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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Stadtarchiv Chur

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-681-4

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Für Sandra und für Lukas

 

Achte jedes Mannes Vaterland,
aber das deinige liebe!

Gottfried Keller,
«Das Fähnlein der sieben Aufrechten»

PROLOG

Meiersboden, Samstag, 18. Juni 1949

Gisela lag in dieser stürmischen Sommernacht nur einen Steinwurf vor dem abgelegenen Gasthaus bäuchlings in der feuchtkalten Erde. Der Föhnsturm, der seit dem späten Nachmittag ständig an Stärke zulegte, riss über ihr an den Zweigen der mächtigen Kastanie.

Sie war an Ort und Stelle derart hart aus dem Hinterhalt gepackt worden, dass ihre Gegenwehr wie eine Kerzenflamme im Wind erloschen war. Nicht mal um Hilfe rufen konnte sie, denn in ihrem Mund steckte sofort ein Knebel, und die dadurch gedämpften Schreie konnte die alte Wirtin im Tosen nicht bis ins Innere der Spelunke hören. Rücksichtslos drückte die Gestalt ihr nun ein Knie ins Kreuz, während sie ihr die Hände hinter den Rücken fesselte.

Ein grober Jutesack wurde ihr über den Kopf gestülpt. Dabei kam ihr der Angreifer so nahe, dass Gisela die Wärme des Atems am Hals fühlen konnte, während dieser den Strick um ihre Hände fester zurrte.

Was wollte er von ihr? Sie etwa vergewaltigen, demütigen oder ihr bloss einen Höllenschrecken einjagen? Letzteres wäre ihm bestens gelungen. Wenn er sie nämlich nur töten wollte, wäre dies mit einem Messer – oder mit was auch immer – doch schon längst geschehen, dachte Gisela, während sie von der Gestalt auf den Rücken gedreht und mit einer Hand durch den Sack hart am Kinn gepackt wurde, als würde der Kerl ihr damit sagen wollen: «Jetzt hör mal gut zu, verstanden?»

Durch den Jutesack sickerte schwach der dunkelrote Schein der roten Laterne, die unweit daneben brannte und dem Gasthaus seit vielen Jahren seinen Namen verlieh. Der Kopf des Angreifers hob sich dunkel in diesem ab.

Gisela glaubte, dessen Hass zu spüren, als fiele er wie Regentropfen auf sie, und das machte ihr Angst. Sie versuchte ihn zu fragen, was er denn wolle, was sie, Gisela, bloss getan habe, doch mehr als erstickte Laute brachte sie nicht hervor. Ausserdem musste sie des Knebels wegen mit der Luft haushalten. Begierig sog sie diese durch die geblähten Nasenflügel ein.

Einen Moment lang verharrte die dunkle Silhouette wie der Schatten einer Statue über ihr, so als müsse sie erst überlegen, was zu tun sei, dann verschwand sie aus dem mattroten Schein.

Gisela versuchte in die Dunkelheit zu horchen, die Schritte zu verfolgen, doch das Rauschen der vielen Bäume in den scharfen Windböen und das Scheppern des Eisengatters am Schweinestall übertönten alles.

Sie nahm sich vor, sich ganz still zu verhalten, tot zu stellen, und wenn in wenigen Minuten nichts mehr passierte, würde sie sich langsam aufrichten, denn ihre Füsse waren nicht gefesselt. Sie müsste nur aufs rote Licht der Laterne zusteuern, um das dreissig Meter dahinter liegende Gasthaus zu erreichen, dann an die Haustüre treten, damit die Wirtin sie befreien käme – das war ihr Plan, der sie nicht in sinnlose Panik verfallen liess.

Doch Gisela Möckli kam nicht weiter in ihren Gedanken, weil sie erst aufgerichtet, dann am Arm gezogen weggeführt wurde. Fast erleichtert stellte sie nach wenigen Metern fest, dass sie direkt im roten Schein der Laterne stehen geblieben waren, der nun satt durch den Jutesack drückte.

Die nackte Angst wallte in ihr hoch, als die Gestalt ihr eine Schlinge um den Hals legte, zuzog und sie damit zeitgleich so weit in die Höhe hob, dass sie nur noch auf ihren Zehenspitzen stehen konnte.

Erhängen?

Das war der einzige und ebenso absurde Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, während ihre Zehenspitzen sie weiter vom rettenden Boden hochstemmen mussten, als wäre sie eine Ballerina, die den sterbenden Schwan tanzte, denn gleichzeitig kämpfte sie um jeden Atemzug.

Immer wenn sie glaubte, es keinen Moment mehr länger aushalten zu können, reichte die Luft dennoch, um die anschwellende Ohnmacht in Schach zu halten. Zudem dehnte sich die Schlinge, sodass sie nach und nach endlich ihre Füsse wieder flach auf den Boden stellen konnte, wenn auch nur behutsam, damit der Hals nicht weiter zugeschnürt wurde.

In grausamer Qual verstrichen die Sekunden, denn weiter liess sich die dicke Schlinge nicht dehnen, und ihre Hände bekam sie nicht frei, ebenso wenig den Knebel aus dem Mund.

Warum?

Warum und vor allem wer versetzte sie auf diese Weise in grausame Todesqualen, fragte sie sich, die Panik weiter unterdrückend. Den Begriff von Zeit verlor sie dabei zusehends. Es war ihr, als verharre sie eine unbegreiflich lange Zeit in dieser Haltung, als der Stoffknebel vom Speichel durchnässt sich so weit zusammenzog, dass grosse Hoffnung in ihr aufkeimte, die ihren Überlebenswillen antrieb. Sie schaffte es endlich, durch den Mund, am Knebel vorbei, zu atmen. Was für eine Erleichterung. Sie kaute weiter auf dem gedrehten Stoff wie ein nervöses Pferd an seinem Maulgeschirr, bis sie ihn endlich mit der Zunge ausstossen konnte.

Glückselig atmete sie einen Atemzug durch, um nach der Wirtin zu schreien, als ein kräftiger Zug am Seil sie hochriss – so hoch, dass ihre Füsse verzweifelt ins Leere zappelten, während die Erstickung einsetzte.

In ihren Ohren begann es zu rauschen, als käme die Plessur nach einem heftigen Gewitter weit hinten im Schanfigg aus dem Tobel geschossen. Ihr Körper wand sich weiter im gespenstisch roten Schein, die Schatten der Zweige über ihr tanzten zu ihren Füssen. Verwaschen vernahm sie als letztes Geräusch in dieser Welt aufgeregtes Hühnergegacker, bevor die Hunde anschlugen. Deren Gebell verstummte leiser werdend irgendwo in ihr drin, in einer so tiefsamtschwarzen Stille, welche das Tor zur finsteren Ewigkeit aufstiess.

1

Der Mond hing bleich wie die Sichel des knöchernen Sensenmannes zwischen den schwarzen Silhouetten von Pizokel und Mittenberg, während der stürmische Nachtwind über ihre Flanken ins Tal brauste, sodass der Bergwald ächzte und hin und wieder das Knacken eines morschen Astes zu hören war.

