Seit der ersten Veröffentlichung der nachfolgenden Texte, die zwischen 2009-2012 in einem Heilpraktiker-Magazin erschienen, hat sich in der Gesundheitspolitik viel verändert.

Damals versuchten die Lobbyisten noch, Minister der Bundesregierung zu beeinflussen, heute stellen sie Minister der Bundesregierung. Jede angebliche Verbesserung im Gesundheitswesen wirft nicht die Frage auf, wem sie hilft, sondern wer damit Kasse macht. Der Autor

Edition HoLinWan

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage 2019

© 2019 Eugen Pletsch

Alle Rechte beim Autor

Kontakt: www.eugenpletsch.de

Satz und Umschlaggestaltung von Siegfried Demand basierend auf einer Illustration von Peter Ruge,

www.demand-visuelle-konzepte.de

Mit Illustration von Peter Ruge, www.ruge-cartoons.de

Autorenfoto Oliver Hardt, www.oliverhardt.de

Druck: www.bod.de

ISBN: 9783750473300

Inhalt

Arztbesuch

Als Dr. Hubertus Canditus Bercelmeyer geweckt wurde, war es spät – zu spät. Die Sprechstunde hatte längst begonnen. Das Wartezimmer im Erdgeschoss seines Hauses war überfüllt von Patienten, die sich mittels alter Frauenzeitschriften und zerfledderter Kinderbücher am „Virus des Monats“ infizierten. Die rostige Reibeisenstimme der langjährigen Sprechstundenhilfe Maria Clarius hatte ihn aus seinen Träumen gerissen:

„Herr Doktor, könnten Sie bitte runterkommen! Ich habe Ihren Steuerberater auf der Eins … und der Herr Sibelius in Kabine 2 behauptet, er würde frieren.“

Bercelmeyer hatte keine Lust. Nicht auf diese Heerschar übergewichtiger Jammerlappen und Simulanten und schon gar nicht auf die Kranken, die ansteckend waren, was eine erhoffte Berufung in die Senioren-Mannschaft des Golfclubs gefährden könnte. Am wenigsten Lust hatte er auf den Sprechanlagen-Terror dieser Praxis-Domina, die ihn jeden Montagmorgen aus seinem liebsten Traum riss: Siegerehrung. Bercelmeyer hofft auf den ersten Preis. Über die Lautsprecheranlage hört er seinen Namen – aber dann es ist doch nur das Kasernenhofschnarren der Maria Clarius: „Dr. Bercelmeyer, könnten Sie endlich runterkommen!“

„Ich hätte dieses Weib damals heiraten sollen«, murmelte er, »dann wäre ich sie längst los.“

Eine frühe Heirat und stattliche Versorgung im Scheidungsfall waren die leider unerfüllten Träume der Maria Clarius gewesen. Dass ihr der dröge Landarzt niemals unter den gestärkten Kittel ging, erklärte sie sich mit dem chronischen Erschöpfungszustand des unsportlichen Bercelmeyer, bis der dann im Spätsommer seines Lebens den Golfweg beschritt. Misstrauisch beäugte sie diese neue Partnerschaft des Herrn Doktor.

Das Golfspiel erweckte in Bercelmeyer überraschenderweise jene Leidenschaft, die zu Erleben Frau Clarius einst ihren jungfräulichen Lenden zugedacht hatte. Zu ihrer größten Verwunderung war der kurzatmige Frosch gewillt und in der Lage, an glühend heißen Sonntagen achtzehn Golfbahnen zu hüpfen, selbst wenn es bedeutete, dass die Montags-Sprechstunde erst am späten Vormittag beginnen konnte.

Der Doktor sei zu einem „Notfall“ unterwegs, sagte sie dann und drehte die Augen bedeutungsvoll gen Himmel. Sie überließ es der Phantasie ihrer Heuschnupfenallergiker, sich ein blutrünstiges Drama auszumalen. Damit waren sie eine Weile beschäftigt, denn ein Notfall war grundsätzlich nicht zu hinterfragen. Selbst wenn es länger dauerte – Maria Clarius ließ in ihrem Wartezimmer keine defätistischen Bemerkungen zu.

