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Karin Bucha Classic
– 46 –

Alle Kinder brauchen Liebe

Karin Bucha

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-810-6

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»Komm, Gabriela!« Magdalene Winter, die Frau des Pfarrers, legt den Arm um das zwölfjährige Mädchen und führt es in den Wohnraum.

Am Fenster läßt Magdalene sich nieder und zieht Gabriela auf ihren Schoß. Sie sieht die vom Weinen dickverquollenen Augen. Sie spürt das Zittern des Körpers und fühlt die eiskalten Hände.

Gabriela schmiegt sich willig in die Arme der mütterlichen Frau. Sie ist verstört, sie kommt Magdalene wie ein schwankendes Rohr im Winde vor, und tiefes Mitleid mit dem Kind erfaßt sie. Gabriela ist ein kluges und sehr empfindsames Kind und sehr verwöhnt mit Liebe. Und die Frau, die ihr Kind mit Liebe erzogen hat, liegt nebenan im Schulzimmer. Man hat ihr ein schlichtes Lager bereitet. Den Prunk hat man durch Blumen ersetzt. Das Schulzimmer haben hilfsbereite Hände ausgeräumt. Dort, wo Henny Wattenberg zwölf Jahre lang ihres Amtes als Lehrerin gewaltet hat, hat man sie zum letzten Schlaf gebettet.

»Mutti!« wimmert Gabriela auf und fester schließen sich Magdalenes Arme um das weinende Kind.

»Bald wird deine Tante kommen und sie wird dich mitnehmen. Du wirst in einem großen Haus wohnen und von Reichtum umgeben sein.«

Gabrielas Kopf zuckt empor. Ihre tränengefüllten Augen funkeln.

»Ich kenne diese Tante nicht. Und ich will auch nicht weg von hier, Tante Magdalene, kannst du mich nicht bei dir behalten?«

Magdalenes Herz zieht sich zusammen. Wie gern würde sie Gabriela bei sich behalten. Sie liebt das Kind. Aber Henny Wattenberg hat es anders bestimmt, und dagegen ist sie machtlos.

Sie seufzt. »Leider geht das nicht, mein Liebling. Deine Mutti hat anders über dich bestimmt, und dem müssen wir uns fügen.«

Gabrielas Kopf sinkt wieder gegen Magdalenes Schulter.

So recht begreifen, was ein grausames Schicksal ihr genommen hat, kann sie wohl nicht. Oder ahnt sie, daß ihr weiteres Leben in ganz anderen Bahnen verlaufen wird?

»Du kannst ja in den Ferien zu uns kommen, Liebes. Wir werden uns immer auf dich freuen, hörst du, Gabriela?«

Das Kind ist blind und taub gegen jeden Zuspruch und Trost. Auch Magdalene verstummt. Sie wiegt den zierlichen Kinderkörper in ihren Armen und ist verzweifelt über ihre Hilflosigkeit.

Draußen fährt ein Wagen vor. Magdalene blickt durch das Fenster und den Weg bis zum Gartentor entlang. Rechts und links des Weges blühen Blumen in allen Farben und in großer Fülle. Auch darin hatte Henny Wattenberg eine glückliche Hand, wie in allem, was sie anfaßte.

Es ist ein schwerer chromblitzender Mercedes, dem eine hochgewachsene blonde Frau entsteigt und zögernd auf das Haus zukommt.

»Deine Tante ist da«, reißt Magdalene das Kind aus ihrem Schmerz. Noch fester preßt Gabriela den Kopf an Magdalenes Schulter. »Ich will sie nicht sehen, Tante Magdalene, ich will nicht mit ihr gehen.«

»Sei vernünftig, Kind. Du warst es doch immer.« Viel zu vernünftig für ein Kind, setzt sie in Gedanken hinzu. Sie gleitet aus dem Stuhl und zieht Gabriela mit sich. Vor der Haus-tür des Schulhauses, das auch Henny Wattenbergs Heim war, empfängt sie die Frau. Immer noch hält sie den Arm wie schützend um Gabriela.