Landjäger Caminada trampte mit ausgeschaltetem Hilfsmotor, über seinen Velotöfflilenker gebeugt, ins Täli, dem südöstlichen Churer Quartier, dessen schmucklose Häuser sich nach dem Totengut nur noch linksseitig in die Schlucht reihten, als wären sie das löchrige Gebiss des felsigen Schlunds.

Als er am Totengutbrückli vorüberfuhr, schlug hinter seinem Rücken die St. Martinskirche drei Mal. Die tiefen Klänge hallten leise aus der Altstadt gegen den Wind ins Täli.

Die wenigen Gebäude, die an dieser Stelle wie mit einem Hammer in den zunehmend stotzigeren Hang getrieben ihren Platz gefunden hatten, lagen im Dunkeln. Einzig im Krankenasyl Sand, das am Schluchteingang und nur drei Steinwürfe oberhalb der Strasse stand, hatte Caminada noch Licht entdeckt. Der von der Strassenlaterne geworfene gelbe Schein vermochte dem Eindruck von Düsternis nicht zu wehren. In ihrem Lichtkegel tanzten die Schatten der Zweige und Büsche wie Krähen im Sturmwind. Die schlecht gekieste, nur fuhrwerksbreite Strasse lag nach dem Totengutbrückli ebenso im Stockdunkeln wie das Geleise der Arosabahn, das parallel der Plessur folgend zuhinterst im Loch des Bergs verschwand.

Je tiefer der Landjäger ins Täli fuhr, desto steiler drückten die schwarzen Wände, und kühler Hauch blies ihm entgegen. Der Nachthimmel über ihm hob sich vom Mondlicht getüncht matt ab, bevor wieder Wolkenfetzen vor der mageren Sichel vorbeijagten und die Dunkelheit wie ein schweres Tuch über die Schlucht zogen und fallen liessen.

Verwesungsgeruch stieg Caminada trotz des Sturmes in die Nase, als er die heruntergekommene Gerberei passierte, die der Alkoholiker Schwinta-Hitsch betrieb. In der Nacht nur schemenhaft zu erkennen: An deren Zaun angrenzend befanden sich die alte Sägerei und der kleine Schrottplatz der Gruber-Sippe, welche sich ebenfalls in den schmalen Flecken Land zwängten, den die Schlucht hier freigab.

Als er sein Velotöffli mit einem Schwenk an den Rand der rechten Strassenseite dirigierte, schoss in diesem Moment knurrend der Rottweiler der Grubers aus der Dunkelheit auf ihn zu. Das Rasseln der schweren Kette war kaum zu hören, bevor diese den Hund ruckartig vor dem Strassenrand zurückriss. Es war nicht Caminadas erste Begegnung mit dem Tier gewesen, das gewiss jedem Fremden einen Höllenschrecken einjagen konnte, und das auch bei Tag.

Ein kräftiger Windstoss wirbelte Staub ins Gesicht des Landjägers, als er direkt nach den Gebäuden die alte Holzbrücke über der Plessur überquerte, nur wenige Meter bevor das Geleise vom dunklen Berg verschluckt wurde.

Auf der rechten Schluchtseite folgte er der kurvigen Strasse wenige hundert Meter bergwärts. In der Dunkelheit türmten sich die Stützmauern aus schweren Natursteinen, die die stotzigen Flanken in Schach hielten, links schützte ein Eisengeländer vor einem Sturz ins Tobel, bis sich wundersam der Meiersboden zwischen den Bergriesen auftat.

Umsäumt von hohen Laubbäumen, die wellenartig aufrauschend den Wind einfingen, lag am Rande der grossen Waldlichtung die berüchtigte Rote Laterne. Eine Böe liess ein Gatter klappern, während Caminada sein Gefährt auf den schwarzen Gebäudeumriss der Spelunke zuschob, vor dessen dunkler Eingangsfront die Laterne rot leuchtete. Der gespenstisch dunkle Umriss in deren schauerlichem Schein war der Grund, warum er mitten in der Nacht in die Pedale getreten war.

Als er sich auf wenige Schritte genähert hatte, schlugen im Zwinger hinter dem Gasthaus die Hunde bedrohlich ihr tiefes Gebell an. Keine Minute später schwenkte die hölzerne Eingangstüre auf, sodass gelblicher Schein auf die dreistufige Treppe darunter fiel. Ungeachtet dessen trat Caminada näher an den roten Lichtkegel – in diesem hing, vom Wind sanft pendelnd, die junge Serviertochter Gisela Möckli!

«Landjäger Caminada?» Hermine Montalta, die stämmige, raubeinige Wirtin, hob eine Petroleumlaterne in die Höhe und kam die Stufen am Eingang herab und über den gekiesten Weg auf ihn zu. In ihrer Linken hielt sie fest umschlossen eine doppelläufige Flinte. Sie schien aufgeregt zu sein. Hinter ihr trat ebenfalls mit einem Gewehr in der Hand Schwinta-Hitsch aus der Türe.

«Truurigi Sach.» Caminada liess den Blick nicht von der Toten ab, die nun im Licht der Petroleumlampe besser zu erkennen war: Sie war mittelgross und zierlich, trug einen schwarzen Jupe, der nur bis über ihre schmalen Knie reichte, dazu eine weisse, schlichte Bluse, die typisch war für Serviertöchter. Einer ihrer Schuhe lag seitlich umgekippt am Boden, ihr Gesicht war nach vorne eingeknickt, ihr wehendes hellbraunes Haar verdeckte es. Ein aufgeschnittener Jutesack hing seitlich über ihrer linken Schulter. Und noch was nahm Caminadas Aufmerksamkeit in Beschlag – die Tote hing nicht etwa an einem Seil, erst sah es aus wie ein langer Schal, doch beim näheren Betrachten erkannte er die goldbestickten Glaubenssymbole auf einer violetten Stola, die zweifellos einem kirchlichen Würdenträger gehören musste.

«Frau Montalta, stimmt es, haben Sie das Fräulein gefunden? Und wann?» Caminada drehte sich ihr zu und behielt seine Schlussfolgerung für sich.

«Stimmt, vor gut einer Stunde», antwortete diese aufgeregt mit ihrer tiefen und kräftigen Stimme, die auch zu einem Mann gepasst hätte. Sie stellte ihr Gewehr an den Baumstamm hinter ihr.

«Also gegen zwei Uhr?» Caminada griff sich nachdenklich ans Kinn. «Wie lange habt ihr denn diesmal die Polizeistunde überschritten?» Er wusste wie jeder in Chur und den Dörfern ringsum – in der Roten Laterne wurde die Polizeistunde nie eingehalten, und genau das zog Gäste ins Loch.

«Wir hatten heute nur bis um eins offen, und kurz vor zwei Uhr fand ich sie.» Sie zitterte, als fröre sie.

«Und wieso haben Sie die Erhängte so spät gefunden? Da geht doch keiner mehr spazieren.»

«Die Hühner waren schuld, sonst wüsste ich es noch immer nicht.» Sie strich sich mit der Rechten über ihren Mund.

«Die Hühner? Des Sturmes wegen?»

In dem Moment riss eine weitere Böe an ihnen. Der Schatten der sich drehenden Erhängten pendelte über den Boden.

