Jana Hoch
Royal Horses
Kronentraum

© Tanja Saturno

Jana Hoch wurde 1992 in Hannover geboren und lebt heute immer noch in der Nähe der Stadt. Seit frühester Kindheit hat es sie begeistert, eigene Welten und Charaktere zu entwickeln und diese auf dem Papier festzuhalten. Die Innenarchitektin und Pferdetrainerin nutzt jede freie Minute zum Schreiben. Der perfekte Tag beginnt für sie bei Sonnenaufgang, mit dem Laptop auf dem Schoß und einer Tasse Kakao, und endet auf dem Rücken ihres Pferdes Jamie.

Mehr Infos unter www.jana-hoch.de
und auf Instagram unter @janahoch.autorin.

Für meine Eltern,
Monika und Hans-Elmar

Ladies and Gentlemen, wir kommen nun zum Höhepunkt des Tages. Bei diesem Rennen treten ausschließlich die Spitzenpferde des Landes an. Als Favorit der Prüfung wird Crown Eagle gehandelt, im Sattel der aktuelle britische Champion Colan Shelley. Aber auch Casanova und Ghostwriter könnten heute gute Chancen auf einen Sieg haben.«

Ich sah zu Livy, die mit beiden Armen auf den Zaun gestützt neben mir stand und die Pferde auf der Bahn filmte. Sie bemerkte meinen Blick und grinste zu mir herüber.

»Ist vollkommen irre hier, oder? Wie in einer anderen Welt.«

Eine andere Welt. Das traf es wohl ziemlich gut. Inmitten der Vielfalt aus bunten Kleidern und extravaganten Kopfbedeckungen kam ich mir vor wie auf einer Faschingsparty für Erwachsene. Unter den Gästen gab es zwei Gruppen. Die einen hatten sich herausgeputzt wie für einen Empfang bei der Königin höchstpersönlich. Die Männer trugen Smoking und Zylinder, die Frauen schick aussehende Kleider und glitzernde Schuhe mit Pfennigabsätzen. Sie standen eng beieinander, hielten Champagnergläser in den Händen und unterhielten sich über Rennpferde und die aktuelle Lage im Parlament. Andere waren weniger dezent. Sie lachten und kicherten laut, tranken ihr Prickelwasser direkt aus der Flasche und schienen nur ein Ziel zu haben: um jeden Preis aufzufallen. Es wurde gekreischt, mit Fähnchen gewedelt und ein Selfie nach dem anderen gemacht. Dabei schien es besonders wichtig zu sein, die pompösen Hüte zur Schau zu stellen. Eine Frau im Minikleid trug tatsächlich einen autoreifengroßen Hut in Form einer Hochzeitstorte auf dem Kopf, eine andere sogar eine Eistüte.

Gerade als ich dachte, es würde nicht mehr schräger gehen, lief ein Mann an mir vorbei, die knallblauen Haare so sehr nach hinten geklatscht, als wolle er seine Stirn straffen. Auch die Augenbrauen hatte er blau gefärbt und neben den viel zu langen, künstlichen Wimpern schlängelte sich eine Reihe glitzernder Steine über sein Gesicht.

Willkommen in Panem, dachte ich, schüttelte ungläubig den Kopf und wandte mich wieder zu Livy. Heute Morgen hatte sie mir erklärt, dass ich zu diesem Pferderennen unmöglich in Jeans und Chucks gehen konnte, und ich hatte erwartet, dass sie maßlos übertrieb. Doch inzwischen war ich mir sicher, dass ich in meiner an den Knien aufgerissenen Lieblingshose und einem T-Shirt, auf dem groß und breit Save the earth, it’s the only planet with horses stand, niemals auch nur einen Fuß auf das Gelände bekommen hätte. Bereits am Eingang waren alle Zuschauer kritisch kontrolliert worden. Wer nicht angemessen gekleidet war oder gar vergessen hatte, einen Hut aufzusetzen, wurde aussortiert. Aber natürlich hatte Livy dafür gesorgt, dass wir perfekt zum Rest der Menge passten und ohne Probleme passieren konnten. Sie hatte mir eines ihrer Kleider geliehen, ein schlichtes blaues Etuikleid mit langen Ärmeln und dazu passende Ballerinas. Anschließend hatte sie mir die Haare geflochten und mir einen halb transparenten Fascinator angesteckt. Sie hatte mir versichert, dass ich fantastisch aussah, aber trotzdem kam ich mir vor, als trüge ich ein Vogelnest auf meinem Kopf spazieren. Wenigstens war es für Ende September ungewöhnlich warm und so mussten wir nicht frieren, nur um gut auszusehen. Livy hätte das unter Garantie in Kauf genommen.

