Cover

ANNABELLE COSTA

DER TRAUZEUGE – LIEBE UND ANDERE HANDICAPS

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Kersten

Die englische Ausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Best Man« bei Rose Bud Press.

 

 

Deutsche Erstausgabe Juni 2020

 

 

© der Originalausgabe 2017: Annabelle Costa

© für die deutschsprachige Ausgabe 2020:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer

Umschlagmotiv: www.depositphotos.com

 

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Kersten

Lektorat: Anja Lerz

Korrektorat: Julia Funcke, Sonja Glück

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

 

ISBN 978-3-948457-09-9

 

www.www.second-chances-verlag.de

 

Über das Buch

Kirby Matthews ist glücklich. Nach einjähriger Fernbeziehung hat ihr Freund Ted ihr überraschend einen Antrag gemacht. Mit Feuereifer plant Kirby die Hochzeit – bis sie Teds Trauzeugen John kennenlernt. Johns Sarkasmus ist gewöhnungsbedürftig, ebenso wie die Tatsache, dass er im Rollstuhl sitzt und deshalb andere Menschen emotional auf Abstand hält. Doch da Ted kaum Zeit dafür hat, Kirby bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen, springt John für ihn ein. Dabei stellt sie fest, dass sie eine Menge gemeinsam haben und sie noch nie jemanden getroffen hat, der sie so gut versteht. Und während der Hochzeitstermin immer näher rückt, muss Kirby sich fragen, ob der Mann, den sie heiraten will, wirklich der richtige ist …

Über die Autorin

Neben ihrem Beruf als Physiotherapeutin schreibt und liest Annabelle Costa leidenschaftlich gerne Chick-Lit. Sie hat eine Schwäche für den britischen Akzent und für Filme der Achtziger, die sie in Gesprächen mit ihren Freunden häufig zitiert. Im Auto und unter der Dusche singt sie gern laut, aber leider auch falsch zu Popmusik. Außerdem liebt sie Cupcakes und isst vermutlich viel zu viele.

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Über die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Epilog

Kirby

Epilog

John

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Danksagung

PROLOG

KIRBY

Seit zwanzig Minuten verstecke ich mich auf der Toilette. Auf einer Hochzeit.

Warum sich eine erwachsene Frau in einer Kabine einsperrt und mit angezogenen Beinen auf den Spülkasten setzt, damit keiner sie entdeckt? Ehrlich gesagt frage ich mich das selbst gerade auch.

Dabei hat alles so harmlos angefangen. Bis vorhin war die Hochzeit meiner Freundin Brianna eigentlich ganz in Ordnung. Die Trauung war kurz und herzerwärmend, und der Lachs, den ich zum Hauptgang bestellt hatte, einfach göttlich. Viel essen konnte ich zwar nicht, weil ich den Reißverschluss meines Brautjungfernkleids heute Morgen gerade so eben zubekommen habe – dabei ist die letzte Anprobe erst ein paar Monate her. Kuchen steht also gar nicht erst zur Debatte.

Doch dann gingen die Kommentare los:

»Kirby, ich bin mir sicher, dass du die Nächste bist.«

»Kopf hoch, Kirby. Du musst deinem Freund nur endlich mal die Pistole auf die Brust setzen.«

»Oh, Kirby, ich glaube, dir ist eine Naht gerissen.«

Ich habe alles mit einem Lächeln hingenommen. Vor dieser Hochzeit habe ich noch geglaubt, es macht mir nichts aus, dass die meisten meiner Freundinnen inzwischen verheiratet oder zumindest verlobt sind. Es macht mir nichts aus, dass ich fast dreißig bin und immer noch keinen Ring am Finger trage. Ich mag es locker, und ich mag meine Freiheit.

Aber als das Brautstraußwerfen angekündigt wurde, bin ich auf die Toilette geflüchtet.

Ich will nicht eine dieser bemitleidenswerten, unverheirateten Frauen sein, die in der ersten Reihe stehen und enthusiastisch den Brautstrauß fangen – immer in der Hoffnung, dass sie als Nächstes an der Reihe sind. Das ist entwürdigend. Und ich habe das schon so oft mitgemacht, dass ich es inzwischen nicht mehr zählen kann. Schluss damit.

Erst habe ich mein Make-up im Spiegel überprüft. Doch dann habe ich jemanden kommen hören und mich hastig in einer Kabine verkrochen. Wo ich geblieben bin. Und mich bis jetzt verstecke.

Ich hole mein Handy heraus. Klar könnte es ins Klo fallen, aber was soll’s, pass ich eben auf – ich langweile mich zu Tode. Nicht viel los in so einer Toilettenkabine.

Ich entdecke eine Textnachricht von meinem Freund Ted: Hast du Spaß auf der Hochzeit?

Mein Freund, Ted Foster, konnte mich leider nicht begleiten. Er kann zu vielem nicht mitkommen, weil er im Silicon Valley in Kalifornien lebt. Ich wohne in Jersey City, weiter weg kann man in den USA also kaum voneinander leben. Ich such mir schon immer die Richtigen aus.

Wir haben uns auf Facebook kennengelernt. Ich weiß – voll im Digitaltrend und so, aber es ist wirklich eine süße Geschichte. Ted ist der Freund eines Freundes und hat jede Woche diese lustigen Comics gepostet. Irgendwann habe ich sie regelmäßig geliket und Kommentare hinterlassen. Und dann postete er plötzlich einen Comic mit der Überschrift: »Nur für Kirby.«

Daraufhin habe ich mir seine Fotos angeschaut. Ted Foster ist absolut heiß. Wuschelige, blonde Haare, strahlend blaue Augen und eine gleichmäßige, perfekte Sonnenbräune, die man hier in Jersey unmöglich bekommen kann. Hier hat man nur die Wahl zwischen Sonnenbrand oder geisterhafter Blässe. Ich tendiere eher zu Letzterem – ich habe helle Haut, auf der sich beim ersten Sonnenstrahl sofort Sommersprossen zeigen.

