Wolfgang v. Alt-Stutterheim verbrachte seine Kindheit und Jugend in Leipzig. Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 flüchtete er aus dem sozialistischen System. Im Westen heuerte er zunächst als Seemann an. Anschließend verdiente er sich als Hafenarbeiter in Hamburg seinen Lebensunterhalt. Schließlich fand er seinen Weg im Studium der Psychologie: Nach dem Diplomabschluss arbeitete er in verschiedenen Institutionen, unter anderem in einer Klinik für drogenabhängige Jugendliche. Seit 1990 ist er als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in München tätig.

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2.Auflage

© 2019 Wolfgang v.Alt-Stutterheim

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Umschlaggestaltung: Herbert Westermair

www.by-westermair.de

ISBN 978- 3-7504-7199-3

Inhalt

Das Wunder von Lourdes

De Gaulle und Adenauer haben Freundschaft geschlossen. Jetzt können die deutschen Soldaten mit den Franzosen zusammen in Lourdes feiern.

Sechs Tage wurden den Soldaten für die Wallfahrt nach Lourdes geschenkt. Der Zug war rappelvoll. Sechs freie Tage! Auf dem weiten Weg in die Pyrenäen waren Katholiken, Protestanten, Adventisten, Baptisten, Wiedertäufer, Quäker und selbst Atheisten unterwegs. Die Offiziere, Feldwebel und einfachen Rekruten drängelten sich in christlicher Manier in die Abteile. Der Militärpfarrer saß vorne in der ersten Klasse. Der Sonderzug fuhr ohne Halt zum heiligen Ort. Mit Bier und Hochprozentigem hatten sich die meisten reichlich eingedeckt. Die Fahrt war lang, die Vorfreude auf das Kirchenfest sehr groß. Alkohol floss schon jetzt in Strömen. Selbst die Abstinenzler nahmen manchen Schluck, um sich wegen des Lärms der Kameraden in den Schlaf zu schunkeln. Erst nach Mitternacht wurde die aufgedrehte Truppe langsam müde. Die Luft war stickig. Bierdunst und alle möglichen Körpergerüche durchzogen die Abteile. Die aufgeklappten Sitze boten nur wenig Platz. Der Länge nach oder seitlich nebeneinander lagen die Soldaten erschöpft in ihren Abteilen.

Nur knapp war Gebirgsjäger Seidel dem Arrest entkommen. Der Pfarrer hatte ihm bei der Beichte ein Angebot gemacht: »Eine Pilgerfahrt in Demut könnte dich vor weiterer Bestrafung schützen.« Guten Willens wollte der Rekrut in Lourdes Vergebung erfahren.

Während des Appells war er schon mehrfach aufgefallen: Beim Kommando »Augen rechts« hatte er wiederholt nach links geschaut. Angetreten im Karree, hatte Seidel auf der falschen Seite gestanden. Seine Hose war nicht gebügelt, die Mütze saß schief oder sie war zu weit nach vorne gekippt. Beim Gebirgsmarsch war er immer schweißgebadet und meistens der Letzte der ganzen Truppe. Die Ermahnungen seines Kommandeurs hatte er dennoch nicht kommentarlos hingenommen. Leutnant Hauser hatte ihn bald im Visier: Urlaubssperre und nächtlicher Sonderwachdienst boten ihm einen Vorgeschmack auf künftige Zeiten.

Wie der Zufall es wollte, lag Rekrut Seidel auf der Pilgerfahrt neben seinem Vorgesetzten Hauser im Abteil. Die wohlige Nähe eines männlichen Körpers versetzte den Leutnant in Erregung; der Offizier machte sich wortlos an seinem Nachbarn zu schaffen. Seidel war schon in Tiefschlaf gefallen. Er wälzte sich knurrend zur Seite. Doch Hauser ließ nicht locker. Erst jetzt merkte der schlaftrunkene Rekrut, dass etwas nicht stimmte. Entsetzt starrte er seinem Vorgesetzten ins Gesicht. Gleich darauf rammte er ihm kräftig seinen Ellenbogen in die Rippen. Auch der Leutnant erstarrte, als er Seidel erkannte. Ärgerlich schnaufend verließ Hauser das Abteil und ging nach vorne in die erste Klasse. Die Hose hing ihm noch herunter.

Im Alter von 14 Jahren hatte Bernadette Soubirous eine weiß gewandete Erscheinung über der Grotte in Lourdes gesehen. Wieder und wieder besuchte sie die Jungfrau mit den Rosenkränzen. »Ich bin die unbefleckte Empfängnis«, hatte sie dem jungen Mädchen zugeflüstert. Ehrfurchtsvoll erstarrte Bernadette vor ihrem freundlich-milden Blick.

Eine mächtige Basilika ist später über der Grotte errichtet worden. Die Jungfrau Maria steht nun segensreich auf einem Sims über der Höhle in Lourdes. Tausende Sünder und Behinderte pilgern täglich zum heiligen Schrein. Gnade und Erlösung erfahren hier selbst ungläubige Touristen. Weggeworfene Krücken stehen gleich neben der heiligen Quelle.

Schon von Weitem schallte den Soldaten Marschmusik entgegen. Die Zelte waren außerhalb des heiligen Bezirkes errichtet worden. Rekruten aus aller Herren Länder strömten zur Messe. Weiß gekleidete Priester sangen wieder und wieder ihre frommen Lieder. Aus allen Kehlen erklang im Echo das freudig-fromme Halleluja.

Mit dem Sakrament der Kommunion erreichte die Zeremonie ihren Höhepunkt. Militärkapellen strömten durch das Städtchen. Ein feierlicher Rahmen, Gottes Segen überall. Die Sünden waren ihnen vergeben. Sogar zukünftige Sünden standen unter der Gnade der ewig verzeihenden Mutter.

Am Nachmittag neigte sich die Zeremonie dem Ende zu. Ergriffen und erschöpft verweilten die Soldaten auf dem großen Platz. Nur vereinzelt drangen noch Fanfarenklänge durch die Gassen von Lourdes. Die Priester verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Doch das große Fest sollte erst beginnen. Die sommerliche Hitze und die andauernden Gesänge der Jubelchoräle hatten so manchen Teilnehmer fast verdursten lassen. Außer sich vor Freude eilten sie zu den nahe gelegenen Kneipen. Auf dem Weg dorthin besiegelten französische Marinesoldaten, Fremdenlegionäre und deutsche Pioniere ihre Brüderschaft. Sie tauschten immer wieder Abzeichen, Mützen oder Schulterklappen als Zeichen ihrer Freundschaft aus. Rekrut Seidel trug jetzt eine Matrosenmütze mit langen blauen Bändern. Auch Leutnant Hauser tauchte in die jubelnde Menge ein. Mit aufgeknöpfter Jacke sang er fröhliche Lieder. Bier, Wein und Schnaps flossen in rauen Mengen durch die staubigen Kehlen der Soldaten. Der Segen von Lourdes beseelte alle Soldaten.