Gerade zwinkerte sie mir zu, schwenkte ihre Kamera in unsere Richtung und warf die langen dunkelbraunen Haare zurück. Mit den zartrosa geschminkten Lippen formte sie einen Kussmund. Ich zwang mich zu lächeln, auch wenn mir nicht danach war. Aber Livy sollte nicht merken, wie unwohl ich mich fühlte. Seit Wochen redete ich nur noch davon, wie sehr mir die Pferde von Caverley Green fehlten. Mit ihrer Idee, auf die Rennbahn zu gehen, hatte sie mir eine Freude machen wollen. Deshalb durfte ich ihr diesen Tag nicht verderben. Außerdem hatte ich mich lange genug zu Hause verkrochen, war in Jogginghosen und Jordans Pullovern herumgelaufen und in regelmäßigen Abständen zum Kühlschrank gepilgert. Damit war jetzt Schluss. Ich hatte Livy versprochen, endlich mal wieder Spaß zu haben, ein paar Stunden zu verbringen, in denen ich nicht an …

Nein, ich würde jetzt auf keinen Fall an ihn denken. Dieser Tag gehörte ausschließlich meiner besten Freundin.

»Das Video wird bestimmt ein Highlight auf deinem YouTube-Kanal«, sagte ich und Livys Lächeln wurde breiter.

»Ja, das denke ich auch. Nachher, bei der Preisverleihung, versuchen wir, auch ganz nach vorne zu kommen, ja?«

Ich grinste. Erste Reihe? Kein Problem. Für die Berichte auf Livys YouTube-Kanal hatten wir uns schon durch eine Umweltdemo und durch kreischende Fans bei einem Konzert von Shawn Mendes gekämpft. Was zählten da ein paar angetrunkene Hühner mit Obstschalen und riesigen Schmetterlingen auf den Köpfen?

»Die Pferde befinden sich nun auf dem Weg zum Start«, verkündete der Sprecher und sofort tippte Livy wieder auf ihrem Display herum. »Kannst du filmen?«, fragte sie und hielt mir das Handy hin. »Deine Videos sind besser als meine. Die bekommen immer mehr Klicks.«

Ich nickte, nahm Livys Handy entgegen und schwenkte es einmal von links nach rechts, um alles genau zu erfassen. Dann zoomte ich näher heran und richtete meine Aufmerksamkeit auf die einzelnen Pferde. Ein schlanker Fuchs trottete mit gesenktem Kopf an uns vorbei, während andere herumtrippelten, seitlich auswichen und mit den Schweifen schlugen. Mir gefiel ein dunkelbrauner Hengst mit roter Satteldecke und Abzeichen an den Beinen. Doch er wirkte gestresst, hielt den Kopf hoch erhoben und stieg auf die Hinterbeine, als er sich der Startbox näherte. Selbst auf die Entfernung konnte ich sehen, wie er den Hals verdrehte und die Augen aufriss.

»Das ist Damon Dreams, die Nummer fünf«, wisperte Livy und warf einen prüfenden Blick in ihr Rennbahnprogramm. »Er sieht ziemlich wild aus, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. Nein, er versuchte bloß, sich mitzuteilen, aber niemand hörte ihm zu. Er erinnerte mich an Mariscal, den silbernen Hengst, den ich auf Caverley Green kennengelernt hatte. Eigentlich hatte ich nicht zu ihm gedurft, weil Quinn, der Stallmeister, ihn für unberechenbar hielt, aber mit der Zeit hatten wir uns angefreundet. Er hatte mir viel beigebracht. Über Pferde, aber auch über mich selbst. Ich vermisste ihn. Genau wie die anderen Pferde: Tira, Lanciano und allen voran Sparky. Ich vermisste ihre Nähe, die Art und Weise, wie sie in mich hineinsahen und mich beruhigten. Ich vermisste die Momente der stillen Vertrautheit und auch jene, in denen sie mich zum Lachen gebracht hatten. Ich vermisste … einfach alles an ihnen. Aber das hier … Wieder sah ich zu dem Dunkelbraunen. Das war etwas vollkommen anderes, als ich mir von unserem Ausflug erhofft hatte. Nichts daran erinnerte an die tiefe Verbindung zwischen Pferd und Mensch, wie ich sie nun kannte. Edward hatte immer davon gesprochen, dass die Arbeit mit Pferden auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt basierte. Es war ihm wichtig, jedem Pferd das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein und … Mist, jetzt hatte ich doch an ihn gedacht. Ich biss mir auf die Zunge und blinzelte mehrfach, um die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Edward, wie ich ihn kennengelernt hatte, gab es nicht mehr. Nur noch Tristan. Prinz Tristan, der seit Tagen Seite an Seite mit dem französischen Präsidenten über die Fernsehbildschirme lief und dabei so fremd wirkte, als hätten wir uns nie gekannt.