Ted und ich haben dann gechattet. Über Nebensächlichkeiten, aber Ted stammt ursprünglich aus Jersey, also hat er vorgeschlagen, dass wir uns treffen, als er einen Monat später auf Heimatbesuch bei seinen Eltern war. Dabei hat es dann auch sofort gefunkt. Während der kompletten Woche konnten wir kaum die Finger voneinander lassen.

Das ist jetzt ein Jahr her. Ich bin verrückt nach Ted, wirklich. Er kommt her, wann immer er kann, und ich war schon ein paarmal im Silicon Valley, aber die Entfernung macht es uns echt schwer. Es ist hart, dass er mich nie begleiten kann, wenn ich mit Freunden ausgehe, weshalb ich immer allein unter Paaren bin, und inzwischen scheinen so ziemlich alle meine Freunde verbandelt zu sein. Es ist auch hart, dass ich auch immer allein auf Hochzeiten gehen muss. Und ich sehe Ted öfter auf einem Bildschirm als im echten Leben. Das alles macht mir zu schaffen.

Ted sieht das genauso. Als wir uns vor ein paar Tagen darüber unterhalten haben, hat er erwähnt, dass einer seiner besten Freunde seiner Partnerin einen Antrag gemacht hat.

»Wir waren alle zusammen feiern«, meinte Ted. »Ich hab dich so vermisst. Ich war der Einzige in der Gruppe, der allein da war.«

»Tut mir leid«, erwiderte ich und wünschte mir ebenso, dass ich hätte dabei sein können.

»Es ist nicht deine Schuld – die ganze Situation ist blöd.« Ich konnte den Frust in seiner Stimme hören, und die Botschaft war angekommen. Ted ist ein wirklich toller Mann, und es mangelt ihm auch sicher nicht an Dating-Gelegenheiten in seiner Nähe. Wir haben viel Spaß miteinander, aber als Seelenverwandte habe ich uns nie empfunden. Ich kann das Ende unserer Beziehung förmlich riechen und habe mich bereits damit abgefunden.

Ich schaue auf Teds Nachricht und überlege, was ich darauf antworten soll. Wenn ich ehrlich bin, müsste ich ihm gestehen, dass ich hier keinen großen Spaß habe. Allerdings kann ich ihm auch schlecht erzählen, dass ich mich auf der Toilette verstecke. Könnte ein bisschen durchgeknallt wirken.

Schließlich tippe ich: Ist ganz nett. Ich wünschte, du wärst hier.

Er schreibt sofort zurück: Ich auch.

Das bringt mich zum Lächeln. Wie schön wäre es, wenn Ted hier in der Gegend leben würde. Das würde alles ändern. Wenn Ted hier wäre, würde ich mich ganz sicher nicht auf der Toilette verkriechen.

»Kirby?«

Ich hole tief Luft, als ich die Stimme meiner Freundin Mandy höre. Oh mein Gott, bin ich etwa schon so lange weg, dass sie einen Suchtrupp losgeschickt haben?

»Kirby, bist du da drin?«

Ich starre auf die Kabinentür. Irgendwann wird sie merken, dass ich drin bin, und je länger ich so tue, als wäre ich nicht da, desto peinlicher wird es für mich. Außerdem sollte das Brautstraußwerfen inzwischen längst vorbei sein. Bestimmt kann ich mich jetzt wieder nach draußen wagen.

Ich schließe die Tür auf und trete aus der Kabine, als hätte ich das ohnehin gerade vorgehabt. Mandy hat sich vor sechs Monaten verlobt und trägt seitdem einen riesigen Klunker an ihrem Finger spazieren. Überrascht blinzelt sie mich an. »Oh! Da bist du ja!«

»Hier bin ich«, bestätige ich das Offensichtliche.

»Na, dann komm!« Mandy bietet mir einen Arm zum Unterhaken an. »Wir haben mit dem Brautstraußwerfen extra auf dich gewartet.«

Nicht ihr Ernst, oder?

»Ihr hättet das ruhig ohne mich machen können.« Ich glaub, mir wird schlecht.

»Oh, nein!«, meint Mandy. »Du bist doch eine der beiden einzigen Singlefrauen auf der Feier! Na ja, abgesehen von den Kindern.«

Großartig.

Ich trotte Mandy hinterher, als würde sie mich zu meiner Hinrichtung führen. Unglaublich, dass alle tatsächlich auf mich gewartet haben. Schlimmer geht’s nicht.

Im Festsaal sitzen schon alle erwartungsvoll auf ihren Plätzen, nur Brianna, die Braut, steht mit ihrem Strauß in der Hand ganz vorne im Raum und winkt mir aufgeregt zu, als ich hereinkomme. Am liebsten würde ich sofort wieder auf die Toilette verschwinden.

Zu mir gesellt sich eine Frau Mitte dreißig, die ich nicht kenne, und ein Mädchen im Teenageralter, dem das alles hier ziemlich egal zu sein scheint. Der DJ spielt »Single Ladies« von Beyoncé an, und wir stellen uns folgsam hinter Brianna auf, während die anderen Gäste ihre Gespräche unterbrechen, um uns anzugaffen.

Die Frau neben mir wirft mir einen warnenden Blick zu. »Der Strauß gehört mir!«, fährt sie mich an und zupft am Rock ihres kurzen, schwarzen Kleids.

»Okay«, antworte ich.

»Ich bin jetzt seit drei Jahren mit meinem Freund zusammen. Er soll mir endlich einen Antrag machen.«

»Er gehört ganz dir«, versuche ich sie zu beschwichtigen. »Im Ernst.«

Sie mustert mich aus zusammengekniffenen Augen. »Willst du nicht heiraten? Du bist auch nicht mehr so taufrisch.«

Ach, danke. Mal was ganz Neues.

Ich denke einen Moment darüber nach. Will ich heiraten? Na ja, schon. Natürlich will ich das. Aber eigentlich freue ich mich mehr darauf, einen Mann kennenzulernen, den ich irgendwann auch heiraten will. Ich möchte nicht einfach nur heiraten, um verheiratet zu sein. Es muss schon der Richtige sein. Der Eine.

