Inge Seiffge-Krenke

Jugendliche in der Psychodynamischen Psychotherapie

Kompetenzen für Diagnostik, Behandlungstechnik, Konzepte und Qualitätssicherung

Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-98359-3

E-Book: ISBN 978-3-608-12049-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20460-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Vierte, vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des Titels »Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie mit Jugendlichen«, 2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Vorwort

Meine Beschäftigung mit dem Gegenstand dieses Buches hat eine lange Geschichte. Zunächst ist zu sagen, dass ich neben einer psychoanalytischen Ausbildung für die Behandlung von Erwachsenen auch eine Ausbildung für die psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie von Kindern und Jugendlichen absolvierte, und diese kombinierte Erfahrung in beiden Altersbereichen war sehr entscheidend für meine Beschäftigung mit jugendlichen Patienten, ebenso wie meine Tätigkeit als Entwicklungspsychologin mit meinen zahlreichen Forschungsarbeiten(1) über Jugendliche und ihre Eltern nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern.

Mein erstes Buch über psychoanalytische Psychotherapie bei Jugendlichen entstand 1986. Neue Möglichkeiten der Behandlung, aber auch der Krankheitswandel(1) waren Anlass für die umfassende Neukonzeptualisierung, die ich in Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit Jugendlichen 2007 vorlegte, ein Buch, das im gleichen Jahr den Heigl-Preis erhielt. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Therapie von Jugendlichen eine solche Aufmerksamkeit erhielt.

Seither sind einige Jahre vergangen, in denen eine umfangreiche Forschung(2) zu den neurobiologischen(1) Grundlagen psychischer Störungen stattfand, in denen die neuen Medien(1) in nie geahnter Weise Einfluss auf unseren Alltag und die therapeutische Praxis nahmen, in denen viele Patienten mit Migrationshintergrund(1) in unsere Ambulanzen kamen und in denen die Notwendigkeit, die Effizienz(1) unserer Behandlungen zu evaluieren, immer deutlicher wurde. Dass reale Traumatisierungen(1) viel häufiger sind als noch vor Jahrzehnten wahrgenommen und strukturelle Störungen im Zunehmen begriffen sind, wurde offenkundig und hat zu zahlreichen spezifischen Behandlungsformen(1) für diese Störungsgruppe geführt. Das vorliegende Buch baut auf den früheren Arbeiten auf, es nimmt zugleich die neueren Entwicklungen in den Blick und reflektiert sie für die therapeutische Praxis. Auch der Titel wurde geändert, um deutlich zu machen, dass psychodynamische(1) und tiefenpsychologisch fundierte Therapien unter dem Dach »Psychodynamische Therapie (TP)« einen guten Platz gefunden haben, was nicht nur dem internationalen Sprachgebrauch entspricht, sondern zugleich den zukunftsträchtigen Entwicklungen Rechnung trägt. Ab 2020 wird es nämlich in Deutschland einen neuen Studiengang, Master in Psychotherapie(1) geben, in dem psychodynamische(1) Verfahren ihren Stellenwert haben; dies wird auch zu Veränderungen in den Weiterbildungen(1) für psychodynamische(2) Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen führen. Psychodynamische Konzepte und Behandlungsformen(3) haben damit eine erhebliche Aufwertung und Professionalisierung erfahren – eine sehr erfreuliche Entwicklung.