»Alles okay?«, fragte Livy von der Seite. »Du wirkst so abwesend.«

»Ich …« Ich musste bloß gerade wieder an diesen Idioten denken, obwohl ich mir geschworen habe, es nicht zu tun. »… war nur in Gedanken.«

Sie legte den Kopf schief und betrachtete mich lange. »In Gedanken an ihn?«

Sofort schoss mein Blick in ihre Richtung und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen strömte. Woher …?

»Schon okay.« Livy legte ihre Hand über meine und drückte sie. »Das muss dir nicht peinlich sein. Im Gegenteil. Es zeigt doch nur, dass er dir noch etwas bedeutet.«

Ich will aber nicht, dass er mir noch etwas bedeutet.

»Er hat mich belogen«, sagte ich mit aufeinandergepressten Zähnen und starrte so intensiv auf die Bahn, als hätte das Rennen bereits begonnen. Er hat vorgegeben, jemand zu sein, der er nicht ist. Und stattdessen ist er der verdammte Prinz von England! Der Prinz! Schlimmer konnte es nicht sein.

Einen Moment lang standen wir schweigend nebeneinander und ich hatte den Eindruck, dass Livy gerne etwas sagen wollte, aber nicht genau wusste, wie ich darauf reagierte. Schließlich löste sie ihre Hand von meiner, wühlte in ihrer Handtasche und zauberte eine Tüte Fruchtgummikatzen hervor. Sie riss sie auf und hielt sie mir entgegen. Ich griff hinein, schob mir eine in den Mund und kaute geistesabwesend darauf herum.

»Denkst du noch viel an ihn?«, fragte Livy und ich spürte ein Stechen in meinem Bauch.

Nein, überhaupt nicht. Ich bin über ihn hinweg. Die Worte lagen mir bereits auf der Zunge, doch dann hielt ich inne und seufzte. Ich wollte Livy nicht belügen.

»Jeden Tag«, gestand ich leise, ohne sie anzusehen. »Aber das ändert …«

Gar nichts, hatte ich sagen wollen. Doch da erhob sich die Stimme des Rennbahnsprechers erneut. »Damon Dreams ist nach etwas Überredung nun auch bereit. Das Starterfeld ist somit komplett.« Eine Klingel ertönte. »Und da gehen die Boxen auf für das dritte Rennen des heutigen Tages!«

Spannung kam in das Publikum, Gemurmel wurde laut. Neben mir zückte eine Frau ihr Fernglas.

Das ändert gar nichts, sagte ich mir noch einmal. Rein. Gar. Nichts. Dann stützte ich die Unterarme auf den Zaun und beugte mich vor, um die Pferde besser sehen zu können. Gerade galoppierten sie auf den ersten Bogen zu, ganz vorne der Fuchs, der mir am Anfang aufgefallen war.

Wieder meldete sich der Kommentator zu Wort: »In diesem Rennen laufen die Pferde über 2.400 Meter. Falcon Legend führt das Feld an, dahinter Ghostwriter vor Casanova. Jetzt kommt Ghostwriter nach vorne. Ghostwriter, vor Falcon Legend. Casanova, dann Crown Eagle mit der Acht.«

Ich beobachtete, wie die Reiter die Bahn umrundeten. Je weiter sie kamen, desto aufgeregter wurden die Zuschauer.