»Ich bin Magdalene Winter«, beginnt sie, irritiert durch den Blick der kalten blauen Augen, die sie unverwandt anstarren. »Und Sie sind sicher Stefanie Tunker.«

Die Fremde macht eine unwillige Kopfbewegung. »Mein Name ist Melanie Mohr. Ich bin die Hausdame Stefanie Tunkers und gekommen, um das Kind abzuholen. Meine Herrin ist seit einigen Jahren gelähmt.«

Betroffenes Schweigen herrscht. Magdalene weiß nichts mit der eleganten, selbstbewußten Frau anzufangen. Sie überlegt nur fieberhaft, wo sie sie unterbringen soll. Ob sie ihr das Gastzimmer ihres Hauses anbietet.

Melanie Mohr windet ihr die Entscheidung aus der Hand.

»Sind die Sachen des Kindes gepackt? Meine Zeit ist kurz bemessen. Stefanie Tunker erwartet mich heute noch zurück.«

»Aber – aber –« Magdalenes Lippen zittern. »Das geht doch nicht –«

Die Brauen der Frau ziehen sich erstaunt empor.

»Das geht nicht? Warum, bitte?«

Magdalene Winter, die Pfarrersfrau, fühlt heftige Abneigung in sich aufsteigen.

»Warum?« Ihre sanfte Stimme hat einen scharfen Klang angenommen, während Gabriela die blonde Frau feindselig anstarrt. »Weil Gabriela morgen ihrer Mutter die letzte Ehre erweisen wird. Wollen Sie Frau Wattenberg sehen? Bitte!«

Sie öffnet weit die Tür. Heftiger Widerwille huscht über die Züge Melanies. Wortlos tritt sie ein.

Eine Menge Dorfbewohner füllen den Raum, betäubender Blumenduft liegt in der Luft. Abseits steht Bürgermeister Wagner mit seiner Frau und neben ihm der Pfarrer. Am Fenster steht ein Ehepaar, einen achtjährigen Jungen zwischen sich. Die Wangen der Frau sind mit Tränen überschwemmt. Sie kann es immer noch nicht fassen, daß Henny Wattenberg sich vor den Wagen warf, um ihren Einzigen, den Christian zu retten und dafür ihr Leben einsetzte. Ihr Herz ist bis zum Überquellen mit Dankbarkeit gefüllt.

Alle sind sie gekommen, um von der verehrten und geliebten Lehrerin Abschied zu nehmen. Und die keinen Platz in dem Raum gefunden haben, standen draußen, vor dem Eingang zum Schulzimmer.

Nur drei Schritte hat Melanie Mohr in das Zimmer getan, und schon glaubt sie, ersticken zu müssen, von der Wärme, die die Kerzen ausstrahlen und von dem Blumenduft, der das Zimmer erfüllt.

Und noch etwas wird ihr bewußt. Die Frau, die Stefanie Tunkers Schwester war, und die sich in diese Einsamkeit zurückgezogen hat, ist keineswegs eine verkommene Frau gewesen, sondern geachtet und noch mehr geliebt.

Den Haß, den Stefanie Tunker in ihr großgezogen, überträgt sie im selben Augenblick auf Gabriela, die Nichte Stefanies. Hätte sie Henny Wattenberg in Verkommenheit angetroffen, wie sie es sich hundertmal ausgemalt haben mag, vielleicht wäre sie Gabriela gegenüber voller Nachsicht.

Abrupt drehte sie sich um und geht. Keiner hat sie beachtet, keiner ihr einen Blick geschenkt. Das wurmt sie und macht sie noch kälter als sie schon ist.

Magdalene folgt ihr. Gabriela hält sie an der Hand. Im Wohnzimmer stehen sie sich wieder gegenüber.

»Es tut mir leid«, beginnt Melanie kühl. »Ich muß darauf bestehen, Gabriela sofort mitzunehmen. Richten Sie bitte die Sachen des Kindes.«

Gabriela hat keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht. Sie tritt auf Melanie zu, unerschrocken, von Verzweiflung getrieben.