Erschöpft kehrten sie in ihre Kasernen zurück.

Niemand weiß genau, warum das Wunder geschah: Rekrut Seidel wurde zum Gefreiten befördert.

Folie à deux – Wahn zu zweit

»Wir leben schon seit ewigen Zeiten in dieser Mietskaserne«, sagt Edgar zu seiner Frau. »Ja«, erwidert Hertha, »es sind jetzt 17 Jahre. Wir können nicht raus, die Miete ist billig. Doch es wird immer schlimmer, seit wir in Rente sind. Die meisten, die hier wohnten, sind verstorben oder schon längst weggezogen. Kein Aufzug, nur ein kleiner Balkon zum Hinterhof. Das Schleppen der Flaschen in den vierten Stock ist eine Schinderei. Am besten kaufen wir einen Wassersprudler. Du bist auch nicht mehr der Jüngste. Übrigens, seit dem Tod ihres Mannes poltert Frau Maier immer wieder in ihrer Wohnung herum. Was treibt die nur? Schiebt sie jeden Tag ihre Möbel von einer Seite auf die andere? Neuerdings begrüßt sie mich besonders freundlich. Was führt sie nur im Schilde? Die war doch früher eher verbiestert und kriegte kaum die Zähne auseinander. Ihre Tochter lässt sich auch nur noch selten blicken. Den Rollator an der Haustür hat sie absichtlich schräg in den Weg gestellt. Kürzlich hat sie auf ihrem Balkon Tomaten angepflanzt und mich gefragt, ob ich ihre Paradeiser schon bewundert hätte. ›Die kommen gut‹, meinte sie. ›Die winken mir mit ihren roten Bäckchen freundlich zu.‘«

»Weißt du, was ich unverschämt finde?«, knurrt Edgar, »dass die Tomaten zu unserem Balkon herüberhängen!«

»Ich habe eine Idee«, rief Hertha. »Das ist unser Terrain! Was darüberhängt, gehört uns.«

»Vielleicht ist es eine List von ihr«, überlegt Edgar. »Kürzlich geisterte sie nachts auf dem Balkon herum. Dann hat sie was in den Kübel gestreut, das so komisch gerochen hat. Das war kein Düngemittel. Ich glaube, das war Gift. Deswegen hängen die Tomaten bei uns auch so zum Greifen nahe auf dem Balkon. Das Miststück will uns vergiften!«

»Edgar, schwafelst du wieder oder hast du es wirklich mit eigenen Augen gesehen?«

»Ich schwöre es, sie hat sich heimlich am Kübel mit den Tomaten zu schaffen gemacht.«

»Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen«, rief Hertha. »Ich durchschaue ihren Plan: Wenn sie uns vergiftet hat, soll ihre Tochter in unsere Wohnung einziehen. Ein sauberes Früchtchen, unsere liebe Frau Maier. Ha, ha, Paradeiser für das Paradies! Eva lässt grüßen. Ich hab doch schon immer gewusst, dass sie ein falsches Luder ist. Die wird sich wundern, wenn sie uns putzmunter auf der Treppe trifft.«

»Willst du sie nicht anzeigen?«, fragt Edgar. »Das ist doch ein heimtückischer Mordversuch.« »Nein, nein, viel größer ist die Schadenfreude, wenn die Schlange vergeblich auf ihre Opfer warten muss. Am besten, sie verhungert und folgt bald ihrem Mann. Dann könnte die Tochter ihre Wohnung übernehmen«, ruft Hertha voller Häme.

»Was gibt es heute Mittag? Ich krieg langsam Hunger«, erkundigt sich Edgar.

»Ich mache Ratatouille, heute mal mit ungeschälten Tomaten. Edgar, bitte: Kauf Gemüse und saftige Tomaten dazu.«

»Kannst du alles auf den Zettel schreiben?«, bittet sie Edgar. »Ich bin in letzter Zeit so vergesslich geworden.«

Kaum ist er unterwegs, nimmt sie die Paradeiser vom Balkon, aus Nachbars Garten, wie man so schön sagt. Was die kann, kann ich auch, denkt sich Hertha. Endlich werde ich den Trottel los! Flugs landen Frau Maiers Tomaten im Topf.

Edgar schaufelt vergnügt das Mittagsmahl in sich hinein. Hertha hat heute gar keinen Appetit.

Edgar macht danach ein Nickerchen. Hertha lauert.

Nach dem Mittagsschläfchen streckt sich Edgar gemütlich nach allen Seiten. »Das Ratatouille hat heute wunderbar geschmeckt. Wir hatten riesiges Glück, dass wir nicht die vergifteten Tomaten vom Balkon genommen haben. Soll sie doch Frau Maier essen!«

Hertha starrt ihn entgeistert an.

Im Sturm

Es war der letzte Tag unserer Urlaubsreise in Spitzbergen. Es sollte nur ein kurzer Ausflug sein. Der Tag brach an, der Zweimaster zog friedlich über die ruhige See. Das Meer begrüßte uns mit sanft plätschernden Wellen. Das Segelboot nahm bei einer leichten Brise langsam Fahrt auf. Nur ein paar Seemeilen entfernt liegt Nordaustland, eine unbewohnte Insel.

In früheren Zeiten hatten dort Walfänger und Robbenjäger gehaust. Auch die Nazis hatten sich während des Krieges in Spitzbergen und auf der Insel eingerichtet. Eine kleine Gruppe deutscher Soldaten hatte Wetterdaten an die deutsche Wehrmacht geschickt. Das Unternehmen »Haudegen« unter Führung des Ordonanzoffiziers Wilhelm Degen ist in den Geschichtsbüchern nur eine Randnotiz. Der verlorene Haufen war erst lange nach Kriegsende in Gefangenschaft geraten. Man hatte sie in den Kriegswirren einfach vergessen! Berlin war Monate zuvor mit Pauken und Trompeten gefallen. Die norwegischen Soldaten staunten nicht schlecht über das Arsenal der Besatzer: Sie waren bis an die Zähne bewaffnet.