»Komm schon, Crown Eagle!«, rief ein Mann schräg hinter uns und klatschte wild in die Hände. »Zeig’s ihnen!«

»Und da kommen sie auf die Zielgerade! Ghostwriter vor Falcon Legend. Casanova, Crown Eagle, Damon Dreams. Dann Santo, Easy Fly und Calico.« Die Stimme des Rennbahnsprechers überschlug sich. Die Zuschauer drängten zusammen, reckten die Köpfe und applaudierten. Auch Livy hüpfte begeistert auf und ab. Wie von selbst suchten meine Augen nach dem dunkelbraunen Hengst mit der roten Satteldecke. Ich entdeckte ihn am Rand der Gruppe und sah, wie er mit riesigen Galoppsprüngen aufholte, an dem Feld vorbeizog und sich an die Spitze setzte.

»Und da kommt er nach vorne!«, rief der Sprecher ungläubig. »Damon Dreams, der Außenseiter! Er setzt sich an die Spitze, dicht gefolgt von Ghostwriter. Damon Dreams. Ghostwriter. Damon Dreams! Damon Dreams gewinnt das Rennen vor Ghostwriter, Ladies and Gentleman. Was für ein Finish! Auf dem dritten Platz Crown Eagle, dann …«

Neben mir kreischte eine Frau so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten wollte. Sie hielt ihren Wettschein in die Luft und fiel ihrem Mann in die Arme. Auch hinter mir hörte ich Menschen johlen. Andere fluchten.

Über den Handybildschirm verfolgte ich, wie die Pferde ausgaloppierten, und dachte erneut an die gemeinsame Zeit mit Mariscal. Stille Momente, in denen wir dennoch gewusst hatten, was der andere gerade dachte. Das war es, was mich immer an ihm fasziniert hatte.

Um mich herum ebbte der Applaus ab, Gemurmel wurde laut und ich hörte vereinzeltes Lachen. Ich seufzte und trat vom Zaun zurück. Zwischen all diesen bunt gekleideten Menschen, von denen die meisten, so glaubte ich, die Pferde nicht verstanden und sie nicht wahrnahmen wie ich, fühlte ich mich so einsam wie schon lange nicht mehr.

Damon Dreams wurde in den Siegerring gebracht. Er tänzelte immer noch, doch sein Jockey blieb gelassen und führte ihn am Zaun entlang, ehe er neben dem Pavillon in der Mitte der Fläche zum Stehen kam. Livy lächelte in die Kamera. Ich zeigte ihr den hochgestreckten Daumen und sie fasste das Rennen für die YouTube-Zuschauer noch einmal zusammen. Dabei betonte sie, wie sehr sie sich für die Besitzer des Pferdes über den unerwarteten Sieg freute. »Und das zeigt wieder einmal, dass wir nie den Glauben an uns selbst verlieren dürfen, egal was andere von uns denken«, beendete sie ihre Rede und bedeutete mir mit einem Handzeichen, dass ich nun zur Bühne heranzoomen sollte. Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich verstanden hatte. Zeitgleich betrat der Moderator die Bühne. Er lobte Damon Dreams überschwänglich, gratulierte den Besitzern und legte dabei so viel Dramatik in seine Stimme, dass er mir bald auf die Nerven ging.

Spitzenpferd des Jahresverdienter SiegBla, bla, bla … Spitzenpferd, ach ja? Vor wenigen Minuten war er noch der Außenseiter gewesen. Ich schüttelte den Kopf, hielt aber sogleich wieder inne, als die Kamera wackelte.

»Und deshalb …«, verkündete der Moderator, »… ist es mir eine große Ehre, Ihnen allen mitteilen zu dürfen, dass dieser Preis heute von einem ganz besonderen Ehrengast überreicht wird.«

Ein Raunen ging durch die Menge und ich wurde unsanft zur Seite gestoßen. Was zur …?

»Na, meine Damen, ist das eine gelungene Überraschung?«, lachte der Sprecher. Die Nationalhymne erklang. Mädchen kreischten. Erwachsene Frauen kreischten. Sogar manche Männer. Fähnchen wurden geschwenkt. Fragend sah ich zu Livy und stellte erschrocken fest, dass sie blass geworden war.