»Ich gehe nicht mit Ihnen«, sagt sie fest und entschlossen.

Melanies Lippen verziehen sich verächtlich.

»Frau Wattenberg hat ihr Kind sehr gut erzogen, das kann man wohl sagen.«

Hilflos steht Magdalene zwischen Gabriela und der Frau, die das Kind mitnehmen will.

»Gabriela ist ein sehr gut erzogenes Kind –«

»Aber aufsässig«, wirft die Besucherin schnell ein.

»Auch das ist Gabriela nicht«, verteidigt Magdalene das Kind und zieht es zu sich heran. »Haben Sie denn kein Verständnis für ein Kinderherz? Soeben hat Gabriela die Mutter verloren. Sie liebten sich innig, und nun kommen Sie und wollen Gabriela von einer Stunde zur anderen hier herausreißen? Ich verstehe Sie nicht.«

»Von Ihnen verlange ich kein Verständnis – nur das Kind«, kommt es hochmütig von den Lippen Melanies. »Es wäre mir lieb, wenn Sie sich etwas beeilen würden. Wie schon bemerkt, ist meine Zeit bemessen.«

»Aber – aber, Gabriela muß sich doch wenigstens von ihren Freunden verabschieden können«, wirft Magdalene ein. Melanie schneidet ihr mit einer Handbewegung die Rede ab.

»Das kann Gabriela schriftlich machen.«

Gabriela reißt sich von Magdalenes Hand los und stürmt in das Schulzimmer zurück. Neben dem letzten Lager der geliebten Mutter sinkt sie in die Knie. Sie weint und schluchzt.

»Mutti! Mutti! Nimm du mich mit, nimm mich mit –«

Man hebt Gabriela vom Boden auf. Schluchzend, zitternd klammert sie sich an Pfarrer Winter, der ihr sanft über das tiefschwarze Haar streicht.

»Was ist denn los, Gabriela. Warum dieser Verzweiflungsausbruch?«

Man ist von den beiden zurückgetreten. Weinend blickt man auf Gabrie-la, deren Hilferuf noch in der Luft zu schweben scheint.

»Sie will mich mitnehmen, jetzt, sofort«, stößt Gabriela bebend hervor. »Onkel Winter, laß es nicht zu, bitte, bitte!«

Er sieht sich im Kreise um, gewahrt verstörte Gesichter und geht mit dem Kind hinaus.

Es gibt einen harten Kampf zwischen dem Pfarrer und Melanie Mohr. Letztere bleibt jedoch Siegerin. Mit großem Zorn und tiefem Kummer packt Magdalene in Gabrielas Stübchen, das Henny mit so viel Liebe und Sorgfalt eingerichtet hat, die Koffer. In den zweiten, kleineren legt sie soeben ein Bild Henny Wattenbergs obenauf, als Melanie in der Tür steht.

»Noch nicht fertig?« fragt sie scharf und wirft kaum einen Blick auf die reizende Einrichtung des Zimmers, die zwar nicht besonders wertvoll ist, aber jedes Stück zeigt von Henny Wattenbergs Geschmack und ihrer großen Liebe zu ihrem Kind.

Magdalene antwortet nicht. Die Frau ist ihr aus tiefster Seele zuwider. Sie wendet sich auch nicht um, weil sie ihre Tränen nicht sehen lassen will.

Nahe dem Fenster, auf einem mit buntem Stoff bezogenen Hocker sitzt Gabriela mit tränenblitzenden Augen.

Die sanfte Magdalene knallt den Deckel auf den Koffer und schließt ihn rasch.

»Komm, Gabriela«, fordert sie das Mädchen auf, und sofort erhebt es sich.

»Wohin?« fragt Melanie. »Wir müssen losfahren und dürfen keine unnütze Zeit vertrödeln.«

Magdalene schiebt die blonde Frau zur Seite.