In den letzten Jahren haben mich die Gespräche und der Austausch mit Freunden und Kollegen wie Hans Hopf(1), Gabriele Scherning, Annegret Boll-Klatt(1), Mathias Kohrs(1), Luise Reddemann(1), Annette Streeck-Fischer(1), Manfred Cierpka(1), Harald Freyberger(1), Verena Kast(1), (1)Gerd Rudolf(1), Henning Schauenburg(1), Kerstin Westhoff(1), Christiane Ludwig-Körner, Norbert Kohl, Dieter Sens, Gitta Binder-Klinsing, Jürgen Grieser(1), Anke Hüter, Daniela Pfannkuch und Shmuel Shulman(1) sehr bereichert. Die jahrzehntelange Arbeit in der Therapie und Supervision,(1) in verschiedenen Ausbildungskontexten, in Beratungsstellen(1), in der Kinderpsychosomatik, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in Gemeinschaftspraxen sowie die Arbeit in der OPD-KJ(1) (u. a. mit Klaus Schmeck(1), Susanne Schlüter-Müller(1), Heiko Dietrich(1), Helene Timmermann(1), Petra Adler-Corman(1) und Fabian Escher(1)) bedeuten mir viel. Die Begeisterung für die Psychodynamik(2) hat uns (Franz Resch(1), Günter Presting, Ulrike Rastin und mich) in der Buchreihe Psychodynamik kompakt zu einer jahrelangen kreativen Zusammenarbeit geführt, in der Bände für Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten(1) entstanden. In der Arbeitsgemeinschaft Psychodynamischer Professorinnen und Professoren haben wir uns, allen voran Jürgen Körner(1) und Cord Benecke(1), sehr für die Belange einer zukunftsträchtigen psychodynamischen(3) Aus- und Weiterbildung(1) engagiert. Ich bedanke mich bei allen Weggefährten sehr herzlich, und dazu gehören auch Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta, der mit Nachdruck und Geduld diese Überarbeitung begleitete, sowie Thomas Reichert, der wiederum wie bei meinen früheren Büchern umsichtig und kompetent lektorierte.

1. Kapitel

Einleitung

»Würdest du mir bitte sagen, welchen Weg ich einschlagen muss?«

»Das hängt in beträchtlichem Maße davon ab, wohin du gehen willst«,

antwortete die Katze.

»Oh, das ist mir ziemlich gleichgültig«, sagte Alice.

»Dann ist es auch einerlei, welchen Weg du einschlägst«,

meinte die Katze.

»Hauptsache, ich komme irgendwohin«, ergänzte sich Alice.

»Das wirst du sicher, wenn du lange genug gehst«, sagte die Katze.

(Lewis Carroll(1), Alice im Wunderland, 1865, S. 103)

Psychodynamische Psychotherapeuten leisten nicht nur den größten Anteil, sie sind in der ambulanten und stationären Versorgung(1)(1) von Jugendlichen unverzichtbar. Ihr therapeutischer Zugang, ihre Haltung(1) und ihre Kompetenzen sind in einer Altersgruppe gefragt, die keineswegs leicht zu behandeln ist. Auch formal haben sich die Voraussetzungen für psychodynamische(4) Jugendlichen-Therapeuten verbessert. Seit In-Kraft-Treten des Psychotherapeutengesetzes(1) 19991 wurde die Ausbildung(3) von Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten(2) und deren berufliche Grundlage auf eine neue, sichere Basis gestellt. Der 8. Deutsche Psychotherapeutentag (DPT) forderte bereits 2006 in einer einhellig verabschiedeten Resolution, für Kinder- und Jugendlichen-Therapie eine Mindestquote von 20 % der Bedarfsplanung(1) vorzusehen, es dauerte allerdings einige Zeit, bis diese realisiert wurde (Schwarz, 2019)(1). Dies erbrachte tatsächlich neue Kassensitze, konnte aber das Stadt-Land-Gefälle(1) strukturell nicht beheben. Inzwischen liegen neue Informationen zur Bedarfsplanung(2) vor, ist die Reform der Aus- und Weiterbildung(1) in Psychotherapie in Deutschland u. a. durch die im Bundestag (12/2019) verabschiedete Novelle des Psychotherapeutengesetzes, basierend auf dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit, vorangeschritten, eine Approbationsordnung wurde vom Bundesrat am 14. 2. 2020 verabschiedet, Weiterbildungsordnungen werden folgen.

Ab 2020 wird es also einen neuen Studiengang Master in Psychotherapie(2) (zumeist an psychologischen Instituten) geben, der psychodynamische(6) Perspektiven im Studium – nach einer jahrzehntelangen Dominanz verhaltenstherapeutischer(1) Verfahren – gleichberechtigt unterrichtet und erforscht und in der die Lehre altersübergreifend ist, also diagnostische und therapeutische Perspektiven in Bezug auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene integriert. Erst nach Abschluss dieses verfahrens- und altersübergreifenden Studiums kann eine Weiterbildung(4) in einem speziellen Verfahren, z. B. psychodynamische(4), d. h. tiefenpsychologisch fundierte (TP), und psychoanalytische Therapie (PA(1)) bei Kindern und Jugendlichen angeschlossen werden mit der Möglichkeit des Erwerbs der jeweils anderen Fachkunde für die jeweils andere Altersstufe. Die Durchlässigkeit und Flexibilität ist also sehr groß geworden, und der Beruf des Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten(3) deutlich aufgewertet und dem des Erwachsenentherapeuten gleichgestellt.