«Nein, ich wurde im Restaurant vom lauten Gegacker hochgeschreckt, hatte gerade die Kassaabrechnung fertig gemacht und wollte ins Näscht. Packte natürlich sofort meine Flinte, die Lampe und stürmte über den Hintereingang raus. Das Gatter zum Gehege stand offen, der Fuchs hatte sich soeben ein Huhn geholt. Ich schoss dem Sauhund noch hinterher, muss im Hellen dann schauen, ob ich den wenigstens angeschossen habe.»

«Und dann haben Sie die Gisela gefunden?»

«Nicht sofort. Ich hatte einen Riesenzorn im Ranzen, da die mit Sicherheit nach dem Füttern das Gatter schon wieder offen gelassen hatte. Vor Tagen hatte ich es schon mal bemerkt und sie ermahnt. Deshalb lief ich durch den Hintereingang zurück ins Haus, wollte sie in ihrer Kammer aufscheuchen, um ihr diesmal die Leviten mehr als nur khörig zu lesen.»

«Und da nehme ich an, ihr Bett war leer.»

«Ja, Landjäger Caminada.» Verzweiflung stand in ihren Augen. «Ich war mir beim Hochlaufen sicher, dass sie des Schusses wegen entweder im Bett stand oder spätestens danach nach draussen gelaufen sein musste. Ich ging deshalb aus dem Vordereingang, um sie zu suchen – da sah ich sie hier an der roten Laterne hängen.»

«Wann haben Sie sie denn zuletzt lebend gesehen?»

«Das ist ja das Verrückte, höchstens etwas mehr als eine halbe Stunde davor.»

«Wie das?» Caminada sah im gelbrötlichen Schein, dass die Wirtin mit ihren Gefühlen kämpfte.

«Wir hatten heute volles Haus. Punkt ein Uhr war wie gesagt Polizeistunde, und Gisela und ich räumten bis kurz vor halb zwei nur das Gröbste auf, dann schickte ich sie ins Näscht, während ich noch die Abrechnung machte.»

Caminada nickte. «Und als Sie sie gefunden hatten, da gingen Sie sofort los, um das Ländjägerkorps zu alarmieren?»

«Hier hinten gibt’s doch weiterhin kein Telefon. Die Herren Stadträte haben ja jeden Rappen für das Eidgenössische Schützenfest ausgegeben, damit die Stadt nächsten Donnerstag ja gar fein säuberlich und festlich geschmückt zur Eröffnung dasteht. Das Täli hat man wie immer vergessen, als wären die in der Stadt vorne was Mehrbesseres als unsereiner. Die haben doch die Strasse nicht aus Versehen nur bis zum Totengut geteert. Der Name Sandstrasse kommt ja nicht von ungefähr …»

«Abgesehen davon, dass das Stadtgebiet unten im Sassal beim Brückli endet und wir hier im Meiersboden auf Churwaldner Gebiet stehen, weiss ich schon, was Sie meinen. Aber glauben Sie mir eins: Stände die Rote Laterne auf Stadtgebiet, hätte das Stadtpolizeiamt schon längst andere Sitten aufgezogen. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Also, was haben Sie nach dem Auffinden der Toten gemacht? Und wie konnten Sie überhaupt sicher sein, dass sie bereits tot war?»

Das Aufbegehren der Tälibewohner war auch Caminada seit Jahren bekannt, und deren Anliegen waren auch nicht von der Hand zu weisen. Einige Stimmen sprachen daher sogar von Unterdrückung, weil neben den italienischen Emigranten nur sozial schwache Aussenseiter, Künstler, Trödler und Vaganten im Schattenloch hausten, wo billiger Wohnraum vorhanden war. Allen voran setzte unverhohlen Stadtpräsident Cadlini auf Widerstand, und so wurde kaum ein Franken ins Täli investiert.

«Landjäger Caminada, es war so», Hermine nahm einen tiefen Atemzug, «als ich sie hängen sah, an den Kleidern erkannte ich sie, hatte sie ja noch diesen Jutesack über den Kopf gestülpt, der mit der Schlinge um den Hals fest zugeschnürt war. Ich schnitt den Sack auseinander und sah ihr Gesicht …» Sie blickte erst zu Boden, dann der Toten ins Gesicht. «Sie sah genau wie jetzt auch da schon zum Grausen aus …»

Schwinta-Hitsch trat einen Schritt näher von hinten an sie heran und legte ihr seine Hand tröstend auf die kräftige Schulter.

Die Wirtin fing sich rasch. «Die war mausetot. Trotzdem fasste ich ihr an die schmale Brust – kein Herzschlag, kein Atmen.» Sie starrte wieder zu Boden. Caminada wusste, das war eine der Gesten, die Menschen nutzten, wenn sie sich kurz sammeln mussten. «Also hockte ich mich auf mein Velo und fuhr zum Tälieingang, ins Krankenasyl Sand, denn erst dort gibt’s das nächstbeste Telefon. Ich bat die Nachtwache, das Landjägerkorps zu alarmieren, dann fuhr ich im stürmischen Wind zurück und hielt bei ihm.» Sie deutete auf Schwinta-Hitsch. «Traute mich doch nicht mehr alleine hierher. Also klopfte ich ihn wach, wir sind ja seit einigen Monaten ein Paar, und bat ihn mitzukommen, auch wenn ich wusste, dass er seit zwei Tagen mit einer Magen-Darm-Grippe im Näscht lag.»

«Sie war völlig aufgelöst, als sie bei mir klopfte. Ich brauchte leider einen Moment, dann hockte ich mich auf meinen Göppel und begleitete sie her. Das ist ja das Mindeste, was ich in so einem Fall tun kann.» Schwinta-Hitsch nickte Hermine zur Aufmunterung zu.

«Einen Verdacht, was passiert sein könnte?» Caminadas Blick fiel wieder auf die Hängende, die wegen einer Windböe sich nun gespenstisch langsam drehte.

«Wollen wir in dem huara Luft nicht reingehen, um weiterzureden?» Hermine zeigte mit der Petroleumlampe Richtung Türe und zog ihre Strickjacke enger um ihren fülligen Körper, als die nächste Böe noch heftiger an ihnen riss und ein kleines Wellblech gefährlich über den Vorplatz wirbelte, bevor es an den Geissenstall knallte, sodass die Tiere darin unruhig trampelten und ihre kleinen Glocken dabei schellten.

«Wenn man mich hier nicht mehr braucht, würde ich mich gerne wieder hinlegen. Mit so einer Grippe ist man nur ein halber Mann.» So gab Schwinta-Hitsch zu verstehen, dass auch er dafür war, ins Gasthaus zurückzugehen.

Caminada nickte.

«Leg dich oben in mein Zimmer, wäre froh, wenn ich diese Nacht nicht alleine hier hinten hocken muss.» Mit diesen Worten zog Hermine die Eingangstüre auf, und Schwinta-Hitsch schlurfte etwas kraftlos das Stiegenhaus hoch, während sie auf die Holztüre zusteuerte, auf der auf einem Messingschild in schwarzen Buchstaben «RESTAURANT» geschrieben stand.

In der Beiz war säuberlich aufgestuhlt worden, die wenigen Lampen spendeten schummriges Licht. Die kleine Holzbühne war durch einen roten Samtvorhang nur halbwegs verdeckt, vor den Fenstern waren die dicken Nachtvorhänge zugezogen. Es roch dumpf nach Rauch, Holz und verschüttetem Alkohol – der Boden war noch nicht gewischt, wie Caminada feststellte.