»Okay!«, ruft Brianna. Eigentlich sollte sie uns ja den Rücken zudrehen, doch stattdessen schaut sie uns an. Und zwinkert mir zu, was mir ein bisschen Angst macht. »Aufgepasst!«

Brianna wirft den bunten Strauß hoch in die Luft. Ich stehe stocksteif da, hebe nicht einmal die Arme und tue wirklich mein Bestes, das Bouquet nicht zu fangen. Aber entweder liegt es am Schicksal, am Wind oder vielleicht doch an Brianna, der Strauß fliegt jedenfalls zielsicher in meine Richtung. Er prallt gegen meine Brust, und ich strecke instinktiv die Arme aus.

Verdammt. Gefangen.

Die Frau neben mir sieht mich an, als würde sie mir gerne die Augen auskratzen. Als ich den Blick auf den Strauß senke, frage ich mich unwillkürlich, ob es wohl immer noch zählt, wenn ich ihn einfach fallen lasse. Könnte ich ihn danach der Frau geben oder wäre das gegen die Spielregeln?

»Kirby hat ihn gefangen!« Brianna klingt viel zu begeistert für meinen Geschmack.

»Jep.« Mehr bringe ich nicht zustande.

»Das bedeutet, dass du als Nächste dran bist!« Immer noch viel zu viel Begeisterung.

Ich beiße mir auf die Lippe und lasse meinen Blick über die Gäste schweifen, die mich gespannt beobachten. »Ich … ich glaube nicht …«

»Kirby.«

Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, als ich die Stimme hinter mir höre. Nein. Das kann nicht sein. Er ist doch gut dreitausend Meilen weit weg, oder?

Ich fahre herum, und da steht er. Ted. Sein blondes Haar ist zerzaust und sein Hemd zerknittert, als wäre er direkt vom Flughafen hierhergefahren. Aber er sieht umwerfend aus. Den Tränen nahe renne ich zu ihm und werfe mich in seine Arme.

»Ted! Was machst du denn hier?«

»Ich hab dich vermisst«, meint er schlicht.

Ich kann es nicht fassen. Ich kann nicht glauben, dass er wirklich hier ist.

Ted schaut auf das Bouquet, das ich noch immer in der Hand halte. »Sieht aus, als hättest du den Brautstrauß gefangen.«

Meine Wangen werden warm, und ich schaue verlegen zur Seite. »Ja.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Heißt das, dass du als Nächstes mit Heiraten dran bist?«

Inzwischen sind meine Wangen glühend heiß. Niemand will seinen Freund nach gerade mal einem Jahr Beziehung so unter Druck setzen. »Ich … ich meine, ich will nicht …«

Und dann passiert etwas, womit ich absolut nicht gerechnet habe. Ted nimmt meine Hand und lässt sich auf ein Knie sinken. Ich schaue zu Brianna, die mich anstrahlt, und erkenne, dass ich den Strauß wohl nicht ganz zufällig gefangen habe. Ted kramt in seiner Hosentasche und zieht ein blaues Samtkästchen hervor. Mir stockt der Atem.

»Ich liebe dich so sehr, Kirby«, sagt er. »Wenn ich nicht bei dir bin, vermisse ich dich. Ich will einfach nur mit dir zusammen sein.« Er öffnet das Kästchen und gibt den Blick auf einen funkelnden Diamantring frei. Mir wird so schwindelig, dass ich Angst bekomme, vor versammelter Gästeschar in Ohnmacht zu fallen. Das würde ich noch Jahrzehnte später zu hören bekommen. In meiner Fantasie ist es immer ein Ring in meinem Weinglas oder ein ähnlich kitschiger Antrag gewesen, aber das hier trifft mich vollkommen unerwartet.

»Willst du mich heiraten, Kirby?«

Das ist wohl der romantischste Moment in meinem ganzen Leben.

KAPITEL 1

KIRBY

Ich werde heiraten.

Oh mein Gooooott!!!

Okay, ich bin wahrscheinlich echt zu alt, um wild kreischend im Kreis zu rennen, weil ich mich gerade verlobt habe. Aber man verlobt sich schließlich – hoffentlich – nur einmal, und ich war schon vier Mal Brautjungfer. Langsam wird es Zeit, finde ich. Jetzt bin ich mal dran, verflixt noch mal!

Ted und ich werden unsere Fernbeziehung noch ein kleines bisschen weiterführen. Nach seinem Antrag ist er noch eine Woche in New Jersey geblieben, und ich habe es immerhin einmal zu ihm nach Mountain View geschafft. Wir sehen uns jeden Tag über FaceTime. Wir telefonieren und schauen dabei zusammen Filme. Und jeden Monat schickt er mir niedliche Carepakete mit Keksen und Stofftieren, die Herzen in den Pfoten halten und für mich singen.

Und natürlich ist das jetzt nicht mehr von Dauer. Ist ja nicht so, dass wir bei der Geburt unseres Kindes über FaceTime miteinander kommunizieren werden müssen. Ted hat bereits die Fühler ausgestreckt und wird nach New York oder New Jersey umziehen, sobald er hier ein passendes Stellenangebot findet. Er ist so gut in seinem Job, dass das in null Komma nichts erledigt sein dürfte.

Ehrlich, er ist der beste Verlobte, den man sich nur wünschen kann.

Gestern Abend hat Ted mich mit der Nachricht überrascht, dass er für einen Termin in einem halben Jahr eine Location an den Niagarafällen gebucht hat – mein Traumziel für die Hochzeit. Es soll total schön sein, dort zu heiraten. Das war bislang ein kleiner Streitpunkt zwischen uns, denn Teds Freunde wohnen an der Westküste, und die Niagarafälle liegen natürlich an der Ostküste. Aber Teds komplette Familie wohnt hier an der Ostküste, und meine Familie und meine Freunde auch.

»Damit sind drei Viertel unserer Gäste an der Ostküste«, gab ich Ted kürzlich während eines FaceTime-Gesprächs zu bedenken.

»Ja«, stimmte er zu. »Aber sollten wir dann nicht irgendwo auf drei Viertel der Strecke zwischen Kalifornien und New Jersey heiraten?«

Also haben wir einen Blick auf die Karte geworfen: Das wäre dann Indiana. Nichts gegen Indiana, aber wir waren beide nicht sonderlich begeistert von dem Gedanken, dort zu heiraten. Daher … wurden es die Niagarafälle.