»Unnütze Zeit vertrödeln nennen Sie es, wenn Gabriela sich von ihrer Mutter verabschieden will?«

Ein Achselzucken ist die Antwort.

Was jetzt kommt, Gabrielas Abschied von der toten Mutter, von der sie bisher nicht eine Stunde getrennt war, ist das grausamste, was Magdalene Winter in ihrem Leben mit ansehen mußte. Gabrielas Hilfeschrei wird sie bis ans Ende ihrer Tage verfolgen.

Schließlich hebt sie Gabriela mit sanfter Gewalt vom Boden auf.

»Gabriela, wir sind ja auch noch da, und wir lieben dich alle, so wie wir deine Mutti geliebt haben. Aber deine Mutti hat es gewollt, und so mußt du dich fügen. Sei lieb, Gabriela, komm mit. Beruhige dich, mein Herz, du wirst sonst wirklich noch krank.«

Gehorsam erhebt Gabriela sich. »Ich wollte, ich würde krank und sterben, Tante Magdalene.«

»Kind, versündige dich nicht.« Sie nimmt das schmale tränenfeuchte Gesicht Gabrielas in ihre Hände. »So etwas darfst du nicht einmal denken, Kind.« Sie trocknet mit ihrem Taschentuch dem Kind das Gesicht. »Sicher ist deine Tante Stefanie ein lieber Mensch, und du wirst dich an sie und an die neuen Verhältnisse gewöhnen.«

Leidenschaftlich umarmt Gabriela die Frau, die ihr neben ihrer Mutter der liebste Mensch war.

»Ich will es versuchen, Mutti und dir zuliebe«, flüstert Gabriela an Magdalenas Hals und reißt sich dann los.

Als sie nach Melanie Mohr in den Wagen steigt, ist sie zwar todblaß, aber ihr hartes Gesichtchen ist verschlossen, und sie scheint um Jahre gereift.

»Fahren Sie los, Arnold«, befielt Melanie dem Chauffeur, aber da zwängt sich ein Junge heran. Es ist Christian, dem Henny Wattenberg das Leben gerettet hat.

»Hier, Gabriela«, raunt er ihr geheimnisvoll zu. »Nimm meine Schildkröte. Ich will dir eine Freude machen, und du sollst immer an mich denken und wissen, wie dankbar ich deiner Mutter bin, ohne die ich

jetzt –«

»Tritt zurück«, herrscht Melanie den verblüfften Jungen an. Der Wagen heult auf und Christian springt zurück. Gabriela sieht sein trauriges Gesicht wie durch einen Nebelschleier. Sie preßt den Karton mit Christians Geschenk an sich.

»Sofort wirfst du das aus dem Wagen«, befiehlt Melanie, aber Gabriela schüttelt heftig den Kopf.

»Niemals«, sagt sie leise, aber entschieden. »Christian hat sich nie von ihr getrennt. Sie können ja gar nicht wissen, was er mir für ein Geschenk damit gemacht hat. Seine Schildkröte liebte er über alles.«

»Firlefanz«, erwidert Melanie Mohr verächtlich und lehnt sich bequem zurück. »Deine Tante wird das Tier bestimmt nicht in ihrem Hause dulden.«

Darauf herrscht Stille. Der Wagen braust durch den Ort. Gabriela sieht nicht die Menschen, die ihr zuwinken. Tränen verdunkeln ihren Blick, aber Christians Geschenk hält sie fest an sich gepreßt.

*

»Ach, Berthold.« Magdalene Winter sinkt neben den Gatten auf die Bank vor dem Pfarrhaus. »Wir hätten Gabriela nicht so schnell mitgeben sollen.«

Winter legt den Arm um seine Frau. Er sieht sehr bekümmert aus.