Hermine nahm einen Barhocker vom Buffet und schob Caminada einen Aschenbecher zu. «Kaffee?»

«Danke, den könnte ich jetzt tatsächlich vertragen.» Caminada strich durch sein dunkles, fülliges Haar, das nur an den Schläfen leicht grau meliert war und das der Sturm zerzaust hatte. Seinen Hut, ohne den er sonst keinen Schritt aus dem Haus machte, hatte er wohlweislich daheim gelassen.

Hermine hantierte mit dem Kolben der sperrigen Kaffeemaschine und brühte zwei Tassen, als das Licht flackerte. Caminadas dunkle Augen blieben einen Moment verwundert auf dem teuren Kaffeehalbautomaten hängen. Nur im ehrenwertesten und teuersten Hotel Steinbock am Bahnhof hatte er bisher einen solchen gesehen. Anders als die Jukebox mit ihren farbigen Lichtelementen, die an der Wand stand, wo es zu den Toiletten ging. Solche gab es mittlerweile in jeder zweiten Beiz.

«Frau Montalta», begann er, nachdem er einen Gutsch Milch und einen Teelöffel voll Zucker in den Kaffee eingerührt und einen Blick auf den Berg ungewaschenen Geschirrs geworfen hatte, das sich im und um den Schüttstein türmte. «Haben Sie eine Ahnung, wer aus welchem Grund so ein Verbrechen an einem so jungen Fräulein begeht?»

Hermine, die Wirtin mit etwas Oberlippenbehaarung und gekrauster Kurzhaarfrisur, klopfte mehrmals mit der Rechten auf die Bar, goss sich dann einen Schluck Schnaps in den Kaffee und sagte: «Die Kleine hat Probleme gehabt. Etwas hat sie gewurmt.»

«Gewurmt? Deswegen hängt sie doch niemand auf.» Caminada trank leise schlürfend vom heissen Kaffee. Fragend sah er über den Tassenrand hinweg dabei die Wirtin an, die er von anderen Einsätzen her bereits kannte. Grund dafür waren fast immer Männer, die sich erst mit dem Alkohol, dann mit der Wirtin oder anderen Gästen angelegt hatten.

«Das ist das falsche Wort. Seit zwei Wochen war sie unzuverlässig wie sonst was, und das kann ich weiss Gott hier nicht gebrauchen.»

«Das heisst, irgendwas hat das Fräulein Möckli beschäftigt. Und wissen Sie, was der Grund dafür sein könnte?»

«Nein, vergesslich war sie und unruhig, mehr weiss ich nicht. Eben wie das Gatter nach der Fütterung der Hühner nicht richtig zu verschliessen. Weiss der Teufel, was in deren Oberstübli alles los war.» Zur Unterstreichung ihrer Worte tippte sie mit dem Zeigfinger an ihren Kopf.

«Wie lange serviert sie schon hier? In dieser Knelle hier hinten ist es bestimmt für ein so junges Fräulein nicht immer einfach.»

«Wo ist es heutzutage denn schon einfach? Also hier drinnen braucht es gwehrigi Serviertöchtera, die nicht bei jedem Füttla- oder Tütigrapscher in Ohnmacht fallen. Aber zur Not bin ich ja auch hier. Hab denk schon darauf geachtet, dass niemand von meinem Personal zu Schaden kommt, wenn’s mal wieder drunter und drüber gegangen ist. Zur Not half mir der Sepp …»

Auf Caminadas fragendes Gesicht hin holte sie mit einem Schmunzeln einen zünftigen Holzknüppel unter der Bar hervor. Bei dessen Anblick in Hermines kräftiger Hand bezweifelte er nicht die Wirksamkeit, während sie weiterredete. «Aber dass so was Schlimmes, und das auch noch im Schein der roten Laterne, passieren würde, während ich nur einen Steinwurf daneben die Abrechnung mache – mich gruselt’s …»

«Apropos Serviertöchtera – standet nur ihr zwei in der Beiz? Bei vollem Haus, und das an einem Freitagabend, an dem die meisten ihren Wochenlohn bekommen, reicht dies doch bestimmt nicht.»

«Z’Käthy Gruber servierte auch.»

«Und wo ist diese jetzt?»

«Bestimmt daheim. Die wohnt ja mit ihren drei Brüdern unten im Sassal, direkt vor dem Brückli. Dort, wo der Rottweiler immer so tobt.»

«Jaja, wer kennt den Hund nicht. Ich habe soeben wieder Bekanntschaft mit ihm gemacht. Und wann ist sie gegangen?»

«Sie ist kurz vor halb zwei Uhr mit dem Velo losgefahren. Ich musste ihr noch nachrennen, sie hatte ihre Handtasche vergessen.»

«Alleine? Hinunter durch die stockfinstere Schlucht?»

«Ach, das macht der nichts aus. Ist doch eine Gruberin. Das tut sie übrigens jede Nacht, wenn sie schafft. Manchmal gar zu Fuss, wenn sie wieder mal einen Platten hat und ihre Brüder zu faul sind, ihr den zu flicken.»

In dem Moment schlugen die Hunde hinter dem Haus an. Fragend blickte Hermine Caminada an.

«Das wird die Verstärkung sein», stellte der Zweiundvierzigjährige klar. Die Wirtin nahm darauf die Laterne und ging vor die Türe.

Wenige Minuten später trat sie mit zwei uniformierten Landjägerkorps-Beamten und Peter Marugg ein.

«Guata Obig, Walter. Stürmisch heut Nacht.» Marugg, erst dreissigjährig, begrüsste Caminada freundschaftlich, der noch immer an der Bar vor seinem Kaffee sass.

«Hast du den Weg also auch gefunden?» Caminada winkte dabei die beiden uniformierten Polizeimänner zu sich, die bei der Eingangstüre stehen geblieben waren.

«Und?» Die Frage des Rothaarigen mit der runden Nickelbrille im bubenhaft wirkenden Gesicht galt dem Landjäger, während er sich neben diesen stellte, bevor er Hermine zunickte, die daraufhin auch für die Neuankömmlinge Kaffee brühte.

«Ihr habt ja das Fräulein im roten Schein der Laterne hängen sehen. Die beiden Fragen, die sich mir im Moment stellen, sind: Wer hat es getan und wieso? Und dazu brauche ich so einen wackeren Erkennungsfunktionär, wie du einer bist.» Caminada zündete sich eine Villiger-Krumme an. «Weisst du, Peter, ich frage mich, was die um diese Zeit und bei diesem Sturm aus dem Haus gelockt hat.» Er schnippte den Deckel seines Petroleumfeuerzeugs zu und erzählte, was er bisher von Hermine Montalta erfahren hatte.

Marugg reichte derweilen die ersten beiden Tassen den Uniformierten weiter, bevor er seine nach einem ersten Schluck vor sich hinstellte und der Wirtin höflich dankte.