Und jetzt freut sich Ted darüber genauso wie ich.

Weil er bei der ganzen Sache so viele Kompromisse macht, versuche ich, ihm bei seinen Wünschen entgegenzukommen. Vor ein paar Tagen hat er am Telefon einen geäußert.

»Hör mal, Kirby«, sagte er.

Ich habe bereits an seinem Tonfall gemerkt, dass er mich um einen Gefallen bitten würde. So gut kenne ich ihn, obwohl wir nie auch nur ansatzweise zusammengelebt haben.

»Du weißt ja, dass mein Trauzeuge John bei dir in der Gegend wohnt?«, begann Ted.

»Ja, sicher.«

»Ich habe mich gefragt, ob du ihn vielleicht ein bisschen bei der Trauzeugensache unterstützen könntest.«

Ich rümpfte die Nase. Klang jetzt nicht nach besonders viel Spaß, nicht so wie neulich, als er mich gebeten hatte, für unser nächstes Treffen essbare Unterwäsche zu besorgen.

»Wie stellst du dir das vor?«

»Du könntest ihm dabei helfen, eine Stripperin für meinen Junggesellenabschied auszusuchen«, scherzte Ted. (Ich glaube jedenfalls, dass es ein Scherz war. Hm, vielleicht auch nicht.) »Aber im Ernst, er kann wahrscheinlich ein bisschen Hilfe gebrauchen. Außerdem solltest du Johnny sowieso mal kennenlernen. Er ist mein bester Freund, seit wir acht Jahre alt waren.«

Zugegebenermaßen war ich echt neugierig auf John. Wir hatten uns zwar noch nie getroffen, aber ich hatte das Gefühl, ihn durch Teds Geschichten über ihre Kajak- und Campingausflüge bereits zu kennen. Oder die lustigen Geschichten über ihre erfolglosen Aufreißversuche. (»John ist ein noch schlimmerer Nerd als ich!«) Wie könnte ich den Mann da nicht mögen?

Und deswegen schlendere ich nun durch einen Barnes & Noble im Osten von New Jersey und suche nach John. Am Telefon hat er mir versichert, dass er eine Basecap der Mets als Erkennungszeichen tragen würde. Bei meiner Ankunft habe ich ihn im Café nicht entdecken können, also bin ich ein bisschen im Buchladen herumspaziert. Vom Regal mit den reduzierten Büchern habe ich mich ganz kurz ablenken lassen, aber jetzt bin ich wieder im Café. Keine Mets-Cap weit und breit.

Ich bin verdammt nervös. Ted und ich sind zwar verlobt, aber streng genommen sind wir gerade mal seit einem Jahr zusammen, und der Segen seines besten Freundes würde mir wirklich viel bedeuten. Wäre doch großartig, wenn John nach unserem Treffen Ted eine Nachricht schickt, wie cool er mich findet, oder? Wenn er sich denn irgendwann mal hier blicken lässt.

Wenn er nicht bald auftaucht, werde ich mir ein Stück von dem leckeren, buttrigen Apfelkuchen einverleiben müssen, der mich schon die ganze Zeit anlacht, und dann passe ich nicht mehr in meine Jeans.

Während ich also mein Bestes tue, um mir keinen Apfelkuchen zu holen (Tu es nicht, Kirby!), bemerke ich, dass mich ein etwas krumm im Rollstuhl sitzender Kerl anstarrt. Der Rollstuhl wirkt nicht wie die im Krankenhaus, er hat keine riesigen Griffe an der Rückseite und auch keine klobigen Beinstützen. Er wirkt kleiner und leichter, obwohl die Rückenlehne dem Mann bis zu den Schulterblättern reicht. Bei Rollstühlen denke ich immer sofort an alte Leute, aber der Typ ist wohl nur ein paar Jahre älter als ich, irgendwo Anfang dreißig, würde ich schätzen.

Und er sieht nicht schlecht aus – ganz im Gegenteil: Er ist verdammt heiß. Ted entspricht mehr dem gängigen Schönheitsideal, doch dieser Kerl steht ihm mit seinen hohen Wangenknochen und den dunkelbraunen Augen in nichts nach. Seine Haut ist genauso hell wie meine, aber seine Züge verraten, dass seine Vorfahren wohl nicht unbedingt aus England oder Irland stammen dürften.

Ich habe keine Ahnung, warum der Typ mich anstarrt, aber in diesem Moment wird mir bewusst, wie unhöflich das ist. Und wie unfassbar unhöflich es von mir ist, ihn anzustarren. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.

Schau weg, Kirby. Einfach wegschauen, bevor es unangenehm wird.

»Hey«, spricht der Mann mich an.

Oh nein. Jetzt kommt sicher eine Ansage, weil ich ihn angestarrt habe. Was stimmt nicht mit mir? Manchmal glaube ich, man sollte mich einfach nicht unter Menschen lassen. Ich wende mich ab und tue so, als hätte ich ihn nicht gehört.

»Kirby?«

Vor Überraschung bleibt mir der Mund offen stehen. Woher kennt dieser Kerl meinen Namen? Doch in diesem Moment sehe ich die Mets-Basecap vor ihm auf dem Tisch liegen.

»John?«, frage ich ein wenig atemlos.

Er nickt. »Ja.«

Ich werde Ted umbringen. Wieso hat er mir verschwiegen, dass sein bester Freund behindert ist? Ja, klar, das sollte keine Rolle spielen, und jeder Mensch ist gut so, wie er ist, bla, bla, bla. Gerade bin ich aber zu sauer auf Ted, um nach einem politisch korrekten Ausdruck dafür zu suchen. Warum hat dieser Idiot mich nicht vorgewarnt? Und was sollte das mit diesen Camping-Geschichten? John kann ja schließlich nicht … Ich meine, ist doch unmöglich, wie soll das denn gehen …

»Tut mir echt leid«, meine ich und lasse mich John gegenüber auf einem Stuhl nieder. »Ich wusste nicht, dass … Also, Ted hat mir nie erzählt, dass du …«

John schenkt mir ein schiefes Lächeln. »Dass ich Halb-Asiate bin? Ja, das überrascht die meisten Leute. Aber man gewöhnt sich dran.«

Haha. Na ja, wenigstens hat er Humor. Das mit den asiatischen Genen sehe ich, obwohl ich ohne Erklärung wohl nicht darauf gekommen wäre. Wie gesagt, seine Haut ist genauso hell wie meine, aber das erklärt dann auch die Form seiner Augen, die ein kleines bisschen schräg und ein kleines bisschen sexy sind.