»Jetzt frage ich mich auch, warum ich nicht energischer aufgetreten bin«, gibt er bedrückt zu. »Gegen diese Frau kam ich einfach nicht zu Worte. Und dann vergiß nicht, Henny hat es so gewollt. Ihre Schwester lebt in Überfluß –«

»Wovon eigentlich Henny die Hälfte gehörte«, wirft Magdalene hastig ein. Sie legt die Hände im Schoß zusammen und blickt nachdenklich über den Garten und über die in vol-ler Blüte stehenden Rosen. »Hier auf dieser Bank hat es begonnen, Berthold. Ich weiß es noch, als sei es gestern gewesen. Ich fand, als ich aus dem Haus trat, eine zierliche Frau auf der Bank vor. Sie war von großer Erschöpfung gezeichnet und dicke Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Den Kopf mit dem tiefschwar-zen Haar hatte sie gegen die Hauswand gelehnt. Ich sah, daß sie in gesegneten Umständen war. Ich rief sie an. Sie wollte sich erheben, aber sie sank ohnmächtig zurück. Alles, was erreichbar war, brachte ich auf die Beine. Gemeinsam trugen wir die Fremde ins Gastzimmer. Drei Tage lang kämpfte Doktor Wagner um dieses junge Leben, und sie war blutjung, diese Henny Wattenberg. Vom ersten Augenblick an, da sie die großen tiefblauen Augen aufschlug, begann ich sie zu lieben Sie war mir wie eine Schwester. Drei Tage lang war ich nicht aus den Kleidern gekommen und war glücklich, als sie mich ansah, fragend, erstaunt und ich ihr lächelnd ihr neugeborenes Mäd-chen in den Arm legen konnte. Da weinte sie bitterlich. Ich konnte ihren Tränenstrom kaum noch zum Versiegen bringen. Das war vor zwölf Jahren, vor zwölf Jahren, als Gabriela in unserem Haus geboren wurde.«

Magdalene schweigt eine Weile. Die Erinnerungen überwältigen sie, und sie tun weh, sehr weh, weil sie nur Erinnerungen bleiben werden. Sie schluckt einmal heftig und fährt dann leise fort:

»Nie werde ich einen Ausspruch Henny Wattenbergs vergessen, den sie viel später tat, als sie bereits das kleine Schulhaus bezogen hatte und ich die junge Lehrerin fragte, wie sie es nur fertigbrächte, auch die bekanntesten Rüpel im Ort zu bekehren.

Henny Wattenberg hatte ein Lä-cheln um seinen feingezeichneten Mund, das sich noch mehr vertiefte, als sie hinüber zu der kleinen Gabriela sah.

»Alle Kinder brauchen Liebe, Magdalene. Man kann nicht genug Liebe in die jungen Menschenherzen pflanzen!«

Immer wieder irren Magdalenes Gedanken zurück in die Vergangenheit. Sie sieht den Gatten wie um Entschuldigung bittend an.

»Das war der Zauber, mit dem sie sich die Kinderherzen eroberte.«

Sie beginnt, unvermittelt wieder zu weinen. »Und nun haben wir Gabriela fortgeben müssen, auf Hennys ausdrücklichen Wunsch. Glaubst du, daß Gabriela auch Liebe finden wird, die sie so sehr nötig hat?«

»Doch, Magdalena, das glaube ich.« Sie sieht ihn ungläubig an, als fehle seinen Worten die Überzeugung.

»Oder – willst du es glauben, Berthold?« forschte sie.

»Ich glaube es, Magdalene. Wer sollte es fertigbringen, diesem empfindsamen, zärtlichen Mädchen mit Kälte zu begegnen?«

»Verzeih, Berthold, seitdem ich in die eiskalten Augen der Hausdame geblickt habe, habe ich Angst um Gabriela.«

»Beruhige dich, Magdalena.« Er nimmt die Hand von ihrer Schulter und legt sie auf ihre im Schoß gefalteten Hände. »Man wird es uns bestimmt nicht verwehren, Gabriela zu besuchen.«

Magdalene nickt dankbar. Sie seufzt, bewegt die Lippen, als wolle sie noch etwas sagen, unterläßt es jedoch.