Zu der halb verfallenen Wetterstation der Wehrmacht wollten wir nun einen Abstecher machen. Allmählich tauchte Nordaustland am Horizont auf. Mit unseren Feldstechern bewunderten wir das Naturparadies aus der Ferne. Eisbären, Polarfüchse und Rentiere strichen unbekümmert durch den schneebedeckten Archipel. Die Walrosse gönnten sich eine Ruhepause am Strand. Sie genossen die warme Mittagssonne am Ufer. Einige starrten unentwegt auf das Meer. Sie hielten offenbar nach gefährlichen Grönlandhaien Ausschau. Zwei Polarfüchse liefen in respektvoller Entfernung an der Herde vorbei. Sie lauerten auf ein wehrloses Opfer. Die Eisbären waren in der endlosen Schneelandschaft kaum auszumachen.

Ich war froh, für ein paar Tage dem Großstadtgetriebe entronnen zu sein: kein Palaver, keine sinnlosen Fragen, keine unnützen Grübeleien. In der Stille der Natur fielen alle negativen Gedanken von mir ab. Die Norweger sind wortkarge Menschen. Nur die knappen Befehle des Kapitäns durchdrangen die majestätische Ruhe der Fjorde. Die Mannschaft war mit dem Segelboot und der Navigation vollauf beschäftigt. Sie wichen den scheinbar harmlosen Eisbergen in sicherer Entfernung aus. Ab und zu krachten riesige Eisbrocken von der Gletscherwand herunter. »Die Gletscher kalben«, erklärte uns der Reiseführer. Die herabstürzenden Schnee- und Eismassen brachten unser kleines Segelboot ordentlich zum Schaukeln. Unser winziges Boot schlich wie eine Ameise an den Eisbergen vorbei.

Bald wurden wir auf Schlauchboote verfrachtet und erreichten nach einer kurzen Schaukelfahrt das längst vergessene Eiland.

Die heftigen Schneestürme hatten von der alten Wehrmachtsstation nicht mehr viel übrig gelassen. Der Wind pfiff durch die Löcher und Ritzen der morschen Bretter. Der Reiseleiter schaute besorgt gen Himmel. »Es wird Zeit für die Rückfahrt«, rief er uns zu. »Der Kapitän wartet schon auf uns.«

Kaum hatten wir unser Schiff erreicht, ballten sich schwarze Wolken am Horizont zusammen. Bis zum sicheren Hafen hatten wir noch einige Seemeilen vor uns. Ein heftiger Sturm zog auf.

Die kleine Insel lag schon weit hinter uns. Es gab kein Zurück mehr. Der Steuermann umklammerte das Ruder – vergeblich: Das Boot war den mannshohen Wellen hilflos ausgeliefert. Es tanzte wie eine Walnussschale auf dem Meer. Die Matrosen konnten die Segel nicht mehr raffen. Der Sturm peitschte gnadenlos durch die Takelage. Nach kurzer Zeit hingen die Segel nur noch in Fetzen vom Mast. Steuerlos trieb das Schiff durch die brodelnde See. Nebelbänke zogen auf. Die Besatzung verlor jede Orientierung.

Wir erstarrten vor Kälte und flüchteten uns unter Deck. Der Zweimaster wurde nach oben gerissen und stürzte dann wie ein abgeschossener Pfeil laut scheppernd in den Abgrund hinunter. Wasser schwappte ins Boot. Mit eiligst herbeigeschafften Eimern und Töpfen schöpften die Männer das Wasser wieder heraus. Mir wurde speiübel. Im Rhythmus der wild gewordenen Schiffschaukel rutschten erbrochene Essensreste, Besteck, Teller und Küchengeräte von einer Seite zur anderen. Das wüste Gepolter vermischte sich mit dem Gebrüll der tosenden See. Die majestätische Stille war einem Höllenlärm gewichen. Jeder versuchte, sich irgendwo und irgendwie festzukrallen. Einige hatten nicht mehr die Kraft, Halt im Chaos zu finden. Sie rutschten im Bauch des Schiffes wie Fallobst hin und her.

Wie lange wir auf dem geifernden Meer umhertrieben, kann ich nicht sagen.

Dem Tode näher als dem Leben, hörte ich ein hartes Knirschen unterm Kiel. Gleich einem Geisterschiff waren wir in einer unbekannten Gegend gelandet. Über Baumstümpfe und Walknochen hinweg stolperten wir an dem Küstenstreifen entlang. Schließlich krochen wir einen steilen Hang hinauf. Weiter oben fanden wir eine verlassene Behausung. Ein paar verstaubte Gerätschaften und altes Gerümpel lagen verstreut herum. Walfänger und Pelztierjäger hatten sich hier wohl vor Jahrzehnten eine provisorische Bleibe eingerichtet. Rasch zerrissen wir ein paar Hemden, um den Verletzten Notverbände anzulegen. Eisiger Wind pfiff durch das morsche Gebälk. Stinkende Bärenfelle schützten uns vor der Kälte. Zusammengeschusterte Bohlen dienten uns als nächtliches Lager. Ich fiel in einen traumlosen Schlaf.

Am frühen Morgen fanden wir nichts Brauchbares in der Hütte. Eine verrostete Petroleumlampe hing wie ein vergessenes Museumsstück an der Tür.

Wir mussten zu unserem Wrack zurück. Am Horizont zog ein Walfangschiff wie ein Schlachthaus an uns vorbei. Unsere weiße Flagge sah die Besatzung nicht. Mit notdürftig geflickten Segeln wagten wir uns wieder aufs Meer.

Doch der Sturm hatte nur eine kurze Atempause gemacht. Das Unwetter erwischte uns erneut auf hoher See. Wir verkrochen uns wieder unter Deck. Die lautstarken Befehle des Kapitäns drangen zu uns ins Unterdeck herunter.

Mit einem kräftigen Rums unter dem Kiel stoppte unsere Irrfahrt in der Nähe unseres Hafens. Die Strömung hatte uns zurück aufs Festland getrieben. Andere Segelschiffe lagen längst vertäut im Hafenbecken. Niemand schien uns zu bemerken. Wir waren froh, mit dem nackten Leben davongekommen zu sein. Einige glaubten, dass ihre Stoßgebete geholfen hätten. Ein Schutzengel hätte uns vor einem schlimmeren Ende bewahrt. Ich weiß es nicht. Auch der Kapitän sagte kein Wort. Ich umarmte ihn.

Rückblende

Das Mittagessen steht auf dem Tisch. Gleich muss er aus der Schule kommen. Das Telefon klingelt: »Ihr Sohn liegt im Krankenhaus. Er war in einen Unfall verwickelt und hat sich ein Bein gebrochen.«

Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf: Es muss auf dem Nachhauseweg passiert sein. Der Schulweghelfer hatte sich vor ein paar Tagen krankgemeldet. Diese verdammte Kreuzung! Vielleicht ist ein Ball auf die Straße gerollt und er ist hinterhergerannt.