Der Notfall verleiht dem Arzt die schimmernde Aura des Mittlers, der zwischen dem Patienten und dem Leben steht, wobei – manchmal steht er da auch im Weg. Nicht jeder Ruf in die ewigen Jagdgründe beruht auf dem unergründlichen Ratschluss unseres allmächtigen Herrn. Mangelnde Hygiene in der Krankenstation, die Übermüdung junger Assistenzärzte, manche Patientenverwechslung und die selbstherrlichen Anweisungen ohnmächtiger Halbgötter ließen schon manche Seele zur Unzeit über dem Jordan verglimmen. Aber nicht in dieser Praxis. Das Wort „Notfall“ machte aus Bercelmeyer jenen Arzt, dem zu dienen sich Maria Clarius einst geschworen hatte. Dabei gab es nur einen wirklichen Notfall: Bercelmeyer selbst. Gegen die schweren Erschöpfungszustände, bedingt durch mangelnde Flüssigkeitsaufnahme während eines Golfturniers und übermäßigem Alkoholgenuss danach half nur ein geruhsamer Schlaf. Deshalb lag Bercelmeyer am Montagmorgen schnarchend im Bett, anstatt seine Patienten ins Jenseits zu therapieren – was diese instinktiv zu schätzen wussten.

„Manchmal dauert es, aber er ist ein guter Arzt“ sagte eine Dame. „Zumindest bringt er niemanden um“, bestätigte eine andere.

Bercelmeyer, dessen Golfspiel unter einem unberechenbaren Ballflug leidet, hat die Heilkunst wahrlich von der Pike auf gelernt. Hinter dem schweren, dunkelbraunen Eichenschreibtisch, der das Sprechzimmer wie eine Trutzburg dominiert, hatte sich schon sein Vater verschanzt, während der kleine Hubertus am Boden saß und versuchte, einer widerspenstigen Katze mit dem Stethoskop Herztöne zu entlocken. Nach einem feuchtfröhlichen Studium und Promotion in Heidelberg hatte ihn der bei Landärzten übliche frühe Tod seines Vaters vorzeitig in die Heimat zurückbeordert.

Die Praxis war damals eine stattliche Pfründe und Bercelmeyer, der die Hungergehälter von Assistenzärzten in der Uni-Klinik mit Schrecken betrachtete, ließ sich nicht zweimal rufen. Irgendwann stellte er dann Maria Clarius ein, die ihn seitdem unglücklich und aufopfernd liebt. Bercelmeyer dagegen liebt nur das Golfspiel.

An einem Freitag hatte ich in der Praxis angerufen und zu meiner Überraschung wurde der Hörer abgehoben. Man teilte mir mit, dass ich am Montagvormittag vorbeikommen könne, ich müsse nur etwas Zeit mitbringen. Das fand ich insofern erstaunlich, als ich in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht habe, dass es dank moderner Kommunikationsmittel schier unmöglich geworden ist, eine Arztpraxis zu erreichen und wenn jemand den Hörer abnimmt, ist – zumindest für einen gesetzlich versicherten Lebenskünstler wie mich – kein Termin frei. Insofern war ich von Bercelmeyers Praxismanagement beeindruckt und stand am Montagmorgen rechtzeitig auf der Matte. Nicht, dass ich zur Hypochondrie neigen würde – nein, ich bin nur so vorsichtig, wie man das in meinem Alter sein sollte. Deshalb messe ich stündlich den Blutdruck, lasse monatlich ein großes Blutbild machen und ernähre mich hauptsächlich von vitaminreicher, biologisch hochwertiger Kost.

Hubi, wie Dr. Bercelmeyer bei uns im Club genannt wird, hatte mich vor ein paar Jahren in die golfpsychiatrische Abteilung einer Suchtklinik1 überwiesen. In dieser Klinik wurde ich geheilt. Seitdem spiele ich zwar noch häufig Golf, aber nicht mehr mit Suchtcharakter, sondern eher, weil ich es als meine Bestimmung ansehe.

Während ich wartete und Kindern beim Bemalen von Schablonen mit Märchenmotiven zusah, schleppte sich der Zeiger so langsam voran, wie eine Sonntags-Golfrunde bei schönem Wetter. Schließlich wurde ich aufgerufen.