»Nun, meine Liebe, was wolltest du noch sagen? Bedrückt dich etwas?«

»Wenn man doch wüßte, ob Egon Wattenberg, Gabrielas Vater, noch lebte. Man könnte ihn doch benachrichtigen?«

Ungläubig schüttelt Winter den Kopf.

»Wenn er noch lebte, hätte er sich in den vergangenen zwölf Jahren doch einmal melden müssen. Meinst du nicht auch? Er wird wohl gestorben sein in einem fremden Land. Er hätte sich sonst seiner jungen Frau erinnern müssen. Sie hat ihm ja nicht einmal die Geburt Gabrielas mitteilen können, eben weil sie seinen Aufenthalt nicht wußte.«

Gedankenverloren blickt Magdalena vor sich hin. »Viel hat Henny nicht über persönliche Dinge gesprochen. Aber manchmal hatte sie doch das Bedürfnis, sich mir gegenüber das Herz freizusprechen. Sie hatte für ihren Mann nur gute Worte des Verständnisses, obgleich sie seinetwegen das Elternhaus aufgab.

Er muß Henny förmlich angebetet und sehr geliebt haben, und sie folgte ihm voller Vertrauen. Als er sie sei-nerzeit verließ, um wichtige Familienangelegenheiten zu regeln, hat er ihr fast alles Geld zurückgelassen, und sie mußte ihm versprechen, falls er nicht wieder zurückkommen sollte, in ihr Elternhaus zurückzukehren. Dort sei sie geschützt. Damals wußte Henny noch nicht, daß sie ein Kind unter dem Herzen trug.

Zunächst wandte sie sich schriftlich an ihren Vater und versuchte seine Verzeihung zu erlangen. Nun – er tat es nicht. Voller Scham floh Henny aus der Stadt, und als sie merkte, daß ihre schwere Stunde kam, hatte sie unser Haus erreicht.«

Die Frau beugt sich etwas vor und macht eine weitausholende Handbewegung über den Garten hin.

»Weißt du noch, Berthold, wie sie versuchte, sich bei uns nützlich zu machen? Bei den Blumen fing sie an, und alles gedieh unter ihren Händen prächtig.«

»Ja, und dann starb die alte Lehrerin und der Bürgermeister stellte sie dem Gemeinderat als die neue Lehrerin vor. Und alle waren begeistert von seinem Vorschlag.«

»Und nun –?« Magdalenes Stimme erstickt in Schluchzen.

»Sei ruhig, Magdalene, und laß die Erinnerungen sein. Henny ist wie eine Heldin gestorben. Es gäbe keinen Herrgott im Himmel, sollte ausgerechnet Hennys Kind von den Menschen Leid geschehen.«

Und doch, Gabriela soll noch durch tiefes Herzeleid gehen. Herzeleid, das ihr aus vielerlei Motiven von den Menschen zugefügt wird.

*

Der schwarze Mercedes durchfährt ein weitgeöffnetes Tor, braust die breite Auffahrt hinauf und rollt vor dem säulengetragenen Portal aus.

Arnold, Chauffeur des Hauses Tunker, schwinkt sich hinter dem Lenkrad hervor und öffnet den Schlag. Ohne Arnolds Hand zu nehmen steigt Melanie Mohr aus. Gabriela lehnt noch in der Ecke. Durch das Fenster betrachtet sie das einstöckige, langgestreckte Landhaus, dessen hellen Anstrich, die tiefen Fenster, die bis auf den Boden reichen und von denen einige als Türen auf die weite Terrasse münden, mit Erstaunen. Sie glaubt, noch nie ein so schönes Haus gesehen zu haben. Und darin soll sie in Zukunft wohnen.

Zögernd steigt sie aus. Weiter gleiten ihre Augen, über den sehr gepflegten Park, über die Blumenrabatten, die süßen Duft verbreiten.

»Gabriela!« Der Ruf peitscht förmlich durch die Luft und reißt Gabriela herum.

Gabriela steht hölzern da. Die Stimme der blonden Frau ist ihr wie ein Schreck in die Glieder gefahren.