Diese Neuerungen in der psychodynamischen(7) Aus- und Weiterbildung(5) – und dass international »psychodynamisch« die gebräuchliche Form ist – sind der Grund dafür, weshalb in diesem Buch zumeist der Begriff psychodynamisch gebraucht wird, unter dem im deutschen Kassensystem die Finanzierung(2) von tiefenpsychologisch fundierten und von analytischen Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen erfolgt. Die Psychodynamik(8) ist also das »gemeinsame Dach«, unter dem international, aber auch in den anderen deutschsprachigen Ländern, diagnostische und therapeutische Arbeit geleistet wird.

Dieses Buch hat sich zum Ziel gesetzt, auf dem Hintergrund von Theorien, Forschungsbefunden(3) und therapeutischer Praxis einen Beitrag zu wesentlichen Arbeitsschwerpunkten von Jugendlichen-Psychotherapeuten zu leisten. In den letzten 20 Jahren hat sich das Interesse an dieser Entwicklungsphase – der Jugend – verstärkt und die therapeutische Vorgehensweise stark verändert, und zwar auf Grund von folgenden Entwicklungen:(1)

  1. Eine größere Differenzierung in den ätiologischen(1) Faktoren, die das Verständnis des Einflusses von Entwicklungsfaktoren hervorgebracht und dazu geführt haben, dass diese verstärkt in der therapeutischen Arbeit benutzt werden.

  2. Neurobiologische(2) Erkenntnisse und Ergebnisse der Bindungsforschung(1) wurden stark rezipiert und in ihrer Bedeutung für die Adoleszenztherapie reflektiert.

  3. Der frühen Entwicklung wurde in ihrer Bedeutung für die spätere Psychopathologie(1) stärker Rechnung getragen, etwa durch die Wahrnehmung der Bedeutung früher Traumatisierungen(1) und belastender Lebensereignisse.

  4. Zugleich wurde die Adoleszenz(1) als »Fenster der Vulnerabilität(1)(1)« begriffen, als zentrale Schnittstelle, von der aus sich weitere psychopathologische(2) Entwicklungen, z. B. als Einflüsse auf das junge Erwachsenalter (»emerging adulthood(1)«), zeigen.

  5. Gravierende gesamtgesellschaftliche Veränderungen(1), der Einfluss der neuen Medien(2), Veränderungen in den Familienformen(1) und eine zunehmende kulturelle Diversität waren in diagnostische und therapeutische Konzepte zu integrieren.

(1)Jugendliche Patienten heutzutage unterscheiden sich deutlich von jenen, die noch vor 20, 30 Jahren therapiert wurden. Dieser Krankheitswandel(2) hängt auch mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen(2) zusammen, wie ich in diesem Buch belegen will. Wesentliche Impulse zur Beachtung der Realität(1) – im Vergleich zu den unbewussten(1) Phantasien(1) – kamen von der Bindungsforschung(2). Sie sollen in den nächsten Kapiteln dargestellt werden, ebenso wie entwicklungspsychopathologische(1) Befunde, die von besonderer klinischer Relevanz sind.

Aufgrund der beschriebenen Veränderungen werden Fragen der Diagnostik (etwa durch OPD-KJ), der Behandlungstechnik und auf psychodynamischem Denken gründende neue Behandlungsmethoden(2) wie strukturorientierte Psychotherapie(1), MBT (Mentalisierungsbasierte Therapie)(1) und TFP (Übertragungsfokussierte Psychotherapie)(1) in diesem Buch einen besonderen Schwerpunkt ausmachen. Dabei geht es auch um Fragen der Unterscheidung zwischen Konflikt(1)- und Strukturpathologie(1) sowie Traumapathologie(1).