Jetzt, wo ich John gegenübersitze, habe ich immerhin eine Ausrede dafür, ihn einen Moment lang zu mustern. Sein Leiden geht offensichtlich darüber hinaus, dass er nicht laufen kann, seine Hände sind nämlich auch betroffen. Die Sehnen zeichnen sich stark unter der Haut ab, und mir fällt auf, dass er seine Handgelenke benutzt, als er mithilfe eines langen Strohhalms einen Schluck aus einem undefinierbaren Gefäß in einer Papiertüte nimmt. Alkohol? Er trägt ein Sweatshirt, doch ein Blick auf den sichtbaren Teil seiner Unterarme zeigt mir, dass die Muskeln dort ebenso verkümmert sind wie die in seinen Händen. Keine Ahnung, was er hat, aber es ist jedenfalls nicht nur ein gebrochener Knöchel oder so. Es ist was Ernstes und Dauerhaftes.

Ich räuspere mich. »Ted hat nie erwähnt, dass du im … na ja …«

John beugt sich ein wenig zu mir und flüstert überlaut: »Man nennt es Rollstuhl.«

»Klar.« Ich versuche zu lächeln. Nicht so einfach. »Ich habe es nur nicht gewusst. Sonst hätte ich dich wahrscheinlich gleich erkannt.«

Warum habe ich das so gesagt? Gott, manchmal klinge ich einfach nur dumm.

»Du bist nur nicht das, was ich erwartet hatte«, beende ich mein Gestammel ungelenk. Und dann möchte ich mich am liebsten direkt in ein Loch verkriechen und sterben. So viel zum Thema »Segen des besten Freundes«.

John schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ja? Tja, ehrlich gesagt habe ich bei dir auch was anderes erwartet.«

Was soll das denn jetzt heißen?

»Inwiefern?«

John zuckt mit den schmalen Schultern. »Ich weiß nicht. Ted war einfach nur noch nie mit einer Frau zusammen, die aussieht wie du.«

Was?

»Wie sehen denn die Frauen aus, mit denen er normalerweise ausgeht?«

»Normalerweise?« John reibt sich mit dem Handballen übers Kinn. »Normalerweise steht er eher auf blond und dünn.«

Wie bitte?!

»Willst du damit sagen, dass ich nicht so attraktiv bin wie Teds Ex-Freundinnen?« Ich bin viel zu laut. Ein paar der Leute im Café drehen sich zu uns um, und mir steigt Hitze in die Wangen.

»Ganz und gar nicht.« Ein kleines Lächeln umspielt Johns Mundwinkel. »Ich habe nur angemerkt, dass sie blond und dünn waren. Die interessante Interpretation in Sachen Attraktivität geht auf dein Konto.« Er hält kurz inne, und meine Wangen werden noch heißer. »Allerdings, jetzt, wo du’s sagst … Sie waren schon alle ziemlich hübsch.«

Scheiß auf Johns Segen. Sieht nicht so aus, als würde er meinen bekommen.

Wenn mir hier nicht gerade der beste Freund meines zukünftigen Ehemanns gegenübersäße, würde ich vermutlich einfach aufstehen und gehen. Aber das kann ich nicht machen. Ich werde dem Kerl noch unzählige Male in meinem Leben begegnen und muss mir zumindest ein bisschen Mühe geben.

»Hör mal«, meine ich deshalb deutlich ruhiger. »Wie wäre es, wenn wir noch mal von vorne anfangen?«

John beugt sich vor und nimmt mithilfe des Strohhalms noch einen Schluck aus der geheimnisvollen Papiertüte, nachdem er sie mit einer seiner steifen Hände näher zu sich gezogen hat. Inzwischen ist mir klar, dass er die Hände nicht bewegen kann. Leidet er unter Zerebralparese? ALS? Ich habe keinen Schimmer. Mein Hirn ist wie leer gefegt.

»Von vorn anfangen?«

»Das Gespräch noch mal neu beginnen«, erkläre ich. »Hast du dir etwa vorgestellt, dass das erste Treffen mit der Verlobten deines besten Freundes so ablaufen würde?«

»Ja, im Großen und Ganzen schon.« John grinst erneut. »Aber ich hatte auch ein paar Informationen, die dir gefehlt haben.«

Das ist offensichtlich.

»Aber ja, klingt gut«, willigt er ein. »Lass uns noch mal von vorn anfangen.« Dann fügt er hinzu: »Was auch immer das heißt.«

Vorläufig heißt das offenbar, einander minutenlang schweigend gegenüberzusitzen, bis ich schließlich einknicke und mir ein Stück Apfelkuchen hole. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich John etwas mitbringen soll, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er isst, und ich will nicht schon wieder etwas Dummes sagen.

Während ich mit meinem warmen Apfelkuchen zum Tisch zurückgehe, muss ich immer wieder an Teds angeblich blonde, dünne Ex-Freundinnen denken. Danke sehr, John, vielen Dank.

»Gott«, murmelt John und bricht damit das Schweigen. »Ich kann Barnes & Noble echt nicht ab.«

Das lässt mich stutzen. »Ernsthaft?«

Er zuckt mit den Schultern. »Was finden die Leute daran gut? Buchläden sind so was von out – und sie sterben aus. Wie Reisebüros und Kaugummi.«

Hey, was für ein Problem hat er denn mit Kaugummi? Aber das muss warten.