„Na, wie geht es uns?“ fragte Bercelmeyer.

„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich hatte im Vorjahr Beschwerden am Knie.“

„Oh?“

„Das war im letzten Winter, als ich mich nach einem Sturz verletzt hatte.“

„Und du bist sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast?“

„Dass ich gestürzt bin? Wieso sollte ich mir das einbilden?“

„Ich frage nur. Schließlich musste ich dich seinerzeit in eine psychiatrische Anstalt überweisen…“

„Hubert, das war zur Kur, ich hatte einen Drehschwindel.“

„Aber du warst dann für Jahre verschwunden. Ich dachte, man hätte dich weggeschlossen.“

„Ich hatte die Gegend verlassen. Jetzt bin ich wieder hier.“

„Und deinem Knie geht es besser.“

„Akupunktur hat gut geholfen.“

„Dieser Chinesenkram? Alles Einbildung, wobei – stimmt – bei dir könnte das funktionieren. Und warum bist du heute hier?“

Ich erzählte lange, bis Maria Clarius auftauchte. Sie schaute Bercelmeyer mit fragenden Augen an und sprach dann das Zauberwörtchen NOTFALL, um ihn aus dem Sprechzimmer zu locken.

Er stand auf, bedeutete seiner Mitarbeiterin, dass er sofort käme und sagte laut: „Wir sollten deinen Kopf röntgen, oder – nein, wir machen besser gleich ein CT, ein MRT und eine neurologische Untersuchung. Der Kollege Wulff hat sich ein neues Gerät zugelegt, das sich amortisieren muss“

Leise sagte er mir: „Komm mal nach der Sprechstunde vorbei, ich möchte die ganze Geschichte hören.“

Boreout?

Seit ich wusste, dass ich „etwas aus der Spur“ war, wie Frau Liebeseel das nennt, war ich aus der Spur – und eines war sicher: Das bildete ich mir nicht ein!

Ich wusste nicht, was mit mir los war, aber wenn Frau Liebeseel das sagt, dann könnte da etwas dran sein. Schließlich leitet sie unsere esoterische Nachbarschaftshilfe und weiß auf den ersten Blick, wenn etwas nicht stimmt. Sie hat nämlich ganz feine Antennen, die sie vom Opa mütterlicherseits geerbt hat.

„Nein, nein“, sagte sie kürzlich zu mir: „Du gefällst mir gar nicht. Du bist ja ganz aus der Spur. Wir müssen etwas unternehmen, damit du deine innere Mitte wiederfindest.“

Da hatte sie recht, zumal die innere Mitte für einen Golfer spielentscheidend ist. Ja, ich bekenne: Ich spiele Golf. Obwohl ich nicht reich bin und keine karierten Hosen trage, laufe ich seit 25 Jahren wie ein BSE-krankes Rind im Kreis. Dabei suche ich nach meinem Ball und meinem Schwung und der Wahrheit, die hinter all dem liegt und sich nur demjenigen offenbart, der bereit ist, in heiterer Gelassenheit und beschaulicher Stille zu verharren.

Doch das werde ich jetzt nicht vertiefen, denn ich habe sechs Bücher zu diesem Thema verfasst, die allesamt als humoristische Schriften fehlinterpretiert wurden, was daran liegen mag, dass mich kein Mitgolfer je in heiterer Gelassenheit, geschweige denn in beschaulicher Stille erlebt hätte - was ich jetzt ebenfalls nicht vertiefen will. Ich gebe jedoch zu: Manchmal schlage ich einen Ball über eine Wiese. Wenn ich den Ball dann finde, schlage ich ihn wieder weg und suche ich ihn erneut. Wenn der Ball zum Ziel fliegt, bin ich glücklich. Leider fliegt der Ball meist woanders hin. Dann bin ich weniger glücklich und tröste mich damit, dass ich an der frischen Luft war.

Für das Thema Golf interessiert sich Frau Liebeseel jedoch nicht so sehr, wie für den Menschen in diesem Universum voller Geheimnisse.