»Das wusste ich nicht«, beteuerte sie, die Augen weit aufgerissen. »Wirklich.«

Was meinte sie? Ich bewegte die Kamera in die Richtung, in die alle sahen, und erstarrte. Ein Pulk von Securitymännern marschierte in den Ring, alle in schwarzen Anzügen, mit Sonnenbrillen und ernsten Gesichtern. Einer davon kam mir bekannt vor. Ordentlich gestylte Haare, Vollbart, Sonnenbrille. Ich vergaß vor Schreck zu atmen. Das war Sixton, Edwards persönlicher Bodyguard. Und hinter ihm zwei Gestalten, die langsam und erhaben in den Ring traten: ein Mann mit silbernen Haaren, weißem Anzug, verkniffenen Lippen und Siegelringen an jeder Hand. Und neben ihm, mit blonden Haaren, schwarzem Frack, Zylinder auf dem Kopf und blütenweißen Handschuhen … Edward. Zentimeter für Zentimeter ließ ich die Kamera sinken und konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Auf einmal fiel es mir schwer zu atmen. Ich wollte zurückweichen, aber ich stieß nur gegen die Person hinter mir und erntete einen empörten Laut. Mein Herz raste. Edward stieg auf das Podest. Er schüttelte den Besitzern des Pferdes die Hand, winkte und lächelte. Doch die Geste schaffte es nicht über seine Lippen hinaus. Mit kühlen eisgrauen Augen blickte er nach vorne, so als sehe er geradewegs durch die Menge hindurch.

Livy nahm mir das Handy aus der Hand und legte ihre Finger um meine. »Sollen wir gehen?«

Ja, bitte.

In diesem Moment winkte Edward in unsere Richtung. Dann erstarrte er und seine Lippen formten meinen Namen. Greta. Wir sahen uns an. Ungläubig, voller Überraschung. Es konnte nur der Bruchteil einer Sekunde sein, aber für mich fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Mir wurde heiß. Meine Hände schwitzten. Erneut taumelte ich zurück und stieß gegen die Wand aus Menschen.

Da sprang Edward auf einmal von dem Podest und kam auf mich zu. Die Leute tobten vor Begeisterung und streckten ihre Hände in seine Richtung, um ihn zu berühren. Überall klickten Kameras. Die Securitymänner warfen sich verunsicherte Blicke zu. Nein, diese Einlage gehörte ganz und gar nicht zum geplanten Programm!

Wieder drängte ich rückwärts und dieses Mal teilte sich die Menge, dankbar darüber, dass mein Platz in der ersten Reihe frei wurde. Gleich drei Mädchen schossen an mir vorbei und quetschten sich auf die Fläche.

»Greta, bitte warte!«

Ich floh durch die kleinsten Lücken und achtete nicht mehr darauf, wo Livy war. Sie würde mich schon finden.

»Greta!«, rief Edward wieder und als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich, wie er auf den Zaun kletterte und nach mir Ausschau hielt. Dann sprang er auf die andere Seite und wurde von aufgeregt glucksenden Hühnern zerdrückt. Sofort waren die Sicherheitsleute zur Stelle, hielten die Menschen auf Abstand und machten ihm den Weg frei. Er lief geradewegs auf mich zu. Verschwinde!, schrie ich in Gedanken, aber meine Füße gehorchten mir nicht mehr.

Edward kam vor mir zum Stehen, sah mich an und streckte eine Hand nach mir aus. Doch dann überlegte er es sich anders, hielt inne und lächelte bloß. Niemand sagte etwas, aber die unausgesprochenen Worte schwirrten um uns herum wie aufgeregte Glühwürmchen.

Ich schluckte. »Du …« Hast mich gelogen. Mir das Herz gebrochen. Du bist ein verdammter Idiot und ich will dich nie wiedersehen. »… siehst vollkommen bescheuert aus. Wie ein stinkreicher Graf von Ach-so-vernobt.«

Oh Gott, hatte ich das gerade wirklich gesagt? Vor all diesen Menschen? Edwards Mundwinkel zuckten. »Falls du es vergessen hast, ich bin ein stinkreicher Graf. Allerdings Graf von Guilford und Herzog von Suttington. Das gesamte Gebiet um Caverley Green, nicht nur die Stadt.« Ein Grinsen zierte seine Lippen und er schnipste gegen seine lächerliche Ansteckblume. »Versnobt, ja? Nun, die meisten hier finden das, glaube ich, ziemlich sexy.« Er lächelte erneut, dieses Mal erreichte es auch seine Augen. »Ich hätte nicht gedacht, dich ausgerechnet hier …«

Er konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen. Eine Gruppe Mädchen schrie Edwards Namen und versuchte, unter der Mauer aus Sicherheitsleuten hinwegzutauchen und ihn zu berühren. Da stellte sich einer der Securitymänner direkt neben mich.