Er war immer ein sehr ruhiges Bübchen, doch so still auch wieder nicht. Wenn er vor lauter Wut geschrien hat, habe ich ihn zum Trost an meine Brust gelegt. Das hat nicht immer geholfen. Manchmal hatte er gar keinen Hunger gehabt, sondern sich nur in die Windeln gemacht. Auch eine Mutter muss dazulernen! Aber wer versteht schon eine Mutter? Er ist in meinem Bauch gewesen, er gehört zu mir.

In der Kita plagte ihn Heimweh. Manchmal weinte er leise vor sich hin. Ich nahm ihn wieder raus. Bis zum vierten Lebensjahr stillte ich ihn. Er konnte schon fast stehend meine Brust erreichen. Die Nachbarn hatten sich darüber lustig gemacht, wenn ich ihm auf dem Spielplatz die Brust gab. Aber meine Muttermilch bewahrte ihn vor Krankheiten!

In der Vorschule nahm er an einem Förderprogramm teil. Ein Lehrer hatte mich vor der Gluckenfalle gewarnt. Eine Unverschämtheit!

Ich tue nur mein Bestes. Er ist mein Kind, mein eigen Fleisch und Blut. In der Schule ist er sehr fleißig. Seine Mitschüler mögen ihn nicht. Er sei ein Streber. Ein Einserschüler hat es eben nicht leicht. Er kann jetzt schon wunderbar lesen, schreiben und rechnen. Na gut, jeden Nachmittag machen wir zusammen die Hausaufgaben. Womöglich ist er hochbegabt? Etwas Gescheites soll mal aus ihm werden. Ich bin stolz auf ihn. Ich habe ihm jeden Stein aus dem Weg geräumt. Wie oft habe ich mich bei den Lehrern beschwert, wenn er ungerecht behandelt wurde. Ich bin eine Kämpferin. Ich stand immer auf der Matte, um ihn zu verteidigen.

Das Leben ist voller Widrigkeiten. Das habe ich schon in meiner eigenen Kindheit erlebt. Meine Mutter ist früh gestorben. Nach ihrem Tod bin ich bei meiner Tante aufgewachsen. Ein Bademeister hat mich im zwölften Lebensjahr angegrabscht. Sittenstrolche lauern überall auf der Welt. Wenn ich mit meinem Sohn ins Schwimmbad gehe, wird der Bademeister erst mal gründlich gescannt.

Er wollte kein Muttersöhnchen sein. Die anderen Kinder haben ihn schon ausgelacht, wenn ich mein Herzchen von der Schule abgeholt habe. Mit einem Mal, von heute auf morgen, wollte er alleine in die Schule gehen. Ich habe einen großen Fehler gemacht. Und jetzt ist es passiert. Ich hätte es wissen müssen!

Voller Sorge laufe ich zum Krankenhaus. Wenn er stirbt, dann sterbe ich auch. Ach Unsinn, er hat sich doch nur das Bein gebrochen. Ich biege um die letzte Kurve. Plötzlich gibt es einen lauten Schlag. Den Schulbus habe ich völlig übersehen.

Wie ein Golfball fliege ich in hohem Bogen durch die Luft und lande in einem schwarzen Loch. Richtungslos flattern Gedanken und Erinnerungen durch meinen Kopf. Ich werde in einen dunklen Gang geschoben. In der Ferne wartet ein Licht auf mich. Es begrüßt mich freundlich. Mein bisheriges Leben zieht wie in einem Bilderbuch an mir vorbei.

Gleichzeitig schwebe ich über meinem Körper. Ich sehe mich auf dem OP-Tisch liegen. Die Ärzte versuchen fieberhaft, die Blutungen zu stoppen. Krankenschwestern schwirren um mich herum. Ich werde künstlich beatmet. »Ich weiß nicht, ob die durchkommt«, murmelt ein Arzt. Schweiß steht auf seiner Stirn.

Bin ich tot? Helles Licht hüllt mich ein. Dann höre ich eine Stimme in meinem Herzen: »Du hast in deinem Leben noch einiges zu erledigen. Dein Sohn braucht dich.« Mit einem heftigen Schlag werde ich in die Gegenwart zurückkatapultiert. Der Defibrillator berührt noch meine Brust.

»Wie geht es meinem Sohn?«, frage ich besorgt.

»Den Umständen entsprechend gut«, antwortet der Arzt. »Er hat schon nach Ihnen gefragt.«

Verirrt

»Bist du trittfest?«, fragte Felix Anna. »Mit meinen neuen Bergstiefeln schon«, antwortete sie. »Sieh mal hier, auf der Karte. Die Tour auf die Kandel können wir locker schaffen. Der Berg ist gut 1200 Meter hoch. Die Landschaft und der Ausblick ins Tal sind atemberaubend. Von unserer Pension in St. Peter brauchen wir gut drei Stunden rauf. Der Weg zurück ist kürzer.«

»Super«, rief Anna begeistert.

»Im Naturpark gibt es seltene Tiere und Pflanzen. Wenn wir Glück haben, überraschen wir eine scheue Wildkatze oder es läuft uns ein prächtiger Rothirsch über den Weg. Einen Achtender kenne ich nur aus dem Zoo. Jedenfalls brauchen wir feste Schuhe. Die Kreuzottern sind zwar scheu, aber man weiß ja nie, ob eine aus dem Hinterhalt zuschnappt. Am besten starten wir gleich in der Früh, die Tage sind im Herbst nicht allzu lang.«

Am nächsten Morgen zogen sie los. «Auf der Karte sieht alles leichter aus«, schnaufte Anna während des Aufstiegs. »Der Weg ist ziemlich schmal, gleich daneben geht es steil herunter. Zum Glück gibt es Halteseile und ab und zu ein festes Geländer.«

»Jetzt machen wir erst mal ein Päuschen«, beruhigte sie Felix. »Wer weiß, wann wir den Berggasthof erreichen!«

Rote Moos- und Vogelbeeren säumten ihren Weg. Sonnengelbe Arnika winkte ihnen freundlich zu. Vorbei an Hunderte Jahre alten Rotbuchen und Eichen erreichten sie endlich den Gasthof. Sie genossen die herrliche Aussicht auf dem Gipfel. »Viel Zeit bleibt uns nicht«, gab Anna zu bedenken. »Wir sollten bald wieder aufbrechen.«

Auf dem Rückweg humpelte Anna plötzlich. Sie hatte sich die Ferse wund gescheuert. »Die werden wir gleich versorgen«, rief Felix. Er hatte für den Notfall an alles gedacht. Aus seinem Rucksack kramte er das Erste-Hilfe-Set heraus. Anna streckte ihren ramponierten Fuß in die Höhe.