„Warst du in letzter Zeit bei einem Arzt?“ fragte sie, nachdem sie eine Weile über meine innere Mitte meditiert hatte.

„Hm, ja, wenn du so fragst: Ich war kürzlich bei Dr. Bercelmeyer.“

„Aha!“

„Was: aha?“

„Dachte ich mir. Kann es sein, dass er dich aus der Spur gebracht hat?“

„Zuerst sprachen wir über Autos.“

„Und?“

„Ich erzählte ihm, dass bereits Viktor Schauberger den Explosionsmotor als Fehlentwicklung einstufte und stattdessen die Idee der Implosion vertrat; mit dem Ergebnis, dass er von den Amis gekidnappt und in die Wüste verschleppt wurde. Alle seine Ideen und Patente hat er in den USA lassen müssen. General Motors hält übrigens auch die bahnbrechenden Patente von Tesla im Giftschrank versteckt.“

„Und was meinte Bercelmeyer dazu?“

„Das wäre alles sehr unwahrscheinlich. Dann erzählte ich ihm, dass mir mal wieder mein alter Freund Ho Lin Wan begegnet wäre, den ich aus einem früheren Leben in Tibet kenne.“

„Und Bercelmeyer?“

„Der machte sich Notizen und wollte mehr darüber erfahren.“

„Und du hast ihm alles erzählt?“

„Klar, warum nicht? Ich erzählte ihm meine Erinnerungen an ein früheres Leben im Kloster Drepung, wo ich zusammen mit HoLinWan und einem Burschen namens Lobsang Rampa Golf spielte. Mit Schlägern, die uns ein paar Engländer überlassen hatten, schlugen wir Yakdung-Bälle, die sehr leicht waren und unglaublich weit flogen. Deshalb dauerten unsere Golfrunden wochenlang und Forscher aus dem Westen glaubten ernsthaft, es handelte sich bei unseren Wanderungen um Pilgerreisen. Dabei waren wir nur hinter unseren Bällen her.“

„Und Bercelmeyer?“

„Der sagte nicht viel, nur bei den Yetis hat er gezuckt.“

„Welchen Yetis?“

„Wir hatten Yetis als Caddies engagiert, um unsere Bälle zu suchen. Yetis haben einen feinen Geruchsinn.“

„Wie interessant!“

„Das meinte auch Bercelmeyer. Aber dann, gerade als ich beim Einmarsch der Chinesen erschossen wurde, kam Maria Clarius herein und meinte, es läge ein Notfall vor, er müsse sofort kommen.“

„Ein Notfall während du erschossen wurdest“

„Ja. Das ist ein Code, wenn der Patient zu lange beim Arzt ist. Die Maria Clarius passt besonders bei Golfern auf, weil ihr Chef dann jede Zeit vergisst und ich war ohnehin schon zu lange drin.“

„Also Notfall. Und dann?“

„Bercelmeyer bat mich, nach der Sprechstunde noch mal vorbeizukommen.“

„Und? Bist du hin?“

„Na klar, wann hat man schon mal einen Arzt gesehen, der einem Kassenpatienten länger als zwei Minuten zuhört!“

„Stimmt auch wieder.“

„Ich also nochmal nach Feierabend hin. Bercelmeyer schaute mich beunruhigt an und meinte, ich solle es mir bequem machen und alles erzählen.“

„Das war nett von ihm.“

Frau Liebeseel nickte mir auffordernd zu, weiter fortzufahren.

„Wir plauderten eine Weile über Golf. Dann trug ich ihm meine Vermutung vor, dass die ganze Welt längst von winzigen Außerirdischen besetzt ist. In ihren Raumschiffen, die exakt wie Golfbälle aussehen und die weltweit in Tümpeln und Teichen verborgen liegen, sitzen sie da und warten auf den Angriffsbefehl.“

„Was sagte er dazu?“

„Zuerst kein Wort. Dann murmelte er: ‚Alle Golfer haben Wahnvorstellungen, aber deine müssen dringend behandelt werden. „Er stellte mir eine Überweisung zum Psychiater aus.“

„Das kann dauern, bis du einen Termin bekommst“, seufzte Frau Liebeseel.