»Ich liebe Buchläden«, halte ich dagegen. »Es macht doch Spaß, herumzustöbern und Bücher aus dem Regal zu ziehen, die man dann auch noch direkt kaufen und mitnehmen kann.«

»Hm, dir ist schon klar, dass du das auch in einer Bücherei tun könntest? Und da sind die Bücher kostenlos und nicht so lächerlich überteuert. Warum sollte man fünfzehn Dollar für etwas zahlen, das man ohnehin nur einmal liest? Reine Papier- und Geldverschwendung.«

»Ich liebe den Geruch von neuen Büchern.«

John starrt mich ungläubig an. »Im Ernst? Das ist dein bestes Argument? Der Geruch. Von einem Buch. Wow.«

Arschloch.

»Davon mal abgesehen«, fährt er unbeirrt fort, »gibt es in fünfzig Jahren wahrscheinlich gar keine gedruckten Bücher mehr. Bis dahin ist alles elektronisch.«

»Glaube ich nicht.« Sein Tonfall bringt mich zur Weißglut, und am liebsten würde ich mit der Faust auf den Tisch schlagen. »Es gibt nichts Besseres als das Gefühl eines echten Buchs in der Hand.«

John betrachtet mich mit zusammengekniffenen Augen. »Da kann ich leider nicht mitreden.«

Ich spüre, dass ich rot werde. Ich glaube, ich habe bisher noch nie jemanden getroffen, der mich innerhalb von zwanzig Minuten dermaßen auf die Palme bringt, während ich mich gleichzeitig schäme.

John deutet mit dem Kopf auf die Schlange vor der Kasse. »Schau dir doch diese Deppen an, die da überteuerte Bücher kaufen. Was stimmt nicht mit den Leuten?«

Zur Beruhigung atme ich tief durch, wie ich es in meiner Yoga-Phase gelernt habe, bevor ich mir nach drei Monaten eingestand, dass ich Yoga hasse. Ich gebe mein inneres Chi frei, oder was weiß ich. Namaste. Nein, ich werde mich nicht von John provozieren lassen. Er ist nur ein Arschloch und meine Energie nicht wert.

»Du, ich muss dann mal wieder.«

»Ach ja?« John zieht die Augenbrauen nach oben. »In deiner E-Mail hast du geschrieben, dass du den ganzen Nachmittag freihast.«

Ja, aber das war, bevor ich festgestellt habe, was du für ein Blödmann bist.

»Stimmt«, murmle ich. »Aber mir ist kurzfristig ein Arzttermin dazwischengekommen.« John zieht erneut die Brauen nach oben, weswegen ich hinzufüge: »Nichts Ernstes. Ist nur diese Sache. Mit meinem … Bein. Es ist … ja.«

John mustert mich aufmerksam, hakt aber nicht weiter nach. »Okay, dann war es nett, dich kennenzulernen, Kirby. Oder so.«

Ich schnappe mir meine Handtasche von der Stuhllehne und schlüpfe in meinen Mantel. Als ich John jedoch so in seinem Rollstuhl sehe, kommt mir der Gedanke, dass er nun hier festsitzen könnte. Ich gehe davon aus, dass ihn jemand hergefahren hat, und nun muss er womöglich darauf warten, dass diese Person ihn wieder abholt. Mich wird er offensichtlich nicht um Hilfe bitten, aber ich fühle mich dazu verpflichtet, sie ihm anzubieten. Der Kerl ist fürchterlich, aber ich bin nicht herzlos.

»Hey«, sage ich deshalb. »Brauchst du Hilfe … um wieder nach Hause zu kommen?«

Wieder das schiefe Grinsen. Und in diesem Moment wird mir klar, dass ich jetzt endgültig geliefert bin.

KAPITEL 2

JOHN

Jedes Mal mache ich das. Jedes. Verdammte. Mal.

Sobald ich ein Mädchen – halt, nein: Ich meine eine Frau, ich bin über dreißig, da sollte ich sie nicht mehr Mädchen nennen – also, sobald ich eine Frau kennenlerne, die ich attraktiv finde, werde ich zum Oberarschloch.

Früher war ich nicht so. Das ist neu. Oder zumindest neuer. Kam etwa zeitgleich mit meinem Genickbruch, als ich feststellen musste, dass die Mädchen, die ich attraktiv finde, mich im Gegenzug nicht mehr besonders anziehend finden. Seitdem bin ich für die meisten Frauen »asexuell«. Inzwischen ist es beinahe ein Reflex, wütend auf das Mädchen (ich meine die Frau) zu werden und dabei zum Riesenarschloch zu mutieren.

Selbst wenn die betreffende Frau die Verlobte meines besten Freunds ist.

Es kam mir beinahe vor, als würde ich als Außenstehender hilflos eine Naturkatastrophe beobachten, die ich nicht aufhalten konnte. Niemand hätte es, hätte mich aufhalten können, nicht einmal die Justice League. Rette mich, Superman. Halt mich auf, bevor ich mich noch mehr danebenbenehme und die Welt damit zerstöre.

Ich konnte einfach nicht anders. Dank der Fotos auf Teddys Facebook-Seite habe ich Kirby sofort erkannt, als sie den Laden betreten hat. Sie ist viel hübscher als auf den Bildern, auf denen weder ihre zierliche Figur noch die entzückende, sommersprossige Stupsnase richtig zur Geltung kamen.

Ich habe sie dabei beobachtet, wie sie die Kuchentheke im Café der Buchhandlung genauestens unter die Lupe nahm und man beinahe sehen konnte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Und wie aus dem Nichts ist mir ein vollkommen unsinniger Gedanke durch den Kopf geschossen: Ich bin verliebt.

Nicht wirklich verliebt, natürlich. Es ist mehr diese Vorstufe, aus der einmal tiefere Gefühle werden könnten, wenn es denn eine Möglichkeit gäbe, das Mädchen (die Frau!) näher kennenzulernen, und sie sich nicht als dumm oder nervig herausstellt. Oder sie schlicht nicht an mir interessiert ist, was in der Regel der Fall ist.

Und dann hat sie mich gesehen, aber nicht erkannt. Weil dieser Idiot Ted sie offensichtlich nicht vorgewarnt hat. Ich weiß nicht, was der Kerl für ein Problem hat – es ist, als könnte er einfach nicht akzeptieren, dass ich mit Querschnittslähmung im Rollstuhl sitze. Als würde er es zeitweise einfach vergessen. (Schön für ihn. Für mich gestaltet sich das deutlich schwieriger. Eigentlich sogar unmöglich, abgesehen von einem kurzen Moment nach dem Aufwachen, in dem ich hin und wieder vergesse, dass ich nicht mehr einfach aus dem Bett springen kann.)