(1)(2)In Anbetracht der Möglichkeit, die »zweite Chance«(1) (1)(Blos, 2015, S. 19) zur grundlegenden Veränderung der psychischen Struktur zu nutzen, ist die psychodynamische Behandlung(5) von Jugendlichen eine große Aufgabe, die die Kompetenz von Therapeuten herausfordert. Ein Kapitel dieses Buches wird sich daher Fragen der Kompetenz und Professionalisierung (Wer sind wir? Was macht einen »hinreichend guten«(1) Jugendlichen-Therapeuten aus?) widmen. Die später zusammengetragenen Evaluationsstudien(1) unterstreichen, dass diese Altersgruppe sehr von einer solchen Therapie profitiert; die Effektstärken(2) liegen nur wenig unter denen für Erwachsenenbehandlungen. Aber neben der Effizienz(3) hat die Forschung(4) noch viele andere spannende Ergebnisse zur Psychotherapie bei Jugendlichen zu bieten.

(2)(3)Eine psychodynamische Behandlung(6) von Jugendlichen kann sich – wie in weiteren Kapiteln dieses Buches nachgewiesen werden soll – in ihrem Verlauf und in behandlungstechnischer Hinsicht sehr von einer Erwachsenenbehandlung unterscheiden. Daher ist es besonders wichtig, die entwicklungspsychologischen Basisdaten dieser Entwicklungsphase zu kennen, konturieren sie doch den Hintergrund, vor dem sich der psychodynamische Prozess(7) zwischen Therapeut und jugendlichem Patienten entfaltet.

Ich möchte hervorheben, dass, wenn aus Gründen der Vereinfachung von »Therapeut« und »Jugendlichem« gesprochen wird, immer alle Geschlechter gemeint sind. Desgleichen möchte ich betonen, dass, wenn (3)(4) im Folgenden der Begriff der »Adoleszenz(2)« verwendet wird, er ganz unterschiedliche Entwicklungsabschnitte umgreift. Neuere entwicklungspsychologische(5) Forschung(5) hat gezeigt, dass frühere Konzepte einer prolongierten oder sogar pathologisch prolongierten Adoleszenz(1)(1) (Blos, 1954)(2) nicht mehr zutreffend sind, sondern dass das Auftreten eines neuen, bislang unbekannten Entwicklungsabschnitts zwischen Jugendalter und Erwachsenenalter (»emerging adulthood(2)«, Seiffge-Krenke, 2015a) heute die Regel ist, was für Jugendlichen-Psychotherapeuten die Behandlung von jungen Menschen bis zum 23. Lebensjahr bedeuten kann. Bis zum 21. Lebensjahr muss die Therapie allerdings begonnen worden sein.

(6)Insgesamt wird in diesem Buch durch die Integration vielfältiger interdisziplinärer Theorien und Befunde, durch deren Illustration in Form von Falldarstellungen und dadurch, dass der Fokus auf wesentliche Arbeitsschwerpunkte (wie Diagnostik(1), Fallkonzeption(1), neue Krankheitsbilder(3), neue Behandlungsformen(3), Arbeit an der therapeutischen Beziehung, technische Fragen in der Jugendlichenbehandlung, Elternarbeit(1) und Qualitätssicherung(1)) gelegt wird, Jugendlichen-Therapeuten in der Aus- und Weiterbildung(6) und Jugendlichen-Therapeuten bei ihrer praktischen Arbeit ein komplexer theoretischer Rahmen(1), ein hilfreiches Gerüst an Einsichten und Techniken angeboten. Dabei werden, zusammenfassend, vier Schwerpunkte gesetzt:

In einem Kontext von hohen Einwanderungsraten wie in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland wird die kulturelle Kompetenz(1) als spezifische diagnostische und behandlungstechnische Kompetenz ebenfalls eine Rolle spielen.

2. Kapitel

Theoretische Kompetenz: Das Jugendalter aus psychodynamischer(9) und entwicklungspsychologischer(7) Sicht

(8)Die altersmäßige Umgrenzung des Jugendalters als Entwicklungsabschnitt ist nicht einfach. Während der Beginn der Adoleszenz(3) noch relativ eindeutig das Alter von 12 bis 13 Jahren umfasst, bereitet die Bestimmung der obersten Grenze zunehmend Schwierigkeiten. Das Ende der Adoleszenz ist erreicht, so(1) Freud (1905a), wenn das Individuum ein nichtinzestuöses Liebesobjekt gefunden hat – ein schwierig zu definierendes Kriterium. In der entwicklungspsychologischen Forschung(6) wurde vor einer Reihe von Jahren ein neues, eigenes Stadium zwischen später Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter entdeckt, »emerging adulthood(3)« (1)(Arnett, 2000; Seiffge-Krenke, 2015a).