„Deshalb gab er mir Tabletten. Die soll ich nehmen, wenn die Halluzinationen wiederkommen.“

„Was sind das für Tabletten?“

„So ein Psychozeug, das Pickel macht.“

„Und? Hast du etwas davon genommen?“

„Bin ich verrückt? Wo ich gerade im Sommer eine Leberentgiftung gemacht habe!“

Frau Liebeseel wiegte mit dem Kopf hin und her. Zu ärztlichen Verordnungen sagte sie grundsätzlich nichts, selbst dann nicht, wenn Ärzte ihren Patienten wechselweise Cortison und Antibiotika verschreiben, je nachdem, ob die auf der rechten oder linken Seite des Wartezimmers sitzen.

„Und? Was meinst du?“

„Kein Wunder, dass du deine Mitte verloren hast. Meiner Ansicht nach hast du zu wenig zu tun. Dann bekommt man ein Boreout-Syndrom, aber dagegen kann man was machen. Mein Vorschlag: Such dir endlich mal wieder eine geregelte Arbeit und geh‘ unter Menschen. Dann wirst du deine innere Mitte wiederfinden. Ich werde mal mit dem ‚Universum‘ reden…“, sagte Frau Liebeseel. Dann bestellte sie beim Chinesen auf meine Kosten die Nr. 64, womit sie ihre Beratung als bezahlt ansah.

Beim Schraubendoktor

Hatte ich wirklich ein Boreout und sollte mehr unter Menschen gehen, womit Frau Liebeseel vermutlich Nichtgolfer meinte? Aber wie könnte ich das anfangen? Ich grübelte tagelang und fühlte mich dabei müde und erschöpft. Selbst das Gebräu aus Gerstengraspulver, das mir Frau Liebeseel empfohlen hatte, schien meinen Zustand nicht zu verbessern. Dazu kam eine gewisse Unzufriedenheit mit der Welt. Mürrische Gedanken, die sich im Alter wie Schimmelflecken in die Seele brennen, verfolgten mich den ganzen Tag.

Dass mein Heimatplanet von Außerirdischen besetzt war, damit hatte ich mich mittlerweile abgefunden. Womit ich mich nicht abfinden kann, sind Dummheit, Inkompetenz und der allgegenwärtige Schlendrian. Es heißt ja, auf dem Weg zur Erleuchtung müsse man lernen, die Dinge so zu akzeptieren wie sie sind. Aber sind Phänomene wie das Gesundheitsministerium oder die Bahn Ausdruck göttlichen Willens, damit wir DAS WAS IST anzunehmen lernen? Manche Erleuchteten, die das behaupten, werden selten mit der Bahn fahren.

„Warum“, fragte ich rein rhetorisch in die unendliche Stille des Universums hinein, „haben die meisten Bahnhöfe keine geheizten Warteräume mehr? Oder nehmen wir die Hebammen? Warum wird dieser heilige Beruf systematisch über die Versicherungstarife ausgerottet? Nur damit junge Ärzte ihre OP-Scheine bekommen?

Dann fiel mir die Verpackungsindustrie ein: Immer, wenn ich abgepackte Lebensmittel kaufe, frage ich mich, was sich der Verpackungsdesigner dabei gedacht hat. Ich sehe ihn dann vor mir, den Jungen, den die Öko-Eltern mit Eso-Macke „Rudolph“ nannten, der seine Waldorfschule hasste und alles versucht hat, um später ‚normal‘ zu werden. Er landet in der Verpackungsindustrie, wo er seinen ganzen Hass auf die Öko-und Alt-68er Generation austobt, indem er Verpackungen herstellen lässt, die niemand aufbekommt. Wer weiß, wie viele Menschen in ihren Wohnungen bei vollem Kühlschrank verhungern, weil sie selbst mit Lesebrille nicht entdecken, wo man den Nippel oder die Lasche zieht, um ans Futter zu kommen?

Jahrelang glaubte ich, dass meine Generation den ganzen alltäglichen Irrsinn beim Marsch durch die Institutionen angezettelt hat, um Chaos und Anarchie zu säen. Aber nichts da. Alle, die den Marsch überlebt haben, sitzen heute ebenso verzweifelt wie ich vor ihrer Käseverpackung und bekommen sie nicht auf.