«Also», begann Caminada, nachdem er Hermine gebeten hatte, sie alleine zu lassen, «ich habe alles so gelassen, wie’s war. Einzig die Wirtin hat den Jutesack über dem Kopf des Opfers aufgeschnitten, als sie die Erhängte vorfand. Die Stola wurde, was ich gesehen habe, am Eisenarm, an dem die rote Funzel hängt, befestigt. Der Täter muss seitlich an der kleinen Laterne hochgestiegen sein, Halt fand er dabei an den verschnörkelten Verzierungen. Ich schätze, die Pfunzel ist drei Meter hoch.»

Caminada hielt grosse Stücke auf den jungen Marugg, der erst im letzten Jahr mehrere Monate in Bern bei der Bundespolizei zugebracht hatte, um seine Ausbildung als Erkennungsfunktionär abzuschliessen. Nun stand er als Einziger im gesamten Korps in Graubünden als solcher im Einsatz und dazu als Jüngster im Bunde. Einen besser zu ihm passenden Dienstkameraden hätte Caminada weder finden noch sich wünschen können. Wie vor zwei Jahren versprochen hielt Marugg Wort und ihm den ganzen Schreibkram vom Hals und hatte ihn nie blossgestellt, nur weil Caminada mit Lesen und Schreiben so grosse Mühe bekundete, da sich Buchstaben für ihn zu einem schier unüberwindlichen Bergwirrwarr türmten. Der studierte Marugg war es gewesen, der endlich dem Ganzen nach so vielen Jahren einen Namen gegeben hatte – Dyslexie, Wortblindheit.

«Walter.» Marugg riss ihn aus seinen Gedanken. «Was sagt dir dein Ranzen?»

«Seltsam erscheint mir, dass ein Täter sein Opfer ausgerechnet im Lichtkegel der roten Laterne erhängt und dazu mit Sicherheit bewusst die Stola eines Geistlichen benutzt. Kommt, lasst uns nach draussen gehen.»

«Ich weiss, was du meinst. Dasselbe geht mir auch durch den Kopf.» Marugg leerte mit einem letzten grossen Schluck die Tasse Kaffee, stellte sie auf die Bar zum anderen Schmutzgeschirr und folgte Caminada.

Die beiden Polizeimänner erhellten mit ihren Taschenlampen die Hängende, während Marugg seine Ledertasche öffnete und den Fotoapparat hervorholte, den das Landjägerkorps erst vor drei Monaten endlich anschaffen durfte. Er hielt die bedrückende Situation in schwarz-weissen Bildern fest, bevor sie die Leiche umsichtig herunterholten. Die Stola hatte sich so fest zugezogen, dass Caminada sich schwertat, diese unbeschadet zu entknoten, um die Tote davon zu befreien.

Da das Landjägerkorps noch immer über kein Automobil verfügte, das Stadtpolizeiamt nur über zwei Seitenwagentöffs und der LaSalle vom Stadtrat nicht um Tote zu transportieren eingesetzt werden durfte, war Marugg mit der Nachhut mit einem Pferdekarren gekommen. Sie legten gemeinsam die Leiche in einen grossen, aus Weidenruten geflochtenen Korb, der hauptsächlich benutzt wurde, um Betrunkene oder Verletzte zu befördern.

Caminada strich dem toten Fräulein sorgsam das lange hellbraune Haar zur Seite, nachdem sie den Jutesack entfernt und ihre Handfesseln gelöst hatten. Sie leuchteten ihr ins aufgedunsene Gesicht, die Augen drückten aufgequollen nach aussen, trockener Speichel klebte ihr am Kinn. Auf den ersten Blick schien sie sonst unverletzt – weder an Händen noch Armen trug sie Abwehrverletzungen, nur Fesselungsmale umschlossen ihre schlanken Handgelenke.

«Eruieren wir nun den Todeszeitpunkt.» Marugg holte ein Quecksilber-Fieberthermometer aus der Tasche und zog den Jupe der Toten etwas hoch.

«Sie muss kurz vor dem Tod auf dem WC gewesen sein», stellte er vor sich hinredend fest, «denn sie hat nach dem Eintritt des Todes keinen oder kaum Urin verloren – ihre Unterhose ist ja nicht mal feucht», sagte er, während er das Quecksilberthermometer vorsichtig anal einführte. Caminada blickte respektvoll zur Seite, um die Würde der Toten zu wahren. Er wunderte sich, wie der immer so höfliche Marugg solche Untersuchungen mit einer derartigen Gelassenheit, ja emotionalen Distanz vornehmen konnte.

«Zehn Minuten dauert es nun, bis wir das Ergebnis haben.» Marugg zog den Jupe wieder bis zu den Knien herunter. Da sie die Leiche währenddessen nicht bewegen durften, warteten sie gedankenversunken daneben, und die Stille wurde nur hin und wieder von kurzen Wortwechseln durchbrochen.

«Walter, leucht mal.» Marugg hielt das Fieberthermometer vor sich. «Fünfunddreissig Komma sechs Grad zeigt es auf der Skala an, und wir haben hier draussen achtzehn Grad.» Das zeigte ihm ein Blick auf das Aussenthermometer an. Er entnahm aus einem Seitenfach seiner Tasche eine Anleitung, die er im Wind auf die Ladefläche des Pferdewagens drücken musste, während Caminada weiter mit seiner Taschenlampe leuchtete.

«In Anbetracht der Kleidung und der beiden Temperaturen, dazu der Wind – sie muss zwischen halb zwei und zwei Uhr getötet worden sein.»

«Das bestätigt exakt die Aussage der Wirtin», sagte Caminada. «Und wenn wir nun alles haben, dann lasst sie uns fortbringen, damit wir noch die Umgebung in Augenschein nehmen können.» Caminada mochte keine Toten – und schon gar nicht, wenn es junge Menschen waren.

Sie legten ein Tuch über das Fräulein und verknoteten es fest mit dem Korb, des Sturmes wegen, der in unregelmässigen Schüben die Zweige im Nussbaum über ihnen wütend schüttelte. Mit einem gemeinsamen «Hauruck» hievten sie den Korb auf die Ladefläche.

Die beiden uniformierten Polizeimänner setzten sich auf den Kutschbock, das Pferd legte sich in die Riemen, und karrten hinunter Richtung Schluchtausgang mit dem Ziel: Leichenhalle Kreuzspital.

Dr. Bargätzi sei aus dem Näscht geschellt worden, doch der würde sich bestimmt nicht vor dem Morgen bemühen lassen, liess Caminada Marugg wissen, während sie im Schein ihrer Lampen den Boden rund um die Rote Laterne absuchten, aber nichts fanden. Sie gingen um die gedrungenen Nebengebäude, warfen ihre Lichtkegel in ein jedes, auch in den Schweinestall, bevor sie sich dem Gasthaus näherten. Der Wind zerzauste weiter die Bäume und Sträucher, Staub wirbelte vom Vorplatz in ihre Augen, dennoch blieb die Nacht lau, im Gegensatz zur Kühle unten in der Schlucht.

Als sie ums Hauseck des Gasthauses schlichen, schlugen die Hunde an. Zähnefletschend sprangen sie im Schein der Lampen am Maschendrahtzaun hoch, verbissen sich wie tollwütig im Gitter. Die Wirtin eilte hinzu und brüllte ein «Aus», sodass augenblicklich Stille herrschte, als wären die schweren Tierkörper zu Lämmern geworden.