»Falscher Zeitpunkt für ein intimes Gespräch«, hörte ich Sixtons tiefe Stimme. Er sah mich kurz an, dann bedachte er Edward mit einem tadelnden Blick. »Falls es dir nicht aufgefallen ist, du bist gerade live auf sämtlichen Social-Media-Kanälen. Details zur Royal Romance? Ganz schlechte Idee.«

Er legte Edward eine Hand auf die Schulter und wollte ihn zurück zur Bühne schieben. Doch Edward drehte sich noch einmal um.

»Mach jetzt keinen Scheiß«, knurrte Sixton und damit scharten sich auch die restlichen Securitymänner um ihn. Ich konnte nichts weiter tun als dastehen und ihm nachsehen. War das eben wirklich passiert? Mir blieb keine Zeit, die Frage zu beantworten. Kameras blitzten auf und eine Frau mit knallpinkem Lippenstift hielt mir ihr Handy direkt ins Gesicht.

»Hey du, kennst du Prinz Tristan persönlich? Bist du seine Freundin?«

Was? Ich starrte sie an, vollkommen perplex. Die Kamera war so nah, dass sie unmöglich etwas anderes als meinen Nasenflügel aufnehmen konnte. »Ich«, setzte ich an und musste mich beherrschen, die Kamera nicht wegzuschlagen. Panik erfasste mich. Alle sahen mich an! Ich bekam kaum noch Luft. »Nein. Nein, bin ich nicht«, krächzte ich. Und damit drehte ich mich um, bahnte mir einen Weg nach draußen und rannte vom Gelände.

Mit gesenktem Kopf huschte ich durch die Flure und hoffte inständig, dass ich nicht gleich wieder erkannt wurde. Im Laufen kramte ich in meinem Rucksack und suchte nach Jordans Mütze, die ich heute Morgen vorsorglich eingepackt hatte. Kaum dass ich sie in den Händen hielt, stopfte ich meine auffälligen roten Haare hinein und zerrte sie mir über den Kopf. Trotzdem bemerkte ich das leise Kichern einer Gruppe Mädchen, die an mir vorbeilief. Eines der Mädchen zückte sogar ein Handy und hob es in meine Richtung. Schnell drehte ich mich weg und lief weiter, bis zu dem Gang, in dem sich mein Spind befand.

Zwei Lehrer kamen mir entgegen und als sie mir die Glastür zum angrenzenden Korridor aufhielten, bedankte ich mich kurz und lächelte. Mr Franklin, bei dem ich im letzten Halbjahr die Astronomie-AG besucht hatte, sah mich an, als wäre ich eine seltene Kuriosität. Augenblicklich sackte mein Lächeln in sich zusammen. Oh Gott, selbst die Lehrer hatten schon davon gehört! Eilig schob ich mich an ihnen vorbei, den Blick fest auf den grauen Vinylboden geheftet. Im Laufen tastete ich nach dem Handy in meiner Jackentasche. Ob ich meinen Bruder anrufen konnte? Jordan würde mich bestimmt abholen, wenn ich ihn darum bat. Ich konnte mich ein paar Tage krankschreiben lassen und warten, bis die Medien aufhörten, über mich zu berichten und sich das Interesse an mir abschwächte. Auf der anderen Seite – wie würde ich dann dastehen?

Ich erreichte meinen Spind, einen schmalen dunkelgrünen Metallschrank. Noch während ich den Schlüssel suchte, fiel mir ein Stück Papier auf, das jemand an die Tür geklebt hatte. Noch heißer als Prinzen? Basketballer!, stand darauf. Darunter hatte jemand eine Telefonnummer gekritzelt. Ruf mich an, Camden.

Ich fluchte leise, riss den Zettel ab und knüllte ihn in meiner Hand zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein!