Was immer unser Leben in diesem wohlhabenden Land lebenswert macht, bekommt man durch irgendetwas vermiest. Der Alltag wird automatisiert und anonymisiert; niemand ist mehr erreichbar, geschweige denn verantwortlich. Dabei werden wir zunehmend verstrahlt, vergiftet und letztendlich unserer Seele beraubt.

Tagelang grummelte ich auf diese Weise vor mich hin. Um mich in meinem Weltschmerz zu entsäuern, bereitete ich mir ein Basenbad, um dann von der Wanne heraus Frau Liebeseel anzurufen.

„Wie geht’s?“

„Danke, aber nicht besonders.“

„Bedauerlich. Kann ich dir helfen?“

„Ich werde von wirren Gedanken heimgesucht.“

„Das ist bei dir nichts Neues.“

Ich plapperte eine Weile vor mich hin, wobei ich zweimal heißes Wasser nachlaufen ließ.

„…und jetzt“, schloss ich, „überlege ich ernsthaft, ob ich Bercelmeyer‘ Rat folgen soll.“

„Du meinst: zum Psychiater gehen?“

„Ja. Was hältst du davon?“

Ich hörte ein Knistern. Wenn Frau Liebeseel am Telefon nachdenkt, meine ich stets ein leises Knistern zu hören.

„Warum nicht? Vielleicht hilft es.“

Frau Liebeseel seufzte.

„Aber wundere dich nicht, wenn du keinen Termin bekommst.“

„Wieso das denn?“

„Psychische Erkrankungen sind in den letzten Jahren um 80% angestiegen! Für ein Erstgespräch müssen Patienten Monate warten. Obwohl der volkswirtschaftliche Schaden in Deutschland bereits auf rund 6,3 Milliarden Euro im Jahr geschätzt wird, weigern sich die meisten gesetzlichen Kassen Heilpraktikern Psychotherapieleistungen zu erstatten, wenngleich eine außervertragliche Kostenerstattung leicht möglich wäre. Mittlerweile verklagen manche Patienten ihre Krankenkassen wegen unterlassener Hilfeleistung.“

„Ich habe Vitamin Golf. Bei mir wird das schneller gehen“.

„Das werden wir sehen.“

„Genau!“

Während ich in meiner mit Mineralstoffen angereicherten Basenlauge vor mich hin plätscherte, klönten wir eine Weile, bis Frau Liebeseel ihr Yoga-Kurs einfiel.

Ich döste weiter vor mich hin, bis das Bild von Schraubendoktor Ötzel vor meinem inneren Auge entstand. Mit ihm hatte ich hin und wieder eine Runde Golf gespielt. Dabei war er mir weder durch besondere geistige Gesundheit noch durch exzellentes Golfspiel aufgefallen. Nach unserer letzten Runde hatte er mir seine Privatnummer gegeben und mich um Kontaktaufnahme gebeten, „falls ich wieder die Nervenkraft hätte, ihn erneut über den Platz zu begleiten“.

Es war Mittwochmittag, als ich ihn zu Hause erwischte.

„Willst du spielen?“ fragte er. „Ich gehe nachher mit Bercelmeyer raus.“

„Nein, ich habe psychische Probleme.“

„Außerirdische?“ Er lachte.

„Woher weißt du davon?“

„Jeder im Club weiß von deinen Spinnereien.“

„Hör mal, ich hab Depressionen.“

„Meinst du, ich nicht? Am Sonntag habe ich das Turnier derart vermasselt, da helfen keine Pillen.“

„Bercelmeyer sagt, ich bräuchte einen Psychiater-Termin.“

„Er auch, aber gut - komm morgen mal vorbei. Ich sag‘ meinen Damen Bescheid. Die sollen dich dazwischen schieben.“

„Es wäre mir unangenehm, wenn jemand wegen mir länger warten müsste…“.