Mit einer unbedachten Bewegung schob Felix den losen Schuh zur Seite. Der purzelte wie in Zeitlupe den Abhang hinunter. Plötzlich herrschte Stille. »Ach, du meine Güte! Es ist völlig sinnlos, den Schuh zu retten«, rief Felix entsetzt und entschuldigte sich tausend Mal bei Anna. »Und mit deinem nackten Fuß kommst du keinen Schritt weiter. Wir müssen improvisieren.« Mit einem Mullverband befestigte er ein Brotzeitbrett unter ihrem Fuß.

Anna schleppte sich, so gut es ging, hinter ihrem Begleiter her. »Wir haben keine Wahl, da müssen wir durch, gleich bricht die Dunkelheit herein.«

An einer Kreuzung blieben sie stehen. Ein Schild wies zur sagenumwobenen Teufelskanzel. Sie ragte wie ein warnendes Mahnmal wuchtig aus dem Gestein hervor. »Die Legende sagt, dass die Hexe Kandela den riesigen Felsbrocken voller Wut in die Tiefe geschleudert hat«, erklärte Felix seiner Gefährtin. »In der Walpurgisnacht hätte sie den Berggeistern ihre Macht und Stärke beweisen wollen.«

»Die Teufelskanzel sollten wir meiden«, flüsterte Anna. »Die Schatten der Bäume werden immer länger.« Die Dunkelheit brach herein.

Der Weg wurde schmaler. Sie waren auf einen Jägersteig geraten. Das Gestrüpp wurde dichter. Sie kämpften sich weiter voran. Zweige schlugen ihnen ins Gesicht. Dornen und Gestrüpp zerkratzen ihre Arme und Beine. Blut tropfte auf den Boden. Es war sinnlos, nach einem besseren Weg zu suchen. Blasser Mondschein erhellte das Gehölz nur schwach. Die bedrückende Stille wurde nur von ihrem keuchenden Atmen und dem Rascheln ihrer Schritte unterbrochen. Anna stürzte über einen Ast. Er lag auf dem schmalen Trampelpfad wie eine boshaft ausgelegte Falle.

»Es hat keinen Sinn«, rief Felix. »Wir bleiben erst mal hier und warten bis zum frühen Morgen.« Erschöpft sanken sie ins Unterholz. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Gelb glühende Augen leuchteten zu ihnen herüber.

»Ist es womöglich die Hexe Kandela?«, murmelte Anna.

Im Gebüsch hörte sie ein leises Knacken. Mit letzter Mühe konnte sie einen Angstschrei unterdrücken.

»Wir müssen weiter«, flüsterte sie Felix zu, die Hexe ist ganz in der Nähe.« Felix musterte die Umgebung. Im fahlen Mondschein warfen selbst die Bäume keine Schatten.

»Sie hat sich wohl in Luft aufgelöst«, raunte ihr Felix zu.

»Die findet uns«, erwiderte Anna, »sie braucht ja nur unserer Blutspur zu folgen.«

Sie irrten weiter durch das unwegsame Gelände. Der Mond glotzte sie wortlos an.

»Du kennst doch das Märchen von Hänsel und Gretel«, erzählte Felix. »Zu guter Letzt landete die böse Hexe im Ofen. Hänsel und Gretel finden den Weg nach Hause zurück. Weiße Kieselsteine haben wir leider nicht ausgelegt, aber wir finden bestimmt einen Weg aus diesem Irrgarten heraus. Bald wird es hell. Die Hexen und Geister scheuen das Tageslicht.«

Die Morgendämmerung kroch allmählich über den Horizont. »Das ist ja wie im Märchen!«, jubelte Felix. Auf einem Felsen nahe am Abgrund lag Annas Schuh. Mit einem Ast bugsierte er ihn vorsichtig zu sich heran. Anna war gerettet. Bald fanden sie wieder ihren Weg.

»Sieh doch, da drüben ist St. Peter«, rief Anna glücklich.

Ihre kleine Pension erreichten sie zur Frühstückszeit. Sie stärkten sich mit heißem Kaffee und einem deftigen Frühstück.

»Ich habe gestern Abend die Bergrettung alarmiert«, berichtete die besorgte Wirtin. »Sie wollten gerade mit der Suche beginnen. Gott sei Dank ist nichts Schlimmes passiert. Ich rufe sie gleich an.« Felix und Anna blickten voller Respekt zum Berg hinüber. Im Fenster baumelte eine Strohpuppe. Es war die Hexe Kandela.

Versunken, ertrunken

Das riesige Kreuzfahrtschiff erschien wie ein ungebetener Gast in dem winzigen Hafenbecken. Der wolkenkratzerhohe Koloss wartete im Hafen auf die gut gelaunten Gäste. Sie strömten zu Tausenden auf das Schiff. Freundliche Stewardessen begrüßten jeden Passagier.

Ein herrliches Büfett wartete schon auf die Touristen. Eine schöne Frau saß mir gegenüber. Bei einem Gläschen Champagner kamen wir miteinander ins Gespräch. Sie sei aus Neapel, erzählte sie mir, und hätte sich erst in letzter Minute für die Reise entschieden. »Es war nur noch eine Innenkabine frei«, erwähnte sie mit Bedauern. Nicht ganz ohne Hintergedanken schwärmte ich von meiner Außenkabine. »Sie können mich gerne besuchen.«

Schon wenig später bewunderte Alberta meine Luxuskabine. Auf dem geräumigen Balkon erfreuten wir uns an den letzten Sonnenstrahlen. Wie in einem Traum versank die Sonne langsam als großer roter Ball am Horizont.

Mit einem zarten Kuss streifte ich Albertas glühende Wangen. Im selben Moment erschütterte ein heftiger Schlag das Schiff. Ein fürchterliches Kratzen und Ächzen folgte. Das Licht flackerte, dann wurde es plötzlich stockdunkel.

Wir rannten durch die Gänge. Die Notbeleuchtung wies uns den Weg an Deck.

»Es ist nichts Schlimmes«, beruhigte uns eine Stewardess. »Der Strom ist ausgefallen. Gehen Sie ruhig in Ihre Kabinen zurück, es handelt sich nur um eine kleine technische Störung.« Doch wir hörten nicht auf sie. Regelrechte Menschenmassen strömten inzwischen an Deck. Aufgelöst irrten sie im geisterhaften Schein ihrer Smartphones umher.