(9)Orientiert am historischen Verlauf werden in diesem Kapitel zunächst die Konzeptionen der klassischen Vertreter psychodynamischer(10) Adoleszenztheorien wie Sigmund(2) und Anna Freud(1) sowie die Reflexion ihrer Ansätze in älteren Arbeiten vorgestellt. Dann werden die Objektbeziehungstheorien, interaktionistische(1) Ansätze(1) und die Selbstpsychologie(1) dargestellt, deren Ideen, obwohl sie keinen eigenständigen Beitrag zur Theorie der Adoleszenz(4) geleistet haben, bis heute in den meisten aktuellen Ansätzen vertreten werden. Die Bindungstheorie, die im Rahmen der Vorstellung entwicklungspsychologischer Befunde und Theorien besprochen wird,(3) stellt ein Bindeglied zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie dar. Schließlich geht es in diesem Kapitel um Beziehungsentwicklung, Körperkonzept(1), Identität(1) und Stressbewältigung(1) des Jugendlichen, die vor dem Hintergrund der Verarbeitung belastender Erfahrungen bei vielen Patienten bedeutsam sind. Dies wird in den Rahmen(2) der Familienentwicklung in dieser Altersphase eingebettet.

Frühe psychodynamische(11) Ansätze: Von Freud(3) zu Blos(3)

Für alle psychodynamischen(12) Ansätze ist das Konzept des Unbewussten(2) zentral, können unbewältigte frühe Konflikte alle späteren Beziehungen belasten und zu psychischen Symptomen führen (2)(Boll-Klatt & Kohrs, 2018)(2). Dabei ist die Kontinuität zwischen normalen und gestörten Entwicklungsprozessen(1) ein Diktum, das besonders für die Adoleszenz(5) gilt.

Auf die frühen Ansätze von Sigmund Freud(4), von Anna Freud(2) und Erik H. Erikson(1) wird(2) nur kurz eingegangen, da ihre Bekanntheit vorausgesetzt werden kann (vgl. Seiffge-Krenke, 2003a). Etwas ausführlicher wird die Theorie von Peter Blos(4) dargestellt, der sich besonders um eine Differenzierung in einzelne Entwicklungsabschnitte und ihre speziellen Aufgaben bemüht hat.

Sigmund Freud(5): Adoleszenz(6) als endgültige Lösung des Ödipuskomplexes(1), Bisexualität(1)

(1)Das psychodynamische(13) Studium der Adoleszenz(7) begann bekanntlich 1905 mit dem entsprechenden Kapitel in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie(1)«, in denen Sigmund Freud(6) das Erreichen einer endgültigen Sexualorganisation(2) als entscheidendes Charakteristikum dieser Entwicklungsphase(1) herausstellte. Die dort von ihm vertretene Sicht, die Adoleszenz sei vor allem eine Neuauflage ödipaler Probleme(2), hatte weitreichende Konsequenzen; angesichts der Vielzahl von Patienten, die mit ihren Eltern ein spezielles Schlafarrangement(1) teilen, finden wir diese Sichtweise heute erneut bedeutsam (vgl. Kapitel 3).

In wesentlichen Zügen wiederholt(1) die Adoleszenz(8) nach Freud(7) den Ödipuskomplex(2) und muss ihn endgültig lösen. Um das Ziel der reifen Sexualität(3) zu erreichen – nach Freud(8) die Unterordnung der erogenen Zonen unter das Genitalprimat und die Anerkennung der Generationsgrenze(1)(4) –, hat der Jugendliche mehrere Entwicklungsaufgaben zu bewältigen: Er muss den Ablösungsprozess(1) von den Eltern vollziehen, also auf inzestuöse Objektbesetzungen verzichten, sowie gleichgeschlechtliche Neigungen aufgeben, also heterosexuelle(1)(5) Objekte wählen. Wir würden heute die homosexuelle(1) Objektwahl hinzufügen wollen. Interessant ist, dass Freud(9) auf ein bisexuelles Durchgangsstadium(1) hingewiesen hat, besonders deutlich bei den Mädchen, aus heutiger Sicht angesichts der vielen Patienten mit Transgender(1)-Problematik bemerkenswert.