„Alle müssen länger warten, du auch. Nur so kommen die Leute zur Ruhe.“

„Tja, dann bis morgen.“

„Alles klar.“

Ich rief Frau Liebeseel an: „Habe morgen einen Termin.“

„Gratulation. Aber pass auf, was du sagst. Sonst bist du schnell weggeschlossen.“

„Wieso?“

„In Hessen wurden vier Steuerfahnder für psychisch krank erklärt und zwangsweise pensioniert. Und dann der Fall von Gustl Mollath! Wer Fälle von Steuerhinterziehung aufdeckt, wird schnell eingewiesen und kommt nicht mehr raus.“

„Ich geh‘ doch nicht zum Ötzel, um ihm Steuerhinterziehungen zu beichten?“

„Mach was du willst, aber ich habe dich gewarnt!“

Die Praxis von Dr. Ötzel lag im ersten Stock eines modernen Mehrzweckgebäudes, in dem auch ein Bäcker und eine Apotheke auf Kunden lauerten. An der Tür zur Rezeption hing ein Schild „Nur Einzeln nach Aufforderung eintreten“.

Ich wartete. Leise Stimmen drangen durch die Milchglastür. Offensichtlich sträubte sich ein unwilliger älterer Herr gegen etwas Unvermeidliches, was der Herr Doktor angeordnet hatte.

„Ich möchte die Tabletten nicht mehr nehmen“, hörte ich ihn mit hoher Stimme wimmern.

„Die tun Ihnen aber gut“, behauptete eine resolute Frauenstimme.

„Nein, die tun mir nicht gut“, sagte der Herr. „Mir wird davon übel und schwindelig und ich weiß dann nicht mehr, wo ich bin.“

„Das macht das Alter“, sagte die Frauenstimme, „das hat nichts mit den Tabletten zu tun. Die sind gegen Depressionen.“

„Aber ich habe keine Depressionen“, beharrte der renitente Nörgler. „Ich bin nur traurig, weil mich meine Tochter nie besucht.“

„Sehen Sie, da haben wir es. Sie sind traurig und das nennt man heutzutage eine Depression. Dafür sind die Tabletten.“

„Aber meine Tochter kommt dann trotzdem nicht zu mir.“

„Damit müssen Sie sich abfinden. Und damit Sie nicht so traurig sind, haben sie die Tabletten.

„Ich bin lieber traurig, als dass mir schwindelig ist.“

„Darüber kann ich nicht den ganzen Morgen diskutieren.“

Jetzt wurde die Stimme streng.

„Der Herr Doktor hat Ihnen die Tabletten verschrieben und Sie sind angewiesen, die zu nehmen. Sonst ist die Therapie sinnlos und dann hat der Herr Doktor keine Zeit mehr für Sie!“

„Aber…“

„Jetzt beruhigen Sie sich mal. Hier ist Ihr Rezept. Draußen wartet jemand, der froh wäre, solch hilfreiche Tabletten zu bekommen.“

Meinte sie mich damit? Ich sah, wie sich ein Schatten langsam auf die Tür zubewegte. Dann öffnete sich die Tür. Der ältere Herr stützte sich auf Stöcke. Für einen kurzen Moment begegnete sich unser Blick.

„Wenn du hier eintrittst, lass alle Hoffnung fahren“, sagten müde Augen. Ich trat zur Seite. Er hinkte langsam zum Ausgang. Ich sah ihm nach. Während sich der gebeutelte Mann auf seinen Krücken voran schob, fiel mir meine Knieverletzung vom Vorjahr ein. Jeder Schritt war mühsam und schmerzhaft und ich fühlte mich verloren, während ich durch eine Gesundheitsmaschine getrieben wurde, die zu Heilen vorgibt und doch letztendlich nur ein Opfer nach dem anderen ausspuckt.

Ein harsches „Ja bitte, kommen Sie rein!“, weckte mich aus meinen schmerzhaften Erinnerungen. Ich war dran, aber das hieß noch lange nicht, dass ich dran war.

Die Rezeption war von klassischem Amtsstuben-Design geprägt. Um einen geregelten Praxisalltag zu gewährleisten ist es wichtig, neuen Patienten sofort ihren Rang als Bittsteller zuzuweisen. Zwei Faktoren sind dabei hilfreich: Ein Tresen, hinter dem sich Mitarbeiterinnen verschanzen, und eine gewisse Wartezeit, die signalisiert, dass Wichtigeres auf der Agenda steht, als meine Neuröschen zu waschen, zu schneiden und gesellschaftsfähig zu legen.