Schnell öffnete ich den Spind, tauschte meine Bücher und schlug die Tür wieder zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Keine zwei Meter von mir entfernt standen zwei Jungs, jünger als sich. Genau wie ich trugen sie ihre Schuluniformen, jedoch kombiniert mit bunten Caps und passenden Turnschuhen. Sie hielten den Rücken zu mir gedreht, verlagerten ihr Gewicht merkwürdig zur Seite und lehnten sich dabei weit nach hinten. Ich beobachtete sie einen Moment verständnislos, bis ich das Smartphone in der ausgestreckten Hand des einen entdeckte und realisierte, was sie da taten.

»Sagt mal, spinnt ihr?«, schrie ich sie an und wollte auf sie zugehen. Doch die Jungs hatten ihr Selfie längst geschossen und rannten vor mir weg.

Ich hörte, wie der eine rief: »Geil, das gibt megaviele Klicks auf Insta!«

Vollkommen fassungslos starrte ich den beiden nach und fragte mich zum hundertsten Mal, wie es bloß zu alldem hatte kommen können. Gestern war noch alles in Ordnung gewesen. Und jetzt? Jeder kannte mein Gesicht! Die ganze Schule, unsere Nachbarn in Clapham … Vielleicht schon ganz London. Ganz England. Die ganze Welt. Wie lange würde es dauern, bis auch mein Name an die Medien geriet? Meine Adresse? Der Weg, den ich zur Schule nahm, oder was ich in meiner Freizeit machte? Ohne weiter darüber nachzudenken, schlug ich mir die Hände vors Gesicht und bahnte mir einen Weg zu den Mädchentoiletten.

Ich durfte nicht heulen! Nicht mitten auf dem Flur!

Möchtegernprinzessin erleidet Nervenzusammenbruch im Chemietrakt. Es würde Schüler geben, die nur auf die Gelegenheit warteten, ein solches Video von mir online zu stellen.

Das konnten sie vergessen! Die letzten Meter rannte ich, stieß die Tür auf und stolperte beinahe in zwei Mädchen, die gerade nach draußen treten wollten. Das eine, mit Ohrringen, die wie kleine Kronen aussahen, stemmte die Hände in die Hüften und verzog verärgert das Gesicht. Sie setzte gerade an – garantiert, um mich zu beschimpfen –, als sich die Erkenntnis auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Das ist sie!

Fast gleichzeitig rissen wir die Augen auf und bevor das Mädchen erneut Luft holen konnte, zwängte ich mich durch die Tür und verschwand im Vorraum. Erst als ich die Kabinentür hinter mir zuzog und das Schloss herumdrehte, erlaubte ich mir aufzuatmen. Ruhe. Lediglich die Lüftung rauschte und ein paar Meter entfernt tropfte ein Wasserhahn. Mein Herz raste und ich presste den Rücken, so fest ich konnte, an die Trennwand. Dann ließ ich mich in Zeitlupe auf die kühlen Fliesen sinken, stützte meine Stirn auf die Knie und schloss die Augen. Mein Kopf fühlte sich schwer an und die Gedanken wirbelten so wild durcheinander, dass mir schwindelig wurde. Hinter meinen geschlossenen Lidern sah ich Bilder aufflackern und sofort krampfte sich alles in mir zusammen.

Edward, wie er den Besitzern des Siegerpferdes die Hand schüttelte. Dann sein Blick ins Publikum.

Ich sah ihn noch genau vor mir. Seine Augen hatten geleuchtet, als er Livy und mich in der ersten Reihe entdeckt hatte. Er hatte geglaubt, dass ich wegen ihm zu dem Pferderennen gekommen war. Ganz sicher.

Wieder fühlte ich ein Stechen in meiner Brust und die Bilder liefen vor meinen Augen ab wie ein viel zu schneller Film. Edward, der auf mich zugelaufen kam und über den Zaun kletterte. Die Hoffnung in seinem Blick. Aufgeregte Security. Kamerablitze und jede Menge Paparazzi, die mir sogar dann noch hinterherrannten, als ich längst vom Gelände der Rennbahn geflüchtet war.

Natürlich wusste ich, dass die Besucher und die Presse Edwards spontane Drehbuchänderung als einen Skandal empfinden mussten. Aber nie im Leben hatte ich erwartet, dass es solche Wellen schlagen würde. Seit heute Morgen waren die Bilder von uns überall. In den Zeitungen, auf Facebook, ja selbst im Radio wurde von dem rothaarigen Mädchen berichtet, für das Prinz Tristan seinen Großvater auf der Bühne stehen gelassen hatte. Die romantischste Szene seit der letzten royalen Hochzeit oder die endgültige Blamage der Krone? Die Meinungen gingen weit auseinander. Ein Sender hatte sogar davon gesprochen, dass Prinz Tristan mit diesem Auftritt all die positiven Berichte der letzten Wochen in wenigen Sekunden zunichtegemacht hatte.