Wir starrten in das gurgelnde Wasser. Das Schiff geriet in Schieflage. Ich krallte mich an die Reling, Alberta umklammerte mich. Panik brach aus. Ein Pulk sauste wie auf einer Rutschbahn schreiend auf die gegenüberliegende Seite des Schiffes. Die Besatzung hantierte unbeholfen an den Rettungsbooten herum. Endlich wurden sie zu Wasser gelassen.

»Alberta, sieh dir das an! Die Besatzung und der Kapitän flüchten vom Schiff.«

»Das kann ich nicht glauben«, rief sie. »Doch, da drüben. Der Kapitän sitzt schon im Rettungsboot. Ich erkenne ihn. Er hat uns doch vor ein paar Stunden an der Gangway freundlich begrüßt.« Uns blieb nicht viel Zeit, über die feige Flucht der Besatzung nachzudenken. Die Rettungsboote waren hoffnungslos überfüllt. Viele Passagiere warteten noch an Deck.

»Zum Greifen nah ist die Küste, doch wir kommen hier nicht weg. Los, wir springen hinunter und schwimmen hinüber«, rief ich Alberta zu. Mit dem Mut der Verzweiflung stürzten wir uns in das aufgewühlte Meer. Die Strömung trieb uns auf die tobende See hinaus. Die Lichter am Strand verschwanden hinter meterhohen Wellen. Wir schnappten nach Luft.

Hubschrauber dröhnten über unseren Köpfen. Grelles Scheinwerferlicht tanzte auf dem Wasser. Ein Helikopterpilot hatte uns entdeckt. Alberta konnte ein Rettungsseil ergreifen. Über mir tauchte ein weiteres Seil auf. Wie nasse Säcke wurden wir ans Ufer gehievt. Das Meerwasser triefte von uns herab.

Suchscheinwerfer vollführten weiter einen irren Tanz über dem Meer. Schreiende Menschen wurden von Helfern aus den Rettungsbooten gezerrt. Eine Mutter umklammerte ihr weinendes Kind. Noch immer landeten überfüllte Schlauchboote am Strand. Andere trieben noch hilflos im Meer. Menschen suchten verzweifelt nach ihren nächsten Angehörigen. Verloren hing der gekenterte Luxusliner im Wasser.

Ein Jahr später wurden wir zu einem Gedenktag eingeladen.

Das Geisterschiff hing noch immer wie ein Mahnmal schräg im Wasser. Alberta trug ein langes schwarzes Kleid. Zum Gedenken an die Toten hielt der Bürgermeister in der Kirche eine Ansprache.

»Es ist eine Schande«, rief ich dazwischen, »die Reederei hat noch keinen Cent an die Hinterbliebenen gezahlt. Sie wollte sogar das heutige Treffen verhindern. Die Schuldigen verstecken sich hinter allen möglichen Ausflüchten. Der Kapitän und die Besatzung sind vor einem Jahr Hals über Kopf vom Schiff geflohen. Sie sollten sich vor einem Gericht verantworten. Und heute, am Gedenktag, haben sich die Feiglinge auch noch versteckt!«

Menschen sprangen von ihren Bänken auf. Sie kochten vor Wut. Wie damals auf dem Schiff wirbelten sie wild durcheinander. Tumultartige Schreie schallten durch die Kirche. Die Gedenkfeier war vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte. Der Bürgermeister verließ resigniert das Rednerpult. Der Pfarrer versuchte die aufgebrachten Menschen zu beruhigen.

»Komm«, sagte Alberta, »wir gehen zum Friedhof hinüber. Dort werden wir der Toten gedenken.«

Hoppla

Ich weiß nicht, warum, doch plötzlich bin ich gestolpert. Wie vom Blitz getroffen stürzte ich vorwärts taumelnd auf die Treppe. Mein Gesicht war völlig demoliert. Meine Knochen konnte ich einzeln zählen. Ein Nachbar hörte meinen Schrei und rief die Nothilfe an. Ich wurde ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht.

Nach endlosem Warten wurde ich verarztet. Mit der eilig aufgetragenen Heilsalbe, die auch auf meinen Augenlidern landete, sah ich nur noch verschwommen, wie der Doktor und die Krankenschwester an mir herumhantierten. Mein geschundenes Gesicht wurde mit weißen Mullbinden umwickelt. Der Verband war bald von Blut und Schweiß durchtränkt.

Dann wurde ich auf den Gang geschoben. Es verstrich eine schier endlose Zeit. Ich wollte um Hilfe rufen, brachte aber nur ein heiseres Röcheln über meine Lippen. Gegenüber wollte sich ein Patient aus seinen Fesseln befreien. Er presste unentwegt seine Arme gegen die eng angelegten Gurte und stieß unverständliche Flüche aus. Hatte man uns einfach vergessen?

Endlich kam ein Pfleger. »Na, dann wollen wir mal, Herr Kolpert!«, rief er mir aufmunternd zu. Ich brachte keine Silbe über die Lippen. Dann schob er mich einen langen Korridor entlang.

Auf der nächsten Station wurde mir eine Pille in den Mund gepresst. Ich fiel im Handumdrehen in einen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen reichte mir ein freundlicher Herr im weißen Kittel ein Glas: »Trinken Sie das ruhig!« Mir brannten die Lippen. Mit zittrigen Händen schüttete ich den Saft hinunter.

»Wo ist der Untersuchungsbericht?«, fragte der Psychiater den Pfleger.

»Tut mir leid, Herr Doktor: Sie wissen doch: Seit der letzten Abbauwelle haben wir hier nur noch Stress.«

»Wie kam es zu dem Unfall?«, fragte mich der Arzt. »Ich bin unglücklich auf der Treppe gestürzt«, erwiderte ich mit heiserer Stimme.

»Aha, so kann man das natürlich auch nennen.« Er machte eine kurze Pause. »Man hat Sie leblos auf der Straße gefunden. Die Balkontür im dritten Stock war sperrangelweit offen. Hatten Sie Selbstmordabsichten?«

»Nein, ich bin nur dumm gestolpert.«

»Ist Ihnen gekündigt worden, hat Sie Ihre Frau verlassen, ist in Ihrer Familie plötzlich jemand gestorben, haben Sie in letzter Zeit Depressionen gehabt?«

»Tut mir leid, Herr Doktor, ich bin nur saublöd auf die Treppe gefallen.«

»Ach so. Hier ist ein Fragebogen. Können Sie schon wieder lesen und schreiben? Wir treffen uns nach der Visite zu einem persönlichen Gespräch.«

»Wo bin ich hier eigentlich gelandet?«, fragte ich den Doktor.