„Einen Moment bitte“.

Drei Damen saßen hinter dem Tresen. Eine Mitarbeiterin telefonierte laut, die nächste starrte konzentriert auf ihren Bildschirm, was jegliche Störung ausschloss, die dritte Dame war offensichtlich jene, die den älteren Herren zur Räson gerufen hatte.

An der Wand hing ein Hinweis:

Egal wie Tabletten aussehen,
auf den Wirkstoff kommt es an.
Vertrauen Sie ihrer Ärztin bzw. Ihrem Arzt.

Nach einer Weile geruhte eine Mitarbeiterin, mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

„Ja, bitte?“

„Dr. Ötzel hat mir gestern gesagt, ich solle heute mal reinschauen.“

„Termine vergeben grundsätzlich nur wir.“

„Es war ein privates Telefonat und er sagte, er würde Sie informieren.“

„Wie ich schon sagte…“. Ihre Stimme wurde scharf.

In ihrer Aura stand geschrieben, was sie dachte: „Der alte Narr glaubt doch nicht ernsthaft, er könnte seine Golfkumpels an mir vorbei schleusen und Chaos veranstalten? Nicht mit mir!“

„Vielleicht wissen Ihre Kolleginnen etwas davon?“

Die anderen Damen schauten nicht mal hoch, während sie mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung verneinten.

„Also bitte. Da sehen Sie es. Niemand weiß davon.“

„Könnten Sie ihn kurz anrufen?“

„Nein. Dr. Ötzel ist in Behandlung.“

„Bei wem?“, hätte ich fast gefragt, doch ich seufzte nur.

„Und jetzt?“

„Wir können einen neuen Termin vereinbaren“.

„Wann wäre das?“

Sie blätterte in einer Kladde.

„Es wird ein paar Monate dauern….“

„Hm, so lange sollte man in meinem Alter nicht mehr planen.“

„Das heißt: Sie möchten keinen Termin?“

„Nein danke.“

Die ganze Situation erschien mir plötzlich vollkommen absurd. Vor der Tür nahm ich ein paar Bachblüten-Tropfen und trat in die Sonne hinaus. Ich hatte das Gefühl, bald wieder in die Spur zu kommen, wobei mir geregelte Arbeit und mehr Umgang mit Nichtgolfern helfen könnten.

Der neue Job

Frau Liebeseels Universum lieferte prompt. Ein paar Tage später rief mich ein Bekannter an und schlug mir vor, einem Fachverlag für Naturheilkunde bei seinen vorsichtigen Schritten in die Moderne als Marketingexperte beratend beizustehen. Warum nicht? Wenn es das Universum wünscht, bitte sehr! Er gab mir eine Telefonnummer, um einen Termin zu vereinbaren.

Wenige Tage später putzte ich mich stadtfein heraus, kämmte meine graue Künstlermähne und fühlte mich bereit für ein Leben, das von Fleiß, Disziplin, geregelten Arbeitszeiten und warmen Mahlzeiten geprägt sein würde.

Das imposante Verlagsgebäude erinnerte an eine abgesägte Pyramide und war leicht zu finden. Die Chefin des Verlages schien mir ein etwas herber Typ zu sein. Sie begrüßte mich kurz und beschied mir, dass meine spärlichen Bewerbungsunterlagen für sie keine Bedeutung hätten.

„Ich sehe wen ich vor mir habe“, sagte sie durch den dünnen Schleier ihrer Vergeistigung, der wie Sonnenstaub über ihren Augenlidern hing.

„Aha“, sagte ich und atmete auf.

Sie eröffnete mir, dass ihr Team bisher nur aus weiblichen Mitarbeitern bestände.

„Daran würde sich wenig ändern“, sagte ich und dachte dabei an mein Golfspiel, das von meinen Mitspielern als ausgesprochen feminin bezeichnet wird.

Meine künftige Chefin schaute irritiert. „Es ist die Yang-Energie, die wir im Verlag zu verstärken erhoffen, um unsere Marktstellung in der Naturheilkunde auszubauen.

„Verstehe.“