Bis auf ein im Hühnergehege liegendes, halb totes, wahrscheinlich vom Fuchs gepacktes Huhn entdeckten die beiden Beamten nichts Ungewöhnliches in der Umgebung. Die grosse Wiese in der Waldlichtung dahinter lag im samtenen Dunkel dieser stürmischen Nacht, die umsäumenden Bäume wiegten sich im Wind. Caminada drehte dem Tier kurzerhand den Hals um, damit es vom Leiden erlöst wurde, und trug es mit.

Hermine nahm das Huhn, das ihr Caminada entgegenstreckte, und sie führte die beiden ins Haus, übers knarzende Stiegenhaus hoch in den dritten, den Dachstock, und verschwand wieder nach unten, wie Caminada es gefordert hatte.

Als erste Handlung schoss Marugg mehrere Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln. In Fräulein Möcklis etwas unordentlicher Kammer mit der Dachschräge standen ein Schrank, ein altes Bett und eine in die Jahre gekommene Kommode. Der Spiegel über dieser wies eine blinde Stelle in der linken unteren Ecke auf, die Vorhänge vor dem Fenster, das hin zur Roten Laterne zeigte, waren schlufig gezogen.

Caminada und Marugg begannen gemeinsam das Zimmer in Augenschein zu nehmen. Der junge Ermittlungsfunktionär griff als Erstes in den Bettinhalt, hielt sich das Kissen vors Gesicht und hob die Decke an, bevor er die Rosshaarmatratze kehrte, die direkt auf einem Brett lag.

Das Fräulein schien nicht viel besessen zu haben. Immerhin zwei Paar Schuhe und Sandalen für den Sommer und ein gutes, fast neues für den Winter waren im Schrank zu finden. Etwas Schminke und ein fast leeres Parfümfläschchen sowie ein bebildertes Buch mit Schmetterlingsmotiven lagen auf dem mittleren Schranktablar.

Gemeinsam mit Marugg widmete sich Caminada interessiert der hellbraunen Handtasche, die im untersten Fach im Schrank gestanden hatte. Diese gab erwartungsgemäss am meisten her: ein Portemonnaie mit etwas Geld, ein Ausweis und ein Billett dritter Klasse «Zürich retour» von vor zwei Wochen, dazu ein angebrochenes Pack Zigaretten der Marke «Lucky Strike».

Das, was ihnen wichtig erschien, steckten sie in die rindslederne Tasche oder den Rucksack von Marugg, der diesen am Ende schulterte, nachdem er jeden Gegenstand im Zimmer sorgfältig auf ein Papier notiert hatte.

Vor dem Gehen schärfte Caminada der an der Haustüre stehenden Wirtin ein, dass sie jede neue Erkenntnis umgehend an das Landjägerkorps zu vermelden habe und dass er und Marugg zwecks detaillierterer Einvernahme schnellstmöglich wieder herkommen würden. Die Angst und Verzweiflung stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Obwohl sie eine gwehrige Person war, die bestimmt mit manchem Mannsbild fertigwerden würde, riet er ihr, für diese Nacht zusätzlich die Hunde ins Haus zu holen, auch wenn Schwinta-Hitsch im Gasthaus übernachten täte. Dies obwohl es unwahrscheinlich war, dass es der Täter auch auf sie abgesehen hatte, da sie zuvor nicht angegriffen worden war.

Die Sichel des Mondes hing mittig über dem Pizokel, als Caminada und Marugg den Meiersboden von heftigen Böen begleitet verliessen.

Caminada schob sein Velotöffli die schmale Strasse hinunter zur Brücke. Die Plessur rauschte rechts unter ihnen in ihrem pechschwarzen Flussbett, hinter dem schroffe Felsen hochstiegen, durch deren Inneres der Tunnel der Arosabahn ins Schanfigg führte.

Ein dickes Wolkenband, dessen Ränder vom verdeckten Mond schwach glommen, schob sich über ihnen durch die Nacht. Unten im Sassal angekommen, wo die schmale Holzbrücke die Plessur überwand, verschluckte die engste Stelle der Schlucht das letzte bisschen Licht. Sie fühlten sich dabei, als wären sie in ein Tintenfass gefallen, sie konnten nicht mal mehr ihre Füsse sehen und mussten ihre Lampen einschalten.

«Peter, ich glaube, mit dem Mord an dem Fräulein kommt was auf uns zu.» Caminada blickte in die beiden Lichtkegel vor ihnen, die das Schwarz um sie herum noch düsterer wirken liessen.

«Weisst du was, Walter? Haargenau dasselbe habe ich soeben auch gedacht, doch wir beide sind ein gutes Team.»

«Noch mehr – wir sind Freunde geworden.»

2

Die St. Martinskirche schlug neun Uhr, als durch die östlich gelegenen Fenster des Landjägerkorps die Morgensonne ihre Strahlen warf, während Caminada und Marugg im Arbeitszimmer von Major Kübler an dessen Besprechungstisch hockten.

«Meine Herren, einen solchen Mord können wir fünf Tage vor dem Eidgenössischen wahrlich nicht brauchen. Der im Siebenundvierzig, an dieser Flurina Hassler, hat ja gezeigt, in welchem Durcheinander alles enden kann.»

Der drei Jahre vor seiner Pension stehende Major legte mit strenger Miene den Bericht vor sich auf den Tisch, den Erkennungsfunktionär Marugg trotz kurzer Nacht in aller Herrgottsfrühe verfasst hatte. Dies in drei Durchschlägen und im besten Beamtendeutsch.

«Nun ja», Kübler blickte Caminada, dann Marugg an, «hoffen wir, die Neue Bündner Zeitung bringt es nicht allzu gross. Wind bekommen die ja sowieso davon.» Sein Blick ging wieder zu Caminada. «Walter, was gedenkst du nun zu tun?»

Landjäger Caminada, der als einziger Beamter im Korps weder Schnauz noch Bart trug, im Bubigesicht von Marugg wuchs zu dessen Leidwesen nichts, strich sich übers wohlrasierte Kinn, das nach seinem Rasierwasser Pitralon duftete. Viel geschlafen hatte auch er nicht, doch für einen Kaffee und einen Teller Rösti am Morgen hatte es gereicht. «Es ist auch ohne Bericht von Dr. Bargätzi klar, dass wir wegen Mordes ermitteln müssen.»

«Ja, heiligs Verdiana, ist der denn noch immer nicht bei der Leichenschau? Auf was wartet der? Dass die aufersteht und zu ihm marschiert? Nun ja, Selbstmord wäre mir in dieser Situation allemal lieber gewesen.» Major Kübler zog die dichten Augenbrauen grimmig zusammen, dabei schüttelte er – weil er es nicht fassen konnte – seinen Kopf und fuhr sich mit der Rechten über sein kurz geschnittenes graues Haar. Seine stramme Körperhaltung drückte noch immer den feurigen Militaristen in ihm aus, fand Caminada, als er ihn ansah, und so benahm sich der drahtige Kübler auch, der ausser in der Kirche zu jedem Anlass seine Uniform trug. Er legte sehr grossen Wert darauf, dass sie dabei wie frisch gebürstet aussah: mit der Doppelreihe silberner Knöpfe, die glänzten wie poliert, den goldenen Majorsstreifen in den Achselschlaufen und dem schwarzen Ledergurt.