»Abteilung für Suizidale, Alkoholiker und Schizophrene, Station 2b«, gab er mir zur Antwort.

»Und warum?«

»Das klären wir später«, rief er mir schon davoneilend zu.

»Das ist ein raffinierter Dissimulant, ein sehr seltener Fall!«, erklärte er dem Pfleger. »Medikation: die üblichen Antidepressiva. Wir sollten ihn vor allem ruhigstellen. Am besten Sie bringen ihn in die geschlossene Abteilung.«

Eine schöne Bescherung, dachte ich mir: Ich bin in der Psychiatrie gelandet. So schnell es ging, lief ich zur nächsten Toilette. Der Pfleger bewachte die Tür.

Zum Hof ging es ziemlich weit hinunter. Ich war im dritten Stock. Zu meinem Glück war das Fenster nicht vergittert. Vorsichtig schob ich mich durch die Fensterluke. Die Feuerleiter erweckte keinen zuverlässigen Eindruck. Der weiße Bademantel reichte mir bis zu den Knöcheln, die Schlappen waren viel zu groß. Wenn ich jetzt noch mal stürze, dann ist alles vorbei. Eilig kletterte ich herunter und kam erleichtert unten an. Mit letzter Kraft schleppte ich mich in die Orthopädie zurück.

»Mein Gott«, rief die Schwester, »wie sehen Sie denn aus?«

»Ich war schon gestern Abend hier«, erwiderte ich.

»Ihr Name, bitte?«

»Volkert, vorne mit V, in der Mitte mit k.«

»Komisch«, murmelte sie, »ich hatte schon geglaubt, Sie wären der gesuchte Kolpert. Der ist gestern Abend spurlos verschwunden.«

Die Umsiedlung

In der Chronik von Ackershausen wird ein unerklärliches Unglück erwähnt:

Niemand sah das nahende Unheil kommen. Anfangs entstanden kleine, mauselochähnliche Löcher auf den Feldern und Wiesen. Man glaubte zunächst an eine Mäuseplage. Die Krater vergrößerten sich im Laufe der Zeit zu mannshohen Abgründen. Menschen stürzten nichts ahnend hinein. Der Dorfpfarrer warnte in seiner Predigt die Sünder: Die Tore zur Hölle hätten sich geöffnet. Die Menschen müssten Buße tun. Er sprach von tätiger Reue. Durch Besinnung und Gebete könnte man den Zorn Gottes noch abwenden oder wenigstens mildern. Ansonsten würde die Apokalypse bald über die gesamte Region hereinbrechen. Jeder müsste sich vor dem Jüngsten Gericht verantworten. Die Warnungen hätten sich in letzter Zeit gehäuft. Schon beim Turmbau zu Babel hätte Gott die Menschen vor ihrem Hochmut gewarnt. Seine gerechte Strafe ließ nicht mehr lange auf sich warten.

Andere glaubten wiederum, dass womöglich Außerirdische eine unterirdische Festung errichtet hätten. Mit gewaltigen Rammen würden sie das Erdreich erschüttern.

Der Dorflehrer meinte, es könnten auch gigantische Maulwürfe dahinterstecken. Eine genetische Veränderung der bisher harmlosen Spitzmaulwürfe käme infrage. Sie würden den Untergrund mit riesigen Schaufeln und Krallen blindlings durchwühlen. Auch die neu errichtete Molkerei kam als Übeltäter in Betracht. Der zuständige Bauingenieur und die Vertreter der Molkereigenossenschaft wurden von der Gemeindeverwaltung penibel befragt.

Fieberhaft suchte man nach den Gründen des Unglücks. Eine Zerstörung ohne Ursache konnte es nicht geben!

Immer neue Löcher und mächtige Krater entstanden im Laufe der Zeit. Die einst friedliche Landschaft wurde total verwüstet. Mittlerweile waren etliche Straßen unbefahrbar. Große Warnschilder wurden aufgestellt. Wie von Geisterhand stürzten über Nacht Häuser ein. Auch das Gemeindehaus blieb nicht verschont. Warnungen ergingen an alle Bewohner: Nach Anbruch der Dunkelheit sollten sie ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Das sei eine völlig unsinnige Maßnahme, meinte der Dorflehrer. Selbst die stabilsten Häuser würden keinen Schutz für Leib und Leben bieten.

Selten kommt ein Unglück allein: Das Grundwasser überschwemmte die Krater und das umliegende Land. Sämtliche Bewohner mussten vor den hereinbrechenden Wassermassen fliehen. Überall herrschte Chaos. Provisorische Zeltlager wurden in aller Eile errichtet. Das Vieh wurde auf höher gelegene Areale getrieben.

Eine neue Ortschaft sollte schleunigst errichtet werden. Ein riesiger Schutzwall könnte das neu errichtete Dorf vor den Naturgewalten schützen. In aller Eile wurden neue Häuser und Ställe errichtet. Die örtliche Zementfabrik war völlig überfordert.

Durch landesweite Anstrengungen fand das Vorhaben schließlich ein gutes Ende.

Die bedeutendsten Repräsentanten des Bezirks eilten zum Richtfest herbei. Das neue Wasserkraftwerk wurde ebenfalls eingeweiht. Der Pfarrer segnete sämtliche Häuser. Jeder Türbalken war mit den Initialen der Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland geschmückt:

C + M + B. Die Festredner lobten die Ingenieurskunst und den Eifer der Erbauer. »Nun endlich können wir wieder mit großer Freude und Zuversicht in die Zukunft blicken«, verkündete der Bürgermeister.

Kurze Zeit später ereigneten sich in anderen Orten weitere unerklärliche Erdeinbrüche. Wie das Ganze ausgegangen ist, wissen wir nicht. Die Chronik endet hier.