Mir war bewusst, dass sie mich anstarrt, aber versucht hat, es zu verbergen. Auch daran bin ich inzwischen gewöhnt. Nur Kinder starren mich unverhohlen an. Manchmal würde ich die Leute am liebsten anbrüllen: »Was zum Teufel glotzt ihr denn so?!« Ja, ich sitze im Rollstuhl. Na und? Das tun viele andere auch. Meine Hände sehen ein bisschen komisch aus, ja. Wie spannend.

Wenn mich aber eine attraktive Frau so ansieht, werde ich unsicher. Ich setze mich aufrechter hin, damit mein Bauch nicht so dick aussieht – ziemlich schwierig, wenn man quasi keine Muskelkraft mehr im Oberkörper hat. Ich stelle sicher, dass meine Beine nicht schief auf der Fußstütze stehen, und überprüfe mit der Zunge, ob ich was zwischen den Zähnen habe. Warum auch immer.

»Kirby?«, habe ich sie schließlich angesprochen. Ihre sommersprossigen Wangen wurden feuerrot – und die Röte breitete sich rasch über ihr ganzes Gesicht und die Ohren aus. Vielleicht sogar bis zu ihren Zehen. Und damit war ich verloren. Ihr vollkommen und restlos verfallen. Scheiß Ted – was musste der sich auch ausgerechnet mit so einer hübschen Frau verloben?

Dann habe ich die folgende halbe Stunde dafür gesorgt, dass sie mich auch wirklich hasst. Halbe Sachen sind offensichtlich nicht mein Ding – ich habe es darauf angelegt, dass Kirby mich für das größte Arschloch aller Zeiten hält. Sie konnte gar nicht schnell genug wieder von mir wegkommen.

Doch dann, als sie gerade verschwinden will, zögert sie auf einmal und schaut mich an. Nein, nicht so. Nicht auf die gute Art. Ihr Blick sagte deutlich, dass sie sich irgendwie dazu verpflichtet fühlt, nett zu mir zu sein, obwohl ich so beschissen zu ihr war. Weil … deswegen. (Weil ich ein Krüppel bin.)

»Brauchst du Hilfe, um nach Hause zu kommen?«, fragte sie vorsichtig mit großen Augen.

Weil sie sich nicht einmal vorstellen kann, dass ich ganz alleine hierhergekommen bin. Und das, Ladys und Gentlemen, ist der Grund, warum ich seit über einem Jahr kein Date mehr hatte – oder auch nur die Aussicht auf eins. Wenn Mädchen (ich meine Frauen) mich anschauen, denken sie so was wie:

Wie ist er alleine in die Buchhandlung gekommen?

Wie zieht er sich an?

Oder vielleicht:

Wie geht er aufs Klo?

Das macht mich unsäglich wütend, und dementsprechend ätzend ist mein Tonfall, als ich erwidere: »Glaubst du im Ernst, dass ich irgendwohin gehe, ohne zu wissen, wie ich wieder nach Hause komme?«

Erneut breitet sich Röte auf Kirbys Gesicht aus, und ich bin beinahe geneigt, ihr zu vergeben. Beinahe. Wenn ich mir diesen Satz nicht in irgendeiner Form quasi täglich anhören müsste, würde er mich vermutlich nicht so sauer machen. Glückwunsch, Kirby – du bist genau wie alle anderen.

»Es ist nur …«, stammelt sie. »Ich gehe früher als geplant, also … Wenn ich jemanden für dich anrufen soll … ich meine, das wäre kein Problem für mich.«

Ich sehe sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Jemanden für mich anrufen? Wen denn? Meinen Pfleger

Ja, genau das meint sie. Ich sehe es ihr an. Meinen Pfleger oder meine Mutter.

»Egal wer …«

Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich sie korrigiere, denn es heißt »egal wen«, aber das wäre wohl zu viel des Guten. Sie hat ihre Lektion gelernt und wird dem Krüppel sicher keine Hilfe mehr anbieten. Mission erfüllt.

»Keine Sorge«, meine ich. »Ich habe ein Handy, das ich benutzen kann.«

»Oh«, erwidert sie leise.

»Außerdem habe ich ein Auto.«

Sie schaut so verwirrt drein, dass ich beinahe laut aufgelacht hätte. »Wartet jemand im Auto auf dich?«

Jetzt zerstören wir mal ein bisschen ihr Weltbild: »Nein, ob du es glaubst oder nicht: Ich fahre selbst.«

Ich weiß, was sie denkt: Wie kann ein Kerl, dessen Hände so aussehen, Auto fahren? Das habe ich auch gedacht, bevor ich es gelernt habe.

Ich lächle sie an. »Soll ich dir immer Bescheid geben, wenn ich unterwegs bin, damit du zu Hause bleiben kannst und ich dich nicht in Gefahr bringe?«

»Nein, danke«, murmelt sie, auch wenn ich darauf wetten würde, dass ihre ehrliche Antwort vermutlich ein Ja wäre. »Hör zu, Ted hat gemeint, dass du ein bisschen Hilfe bei den Trauzeugensachen brauchst, aber ich hab gerade echt viel um die Ohren und ich weiß nicht …«

Oh, das hat Idioten-Ted ihr also erzählt? Überrascht mich nicht. Er hat sich etwa fünf Minuten nach meinem Unfall an die Westküste verpisst und versteht immer noch nicht, dass ich wunderbar alleine zurechtkomme.

»Kein Problem.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich brauche keine Hilfe.«

Wirklich nicht. Dämlicher Ted.

»Okay, gut.« Kirby schließt den obersten Knopf ihres Mantels. »War nett, dich kennenzulernen, John. Wir … sehen uns.«

Wenn ich sie erst zur Hochzeit wiedersehe, ist das noch früh genug.