Major Kübler, der einen nach oben geschwungenen Schnauz trug, den er immer wieder zwirnte, war auch ein glühender Patriot. Er hätte am liebsten gehabt, dass die fünfzehn Mann des Korps in Chur bei jedem Dienstantritt vor der Schweizer- und der Bündnerfahne, die vor dem Gebäude auf dem kleinen Platz wehten, stramm gestanden und zur Landeshymne salutiert hätten. Darüber machten sich die hundertachtzig Landjäger, die auf die hundertfünfzig Talschaften im Kanton verteilt waren, hin und wieder lustig. Letztes Jahr hing deswegen an der Jahresversammlung ein Majorshut auf der Fahnenstange, und ein Apfel lag am Boden, in Anlehnung an den Hut Gesslers und Wilhelm Tell. Humor aber besass Kübler genauso wenig wie Unpünktlichkeit. Er liess deshalb tatsächlich den Fall untersuchen, den Apfel und Hut beschlagnahmen, als wäre ein Verbrechen geschehen. Schnell musste er aber davon Kenntnis nehmen, dass das ganze Korps zusammenhielt und die Spitzbuaba unter ihnen, die dies ausgeheckt hatten, deckten.

«Bis wenige Minuten vor dieser Unterredung ist der Bargätzi mit Sicherheit noch nicht im Kreuzspital aufgetaucht, Major», knüpfte Caminada an die letzte Frage an, «denn ich hatte dort angerufen und mit meiner Frau Menga telefoniert. Aber nochmals, ich vertraue ganz auf unseren Erkennungsfunktionär Marugg, und von daher müssen wir sowieso Ermittlungen in Hinsicht eines Mordes eröffnen.»

Kübler stand erzürnt hinter dem dunkelhölzernen Besprechungstisch auf und nahm an seinem klobigen Schreibtisch Platz, auf dem ein schwerer, sperriger Telefonapparat thronte. Obwohl der Zweite Weltkrieg schon bald vier Jahre zu Ende war, hing hinter ihm noch immer das Porträt von General Guisan an der Wand.

«Nun gut, Walter. Also, was wollt ihr unternehmen, bevor die ganze Sache zum noch grösseren Problem wird?»

Einmal mehr schien es Caminada, dass Kübler dem jungen Marugg wenig Beachtung schenkte, der nicht nur vom Aussehen die neue Zeit verkörperte, während Kübler der alten nicht nur nachtrauerte, sondern die neue teilweise noch immer zu verhindern suchte.

«Peter und ich hören uns heute Morgen im Täli um. Die Geheimnisse dort hinten spült selten die Plessur aus dem Talschlitz und die aus der Roten Laterne erst recht nicht.»

«Tut das. Die Behörden von Araschga-Churwalden machen ja auch keinen Streich, um das gottlose Treiben in der Spelunke unter Kontrolle zu bekommen, und wir dürfen uns wieder mal erst bei Verbrechen gegen Leib und Leben einschalten so wie jetzt. Übrigens, vor wenigen Tagen soll diese Tänzerin aus Zürich angereist sein, wie mir Dr. Poltera vom Organisationskomitee des Eidgenössischen anlässlich der letzten Koordinationssitzung berichtet hat. Die macht so einen Nackedeitanz. Die soll Gluschtige während des Schützenfestes ins Täli locken, damit die ihre Geldseckel leeren. Pfui Teufel, beschmutzt so unseren Ruf und den des Eidgenössischen obendrauf, während dabei die ganze Schweiz auf uns blickt. Da könnten ja Ausserkantonale meinen, wir vom Landjägerkorps kämen unserer Pflicht nicht nach.»

Der Major hob nach diesen Worten grimmig den schweren Telefonhörer von der Gabel und wählte die 227, Bargätzis Nummer in dessen Wohnhaus, in welchem dieser im ersten Stock auch praktizierte. Nach vergeblichem Klingeln legte er genervt auf. «Der hat halt an einem Samstag schon Sonntag. Hockt sicher irgendwo beim Zmorge und lässt es sich wieder mal gut gehen.»

Er schritt über den aufknarzenden Holzboden zur Tür.

«Fräulein Rosemarie», rief er durch den Gang seine Sekretärin, die eiligen Schrittes postwendend erschien. «Rosemarie, sagen Sie einem der Hilfspolizeimänner, er muss den Bargätzi herholen. Er soll auch in der Schmiedstube, im Franziskaner und im Café Buchli einen Blick reinwerfen, denn wenn wir dort anrufen, lässt der Khaib seine Anwesenheit doch wie immer verleugnen. Ach ja, und auch im Weissen Kreuz, da geht der neuerdings hin.»

Fräulein Rosemarie Niedermaier, die von allen Beamten geschätzt wurde, hatte ihren Fünfzigsten hinter sich und arbeitete schon viele Jahre für den Major. Sie hatte nie geheiratet und war deshalb kinderlos geblieben und war die einzige weibliche, dazu noch gute Seele für die wackeren Landjägermannen. Rosemarie unterstützte sie in allem, was ihr möglich war, als wären die Landjäger ihre Familie, was ein Stück weit auch so war.

Bevor Marugg vor zwei Jahren vom Städtischen Polizeiamt zum Landjägerkorps wechselte, war Fräulein Rosemarie es gewesen, die Caminada bei allem Schriftlichen den Rücken freihielt und ihm Anzeigen und Protokolle vorlas, wenn’s wieder mal pressierte.

«Wird sofort erledigt, Herr Major», antwortete sie und richtete vor dem Gehen ihre Brille, die etwas gross in ihrem mageren Gesicht schien und daher mehr schief als gerade in diesem sass.

«Und was die Stola betrifft», fuhr Caminada fort, als der Major wieder an den Tisch zurückkehrte und Marugg diese aus der Tasche zog und vor ihm auslegte, «da werden wir auf dem Hof vorstellig werden müssen.» Er zeigte auf das aus Gold gestickte Kreuz und den Kelch. «Sie ist reich bestickt. Es muss einen Grund haben, dass sie zur Tatwaffe wurde.»

Kübler blickte auf die Stola, als könne er aus ihr lesen. «Landjäger Caminada …», Caminada wusste, so fingen Sätze an, in denen der Major unmissverständlich seine Meinung kundtun wollte, «du weisst, ihr alle wisst, wie sehr ich Katholik aus ganzem Herzen bin. Einst war ich ein stolzes Mitglied der Schweizergarde am Heiligen Stuhl von Pius dem Zehnten. Und wer diese Jahre erlebt hat, wer einmal dem Papst die Hand reichen durfte, wird dies ein Leben lang nicht vergessen. Ich werde euch direkt zu Bischof Kamber schicken, nachdem ich ihn gesprochen habe. Das mit der Stola muss diskret behandelt werden. Stellt euch bloss die Schlagzeilen vor, so kurz vor dem Eidgenössischen. Es käme zudem einem Generalverdacht gegenüber allen katholischen Priestern und Gelehrten in Chur und Umgebung gleich und wäre für einige Protestanten ein gefundenes Fressen.»