Die Räumung

»Das ist der beste Platz für unsere Panzer«, sagt Generalfeldmarschall v. Witzleben zu seinem Stabsoberfeldwebel Heinrich Häusler. Beide beugen sich über die Landkarte. »Sehen Sie, Häusler: freies Gelände, Wald, Wiesen und ein Sumpfgebiet. Das ist ein wunderbarer Truppenübungsplatz.«

»Aber was machen wir mit den Dorfbewohnern von Schnöggersburg?«, fragt der Feldwebel. »Ach was«, entgegnet der General, »die paar Bauern werden mit ihren Familien umgesiedelt. Das Dorf liegt weitab vom Schuss in der Heidelandschaft. Der sogenannte Luftkurort ist nicht mehr gefragt. Die meisten Dorfbewohner pendeln schon seit Jahren in die Stadt. Die Kinder werden kilometerweit zur Schule gekarrt. Es gibt hier weit und breit keinen Arzt und keinen Apotheker. Die Kirche ist baufällig. Der Pfarrer lässt sich hier nur noch alle Jubeljahre blicken. Meistens kommt er nur noch zum letzten Sakrament. Schnöggersburg ist ein verlorenes Nest. Versuchen Sie hier mal, mit dem Handy jemanden anzurufen! Sie haben keine Chance. Obendrein werden die Bauern finanziell entschädigt.« Er überlegt kurz. »Der Führungsstab braucht ein neues Gebäude und für die Rekruten müssen passable Unterkünfte gebaut werden. Die unbewohnten Häuser können wir für das militärische Training nutzen. Unsere Soldaten sollen in lebensnahen Situationen üben. Sie müssen vor allem im Nahkampf Erfahrungen sammeln, wenn sie in einem urbanen Ballungsraum eingesetzt werden müssen.«

»Tschuldigung, Herr General, es handelt sich um ein Dorf.«

»Mein lieber Häusler, das kriegen wir schon hin. Dann müssen eben noch ein paar Gebäude dazugezaubert werden. Für lebensnahe Gefechte brauchen wir eine städtische Kulisse, dazu eine Kanalisation als Übungsstrecke zum Robben. Außerdem fehlen noch eine U-Bahnstation und ein paar verwinkelte Gassen. Auf den Dächern müssen die Scharfschützen ein gutes Schussfeld bekommen. Mit anderen Worten: Wir verwandeln das Kaff in ein modernes Gefechtsübungszentrum. Bald werden hier Kampfwagen und Panzer durch die Heide rollen.« Der General tippt auf die Karte: »Und hier ist ein geeigneter Platz für unsere Kampfflugzeuge, mit einer Start- und-Landebahn.«

»Das kostet aber eine Stange Geld«, bemerkt der Feldwebel.

»Da haben Sie natürlich recht. Aber wir sind doch nicht von gestern. Mit der Salamitaktik kriegen wir das schon hin. Wir beantragen erst mal einen Truppenübungsplatz für unsere neuen Panzer. Die müssen im Gelände erprobt werden. Dann sehen wir weiter.«

Ich wollte noch ein letztes Mal meine Heimat sehen. Im Schutz der Dunkelheit kehrte ich in mein verlassenes Dorf zurück. Es war nicht mehr wiederzuerkennen: Verdreckte Straßenschilder hingen schief an den Behausungen. Durch die löchrigen Dächer pfiff der Wind ein schrilles Konzert. In einem vertrockneten Wasserbecken schimmelte die abgeblätterte blaue Farbe vor sich hin. Im Rhythmus des Windes schlugen die Türen gegen verrottete Türrahmen. Blinde Fenster starrten mich an. Verrostete Landmaschinen und Anhänger standen in den Schuppen herum. Einsam thronte die zerfallene Kirche neben dem Gemeindehaus. Ein muffiger Geruch kroch aus den Gemäuern. Die Uhr am Turm hatte ihre Zeiger verloren. Wildwachsende Sträucher überwucherten die Zäune. Ab und zu ragten Betonpfeiler aus dem grünen Dickicht. Die Bäume hatten sich schon auf den zerfallenen Dächern festgekrallt. Von Panzern zerfurchte Wege führten zum Truppenübungsplatz. Schießscharten waren ins Mauerwerk geschlagen; die Fenster waren verbarrikadiert. Eine militärische Leitstelle war in der Mitte des Dorfplatzes errichtet worden. Die Bänke um die alte Dorflinde herum waren zerfallen.

Plötzlich hörte ich Stimmengewirr. Ich erinnerte mich an die Warnschilder am Rand des Truppenübungsplatzes: Militärischer Sperrbezirk! Das Betreten des Geländes ist strengstens verboten! Achtung! Schusswaffengebrauch!

Auf Schleichwegen lief ich schleunigst zurück. Meine Neugier wich der Enttäuschung. Die Sehnsucht nach meiner alten Heimat war endgültig zerstört.

Streit in Hopfenhausen

In Hopfenhausen gedeihen weder Bäume noch Sträucher, selbst die Blumen sind verdorrt. Ergraute Blätter hängen von den Bäumen herab. Im Frühjahr zeigt sich kein saftiges Grün. Die Vögel sind geflüchtet. Nur Krähen und Tauben halten es in Hopfenhausen noch aus. Neulich sind sogar Geier gesichtet worden. »Früher hat man sich auf die Jahreszeiten noch verlassen können, jetzt ist alles durcheinander«, klagen die Bewohner. »Liegt das Sterben der Natur an den langen Trockenperioden oder, schlimmer noch, am Klimawandel?« Allgemeine Ratlosigkeit macht sich in Hopfenhausen breit.

Der Bierpreis ist gesenkt worden, um die Männer bei Laune zu halten. Während die Kneipen florieren, haben zahlreiche Geschäfte von heute auf morgen Konkurs angemeldet. Auch die Geburtenrate ist rapide gesunken. Die Ratten vermehren sich ohne Pause und laufen ohne Scheu selbst am helllichten Tag durch die Straßen. Die Kinder leiden unter Atembeschwerden. Ein Leichentuch hat sich über den Ort gelegt. Die Bewohner von Hopfenhausen verlieren ihren Lebensmut.

Der Stadtrat hat in aller Eile eine Begrünungs- und Naturschutzverordnung erlassen. Dieselfahrverbote und drastische Geschwindigkeitskontrollen sollen die Luftverschmutzung reduzieren. Alte Hochöfen werden verschrottet. Der geschundenen Flora soll sauberes Wasser zugutekommen. Doch die Biomasse hat sich gegen alle Maßnahmen verschworen: Bäume und Pflanzen verfaulen schon an den Wurzeln. Ein durchdringender Verwesungsgeruch breitet sich in der Stadt aus. Selbst mit gutem Willen ist der bockigen Natur nicht auf die Beine zu helfen. Die Bienen streiken. Sie versorgen sich inzwischen aus der nahe gelegenen Zuckerrübenfabrik.

Neu eingeführte Gewächse gehen bald wieder zugrunde. Der Bepflanzungsplan scheitert schon nach wenigen Wochen. Nichts hilft. Dem Siechtum ist nichts entgegenzusetzen.