KAPITEL 3

KIRBY

»Und, was hältst du von Johnny?«

Ted und ich widmen uns gerade unserem allabendlichen FaceTime-Gespräch. Ich liege im Bett unter meiner kuscheligen Decke, und Ted liegt in seinem eigenen Bett. Also sind wir irgendwie zusammen im Bett.

Okay, eigentlich nicht wirklich. Oder eher so gar nicht.

Ich vermisse meinen Verlobten. Nur noch sechs Monate, dann können wir immer zusammen sein.

»Warum hast du nie erzählt, dass er im Rollstuhl sitzt?« Ich versuche, nicht so sauer zu klingen, wie ich bin. »Ich meine, du erzählst die ganze Zeit diese Geschichten von euren Campingabenteuern und vom Klettern … es hatte irgendwie alles mit Sport zu tun.«

»Sorry«, erwidert Ted, und seine Brauen ziehen sich auf diese niedliche Art zusammen, die es mir unglaublich schwer macht, ihm lange böse zu sein. »John hatte vor ungefähr sechs Jahren einen Unfall, kurz bevor ich den Job bei Google bekommen habe. Deswegen sind die meisten Geschichten von … davor. Schien mir irgendwie seltsam, es zu erwähnen.«

»Na ja, für mich wäre es auf jeden Fall hilfreich gewesen. Also, vor unserem Treffen.«

»Tut mir echt leid«, entschuldigt er sich noch einmal. »Aber davon abgesehen?«

»Hm, ja.« Ich suche nach den richtigen Worten. »Um ehrlich zu sein … Ich denke nicht, dass wir auf einer Wellenlänge liegen.«

Ted runzelt die Stirn. »Echt? Wieso das?«

Was soll ich darauf sagen? Ich entscheide mich dafür, keine Geheimnisse vor ihm zu haben, immerhin werden wir heiraten.

»Weil John ein Riesenarschloch ist.«

Ted lacht. »Machst du Witze? John ist der netteste Kerl der Welt.«

Der netteste Kerl der Welt? Ist das sein Ernst? In welcher Welt lebt er denn, bitteschön? Ich muss wohl versehentlich den falschen John kennengelernt haben.

»Zu mir war er jedenfalls nicht nett«, entgegne ich. »Er war vom ersten Moment an extrem unhöflich.«

»John ist echt nett«, beteuert Ted. »Ich hab noch nie erlebt, dass er sich scheiße benimmt, außer wenn er …« Er verstummt für einen Moment, als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen.

»Wenn er was?«, hake ich nach.

Er schüttelt den Kopf. »Ach nichts. Aber glaub mir, John ist wirklich ein toller Mensch. Denkst du, du könntest ihm noch eine Chance geben?«

Ich seufze. Eigentlich würde ich John sehr gerne nie wiedersehen. Aber angesichts der Tatsache, dass er Teds bester Freund ist und auch noch in der Nähe lebt, ist das wohl nicht besonders realistisch. »Vielleicht«, sage ich deshalb. »Aber da müsste er schon mit einer ordentlichen Entschuldigung aufwarten.«

»Okay«, meint Ted. »Ich kümmere mich drum. Bis dann, Kirby.«

Bevor ich noch etwas sagen kann, beendet Ted das Gespräch, und ich starre auf das leere Display meines iPads. Manchmal hat Ted echt die emotionale Reife eines Achtjährigen.

Ich stehe auf, strecke mich ausgiebig und ziehe die alten, schlabberigen Spiderman-Shorts ein Stückchen nach oben, die ich immer zum Schlafen trage, wenn Ted nicht da ist. Aus einer Laune heraus stelle ich mich vor den Ganzkörperspiegel in meinem Schlafzimmer und mustere mich eingehend. Ich bin definitiv weder dünn noch blond – und das werde ich auch nie sein. Meine Haare sind braun, wellig und kurz, und ich habe ein paar Sommersprossen zu viel auf Nase und Wangen, aber für meine blauen Augen habe ich schon öfter Komplimente bekommen, die sind also ein Pluspunkt.

Dünn – keine Chance. Ich bin eher rundlich, um ehrlich zu sein. Noch fünf Kilo und ich bekomme ein Doppelkinn. Da war der buttrige Apfelkuchen nicht gerade hilfreich.

Mein Handy macht sich mit dem unpersönlichen Klingelton bemerkbar, den ich für unbekannte Nummern nutze. Ich greife danach und habe schon so eine Ahnung, wer mich da anruft.

KAPITEL 4

JOHN

»Hast du noch alle Latten am Zaun, Johnny?«

Ich schaue gerade die Daily Show, habe den Fernseher aber stumm geschaltet, damit Ted mich in Ruhe anbrüllen kann. Ich habe keine Lust auf dieses Gespräch. Ich habe keine Lust auf Ted. Aber ich kenne ihn gut genug und weiß daher, dass er nicht aufgeben wird, also habe ich den Anruf angenommen, um es hinter mich zu bringen.

»Wieso?«, stelle ich mich dumm.

»Kirby hat erzählt, dass du scheiße zu ihr warst, als ihr euch heute getroffen habt.«

»Nein. Ich war wie immer. Wahrscheinlich bin ich einfach scheiße zu jedem.«

Ich kann Ted seufzen hören. Am liebsten würde ich ihn darauf hinweisen, wie scheiße es von ihm war, seine Freundin nicht vorzuwarnen, dass ich im Rollstuhl sitze. Und ihn fragen, ob er noch alle Latten am Zaun hat.

»Komm schon, Johnny«, meint er. »Du bist mein bester Freund. Ich will, dass ihr beide euch versteht.«

Bester Freund.

Ja. Früher, vor langer Zeit, waren Ted und ich mal die besten Kumpel. Dann habe ich mich verletzt, und er ist ans andere Ende des Landes gezogen. Ich weiß nicht, ob ich noch einen »besten Freund« habe, aber wenn ich den benennen müsste, dann wäre es sicher nicht er. Wahrscheinlich eher jemand von der Arbeit. Ich kenne Ted ja kaum noch.

»Hör zu«, fährt Ted fort. »Warum rufst du Kirby nicht einfach an und lädst sie zum Abendessen ein?«