Freuds(10) Sichtweise der »zweiten ödipalen Phase(1)« war sehr einflussreich. In den folgenden Jahren haben dann Siegfried (1)Bernfeld (1923), Alfred Adler (1927)(1) und August Aichhorn (1925)(1) von einer eher praktischen Seite her zum Verständnis von Jugendlichen beigetragen. Aichhorns behandlungstechnisches Vorgehen in der Therapie dissozialer(1) und delinquenter Jugendlicher ist hier zu nennen. Bernfelds protrahierter Typus, dadurch gekennzeichnet, dass er weit über die normale Altersstufe hinaus adoleszente Verhaltensweisen beibehält, ist heute vor dem Hintergrund der neuen Phase des »emerging adulthood(4)« besonders interessant. Blos (1965)(5) beschrieb den spezifischen Ablauf der Adoleszenz(9) beim männlichen Geschlecht, Helene Deutsch (1944)(1) die frühe Adoleszenz bei Mädchen. Sie arbeitete das bisexuelle Schwanken(2) als besonders offenkundig bei Mädchen heraus. In der Tat lässt sich belegen, dass weibliche Jugendliche in der frühen Adoleszenz mit gleicher Heftigkeit heterosexuelle(2) und homoerotische(2) Beziehungen aufnehmen (vgl. Seiffge-Krenke, 2017a).

Anna Freud(3): Entidealisierung(1) der Eltern, Trauerarbeit(1) und jugendspezifische Abwehrmechanismen(1)

(2)Anna Freud(4) beschäftigte sich eingehender als ihr Vater mit diesem Entwicklungsabschnitt. 1936 veröffentlichte sie zwei Aufsätze, »Das Ich und das Es(1) in der Pubertät(1)« und »Triebangst in der Pubertät«, in denen sie die konfliktträchtige und quantitative Veränderung der Triebe mit dem Eintritt in die Pubertät belegt. Für sie bedeutet

(3)(2)»die Pubertät(2) ihrem Wesen nach die Unterbrechung einer Periode friedlichen Wachstums, […] das Weiterbestehen von innerem Gleichgewicht und Harmonie dagegen eine abnorme, nicht eine normale Erscheinung, die dringend einer Behandlung bedarf« (A. Freud, 1960,(5) S. 21).

(4)(3)Anna Freud(6) hält die Verlagerung libidinöser Besetzungen der Elternrepräsentanzen(1) auf nichtinzestuöse Objekte außerhalb der Familie für das zentrale Problem der Adoleszenz(10). Hierzu ist eine spezielle Trauerarbeit(5) erforderlich, die an einen realen Objektverlust(1) erinnert.

Im idealen Fall reduzieren sich Angst und Schuldgefühle(1) mit dem Abzug von Besetzungen. Zur Bewältigung der Ängste setzt das Ich alle ihm zur Verfügung stehenden Abwehrmechanismen(2) aus jeder Entwicklungsstufe ein. Im Einzelnen unterscheidet Anna Freud (1958,(7) S. 269)(4):

  1. (6) Abwehr(1) gegen infantile Bindungen(1) durch Verschiebung der Libido auf andere Objekte (abrupte Besetzung außerfamiliärer Objekte wie Freunde) bzw. durch Verkehrung eines Affektes(1) in sein Gegenteil (Verleugnung(1) von positiven Gefühlen, provokantes, aggressives Verhalten);

  2. Abwehr(2) gegen triebhafte Impulse durch Askese(1)(1) (den Versuch, jegliche Triebbefriedigung zu unterdrücken; dazu gehören auch Bedürfnisse wie Schlaf und Nahrung) bzw. durch Intellektualisierung(1) (die gedankliche Meisterung der Triebwünsche, die sich oft in endlosen Diskussionen über abstrakte politische Themen äußert).

