolle als Vater angesichts meiner Erfahrungen von Identität und Intimität? Wie inszeniere ich meine Männlichkeit? Wie sehr leitet mich die narzisstische Seite meiner Männlichkeit? Haben auch die schmerzhaften Erfahrungen meines Lebens mir Entwicklungsanregungen gegeben, die für mich integrierbar waren und die damit meine Persönlichkeit geweitet und zugleich profiliert haben? Wie zufrieden bin ich mit dem, was ich erreicht habe, privat, beruflich, als Partner, als Vater – und welche Dispositionen haben mich bisher wie beeinflusst?

In dieser lebensgeschichtlich ausgerichteten Perspektive wird besonders deutlich, wie das Konzept von Erikson und eigentlich auch schon das Konzept Freuds „Kinder der Moderne“ sind. Die Identitätsthematik wird in ein Ordnungsmodell regelhaft-linearer Entwicklungsverläufe gepresst. Somit wird eine gesellschaftliche wie individuell-psychologische Kontinuität und Berechenbarkeit angestrebt, die die subjektive Selbstfindung verlässlich einbinden kann. Abweichungen von diesen können als Störungen oder asoziales Verhalten etikettiert und damit wiederum behandelbar gemacht werden. Die postmodernen Ansätze vollziehen dagegen einen klaren Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität. Identität wird zu einem Prozessgeschehen. Zudem wird Identitätsarbeit als permanente Passungsarbeit zwischen innerer und äußerer Welt alltäglich.28 Brüche und Verletzungen gehören dazu, sind gar konstitutiv.

2.3 Identität zwischen Anima und Animus bei Carl Gustav Jung

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