Caminada konnte dieses Argument zwar gut nachvollziehen, und daher hatte er auch die anderen Beamten am Tatort zur Verschwiegenheit aufgerufen, doch die Frage stand im Raum: Was für einen Bezug hatte diese Stola zu der Tat? Denn so ohne Weiteres kam niemand an ein solches Würdenzeichen, und um jemanden zu erhängen, hätte ein einfacher Strick gereicht. Mit dieser Art, ein junges Fräulein zu töten, war unweigerlich auch eine Botschaft des Täters verknüpft, ob gewollt oder getrieben, müssten sie feststellen.

Gegen zehn Uhr erreichten Caminada und Marugg das Täli. Der Sturm der letzten Nacht hatte Äste und Blätter zusammen mit Müll auf die Sandstrasse geweht. Der von einem Ross gezogene städtische Kübelwagen kam nur alle vierzehn Tage, und so überquoll der Abfall neben den Ochsner-Kübeln aus Stahlblech. Am Strassenrand häufte sich der Unrat vor den Häusern, deren Bewohner sich nicht an die Vorschriften hielten und diesen nicht erst am Abfuhrtagmorgen an den Strassenrand stellten. Deshalb hatte der Stadtpräsident im letzten Sommer angeordnet, dass die Müllabfuhr das Täli aussen vor liess, um die Bewohner zu Disziplin zu erziehen. Doch nachdem sich die Abfallberge vor den Häusern weiter türmten und noch schlimmer zu stinken begannen, wurde der ganze Unrat während einer Nacht- und Nebelaktion von diesen in die Plessur geworfen. Dieser Müll wurde aber nicht restlos von der Plessur in den Rhein abgeführt, sondern stank an den Ufern des Plessurbettes angespült auch vorne in der Stadt, sodass Anwohner im Rathaus vorstellig wurden. Ausserdem versaute der Müll auch die Churer Rheinauen bis nach Haldenstein, was ein unrühmliches Bild für alle Zugsreisenden bot, die mit den Schweizerischen Bundesbahnen nach Chur anreisten.

Die Aufräumarbeiten zogen sich in die Länge und zeigten deutlich die Niederlage Cadlinis, sodass dieser ein Sujet für die nächste Fasnacht bot und für Spott und Hohn sorgte und damit wiederum die Kluft zwischen Stadt und Täli weiter vertiefte.

Der kleine Hilfsmotor am Lenker von Caminadas Velotöffli knatterte gleichmässig laut, während Marugg auf seinem neu erworbenen sass, das zwar ebenso einen Krach machte, was aber seinen Stolz darüber nicht minderte.

Der Junimorgen war warm und windig, als sie rauchblaue Abgasschleier hinter sich herzogen. Wetterschmöcker hatten einen Hitzesommer wie vor zwei und sechs Jahren prophezeit, und bis jetzt hatten sie damit recht behalten. Die Morgensonne tauchte die vordersten Häuser im Täli in mildes Licht, doch überall lagen im Gegensatz zum Städtchen kalte Schatten, so auch am Wibersprutz, dem kleinen Wasserfall, der vom ehemaligen Kloster Sankt Hilarien kommend über die Felsen in die Plessur brunste. Das Restaurant Plessurfall, das in der Mitte des Tälis direkt an der Strasse stand und von den Einheimischen nur «d’Falla» genannt wurde, erreichten sie wenige Minuten danach.

Caminada und Marugg hängten ihre Hüte am Eingang an die Haken, die sie des Windes wegen beim Fahren unter den Tschoopa gesteckt hatten, und betraten die Beiz, die den Übernamen «d’Falla» nur deshalb trug, weil wer einmal abends am Stammtisch hockte, nicht vor dem nächsten Tag aus der Beiz wieder rausfand, so zumindest sagte es der Volksmund.

Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee, Zigarrenrauch und Holz. Des Schattens im Täli wegen brannte eine verschnörkelte Lampe über dem verwaisten Stammtisch, in dessen Zentrum ein übergrosser runder metallener Aschenbecher platziert war, aus dessen Mitte sich ein Steinbock stolz erhob. Rosetta, die alte Wirtin, wischte soeben mit einem feuchten Lappen einen der Holztische, als die beiden sich an einen der anderen setzten.

Fritz und Köbi, die eineiigen Zwillinge, die als Tagelöhner mal hier, mal da arbeiteten, hockten je vor einem Einerli Roten beim Fenster und pafften selbst gedrehte Zigaretten.

«Mooorga, kai Arbat hüt?» Caminada warf den einzigen Gästen beim Hinsetzen einen fragenden Blick rüber.

«Am Nachmittag dann wieder, unten am Rossboden. Die Zeltstadt muss doch noch fertig aufgebaut werden», brummte Fritz und starrte auf die Tischplatte, als zähle er Ameisen.

«Bis das Fest vorbei ist und alles abgebaut ist, gibt’s jedenfalls genug Sackrappa zu verdienen», fügte Köbi an und blickte Caminada ins Gesicht. «Und ihr zwei? D’Schrooterei um diese Zeit hier hinten im Täli? Das verheisst nichts Gutes. Wer hat was ausgefressen?»

Rosetta, deren Hände, Arme und Gesicht von Altersflecken übersät waren, kam an Caminadas und Maruggs Tisch und unterbrach mit ihrem stark italienischen Akzent das Gespräch, um die Bestellung aufzunehmen.

«Grazie, Signori.» Mit diesen Worten verschwand sie, um die zwei Kaffee zu brühen.

«Ja, Köbi, das wollten wir eigentlich euch fragen», entgegnete Caminada und knüpfte an dessen Frage von zuvor an.

«Ich weiss von gar nichts», erwiderte dieser. «Gell, Fritz?»

Fritz nickte, noch immer nach vorne in sich gebeugt, strich dabei durch seinen braunroten Bart, bevor er an der Zigarette zog, die er zwischen nikotingelben Fingern hielt.

«Wann wart ihr beiden denn zuletzt in der Roten Laterne? Vielleicht wisst ihr das wenigstens?»

«Aha, von dort hinten furzt die Geiss», folgerte Köbi und fügte an: «Gestern Abend. Wir hatten den Wochenlohn erhalten, und ein paar Rappen drängte es dringend aus dem Geldseckel an die frische Luft.» Er lachte.

«Und die Gisela, habt ihr sie beim Schaffen gesehen?»

«Ja, die Möckli, die servierte gestern. A flotti Poppa.» Er formte dabei mit den Händen Brüste und grinste.

«Die haben wir letzte Nacht an der Roten Laterne erhängt aufgefunden – sie ist ermordet worden.»

«Verreckta Khaib! Ist das wahr? Die Gisela?» Köbis Lächeln gefror augenblicklich.

«Ja, die Gisela – will euch ja nicht für blöd verkaufen.» Caminada glaubte, ehrliche Bestürzung oder zumindest Verwunderung bei Köbi zu erkennen, und nickte. «Und? Etwas im Zusammenhang mit ihr gehört? Hatte sie am Abend Krach mit einem der Gäste, oder geschah sonst was Augenfälliges? War einer aufdringlich geworden? Möglicherweise auch in den letzten Wochen?», hakte er nach.

«Gär nüt. Ausser dass gestern Abend der erste Auftritt dieser Looooola war», betonte Köbi deren Namen, als mache er sich über sie lustig und hätte bereits den Schrecken von zuvor vergessen.