(7)(5)Anna Freud(8) hebt besonders die Abwehrmechanismen(3) der (2)Askese(2) und der Intellektualisierung(2) als für das Jugendalter charakteristisch hervor. Da sich diese Abwehrmechanismen(1) gegen Triebabkömmlinge aus allen prägenitalen Phasen richten, ist das pathologische Erscheinungsbild des Jugendlichen variabel und unberechenbar. Fluktuationen zwischen extremen Gegensätzen – wie Ablehnung vs. Erfüllung eigener Triebimpulse, Hass vs. Liebe zu den Eltern, Auflehnung vs. Abhängigkeit von den Eltern, idealistisches, selbstloses vs. egozentrisches(1), berechnendes Verhalten – sind ihrer Auffassung nach für Jugendliche angemessen und durchaus normal. Dieser Umstand lässt eine Differentialdiagnose(1) zwischen jugendtypischem »Aufruhr« und wirklicher Pathologie zum Problem werden (A. Freud, 1958)(9).(8)(1) Wichtig ist auch das Konzept der Entwicklungslinien. Anna Freud (1965)(10) hat darauf hingewiesen, dass Imbalancen in einzelnen Entwicklungsbereichen relativ häufig sind.

Erikson(3): Identitätsentwicklung(1)(2) und die Notwendigkeit eines Moratoriums(1)

Im Vergleich zu Freuds Konzeption gibt Erikson dem Unbewussten und der psychosexuellen Dimension weniger Raum und bezieht den Entwicklungskontext stärker ein. Seine Arbeiten (Erikson, 1950, 1956, 1970 [2003]) verdeutlichten, dass das Phänomen der Adoleszenz(11) nicht nur durch eine Zunahme der Triebimpulse und deren Abwehr begründet werden kann, sondern eine psychosoziale Notwendigkeit darstellt, die wesentlich zur Integration(1) des Jugendlichen in die Gesellschaft beiträgt. Auf jeder der acht von ihm beschriebenen Entwicklungsstufen hat das Individuum einen typischen Konflikt zu lösen, dessen befriedigende Bewältigung und Integration in die nächstfolgende Stufe die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Ichs und der Ich-Identität(3) bilden.

(2)Die Adoleszenz(12), als fünfte seiner Grundphasen, wird durch die Antithese von Identität(4) vs. Identitätsdiffusion(1) charakterisiert. Erikson(4) weist darauf hin, dass Jugendliche eines Moratoriums(2) bedürfen, bevor sie als junge Erwachsene endgültig eine spezialisierte Arbeit ergreifen können und zur Intimität fähig sind (Erikson, 1970 [2003](5)). Die endgültige Identität(5), wie sie am Ende der Adoleszenz feststeht, schließt die Auseinandersetzung mit allen bedeutsamen Identifizierungen(1) der Vergangenheit ein. Dass diese Integration(2) eine schwierige Leistung der Ich-Synthese darstellt, die nicht ohne Konflikte und Krisen abläuft, verdeutlicht das folgende Zitat:

(2)»Es ist nicht immer einfach, sich daran zu erinnern, daß […] die Adoleszenz(13) kein Leiden ist, sondern eine normative Krise, das heißt eine normale Phase erhöhten Konflikts, gekennzeichnet sowohl durch eine scheinbare Schwankung in der Ich-Stärke(1) wie durch ein hohes Wachstumspotential.« (6)(Erikson, 1970 [2003], S. 167 f.)

(3)(3)Die Weiterentwicklung der Identität(6) geschieht also in einer Phase, die Erikson(7) als »normative Krise« bezeichnet. Mit Identitäts- oder Rollendiffusion sind dagegen für den Heranwachsenden problematische Entwicklungsverläufe gemeint. Erikson (1970 [2003])(8) sieht im Potential einer Gesellschaft, das dem Jugendlichen ermöglicht, sich mit neuen Rollen zu identifizieren und ein Moratorium zulässt(2), eine wichtige Hilfe bei der Identitätsbildung(4)(7). Damit kommt Erikson(9) den Theorien, die in der Entwicklungspsychologie(10) u. a. auf der Grundlage umfangreicher Studien gegenwärtig vorherrschen, sehr nahe(4).