Übelkeit stieg in mir hoch und ich atmete einige Male tief durch, um mich zu sammeln. Ich hatte das alles nicht gewollt. Weder dass Edward erneut in den Fokus der Presse geriet, noch dass ich über Nacht zum bekanntesten Mädchen Englands wurde.

Und ganz bestimmt war es nicht mein Plan gewesen, dass Edward meine Gefühle wieder so durcheinanderbrachte. Verdammt, ich wollte ihn vergessen. Ein für alle Mal! Doch die Erinnerungen daran, wie er mich angesehen hatte … und wie sich unsere Hände berührt hatten, ließen mein Herz nur noch schneller schlagen.

Oh Edward … Was hatte er bloß getan?

Der Unterricht übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Alle flüsterten miteinander und obwohl unsere Mathelehrerin, Mrs Anderson, sich bemühte, Normalität vorzutäuschen, entgingen mir ihre Blicke nicht. Ich habe der Freundin von Prinz Tristan höchstpersönlich ein B unter die letzte Klausur geschrieben, stand in ihrem stolzen Gesicht.

Ich löste meinen Zopf, ließ mir die Haare seitlich vors Gesicht fallen und gab vor, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Anstatt Zahlen abzuschreiben, malte ich jedoch nur die Kästchen auf meinem Block aus. Schachbrettmuster. Eines nach dem anderen. Jemand pikte mich in den Arm und mein Füller verrutschte. Caroline Henderson lächelte mich verlegen an. »Hey, Greta.«

»Caroline.« Ich zog die Augenbrauen nach oben. Hoffentlich wollte sie nur wissen, ob ich die Aufgabe verstand.

Sie räusperte sich, beugte sich näher heran und wisperte: »Stimmt es, dass du und Tristan … dass ihr …?«

Dass wir was? Ich musste nichts sagen, sie verstand den Blick auch so.

»Du weißt schon.« Sie kicherte. »Habt ihr … es getan?«

Es? Meine Augenbrauen zogen sich noch höher. Meinte sie das ernst? »Ich weiß nicht, was dich das angeht.«

Ihre Wangen röteten sich sekundenschnell. »Na ja, Ethan hat gesagt, er glaubt nicht, dass ich mich traue, dich zu fragen.«

Ethan also. Eine seiner bescheuerten Challenges. Hätte ich mir ja denken können. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Er saß auf seinem Stuhl zurückgelehnt, beide Arme hinter dem Kopf verschränkt und grinste mich an.

»Halt dich von Ethan fern«, zischte ich Caroline zu und kramte in meiner Tasche. »Er ist gefährlich, kriminell und man kann ihm nicht vertrauen.« Ich zog einen dicken schwarzen Filzstift hervor und schrieb auf meinen Block: Kümmere dich um deine eigenen Probleme. Davon hast du ja jetzt genug.

Seit Alistair Hunter, der Sicherheitschef der Königsfamilie, Ethans Eltern einen Besuch abgestattet und das Videobeweismaterial unserer Mutproben konfisziert hatte, war es ruhiger um ihn geworden. Den Gerüchten nach hatte sein Vater ihm das Geld für den Führerschein gestrichen und kontrollierte nun genau, wo sein Sohn sich nach der Schule herumtrieb. Und dennoch, ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Ethan meinen Verrat einfach so hinnahm. Vielleicht wartete er nur auf die richtige Gelegenheit, um es mir heimzuzahlen. Ein Grund mehr, keine Schwäche zu zeigen. Ich wartete, bis Mrs Anderson der Klasse den Rücken zudrehte, und kippte den Block. Ethans Grinsen verrutschte, aber er gab sich keine Blöße und kritzelte ebenfalls etwas auf ein Papier. Als er es hochhielt, zuerst so, dass ich es nicht lesen konnte, erhob sich leises Gelächter.

Greta schläft sich hoch. #tristanssugargirl

Mir klappte der Mund auf. Dieser Mistkerl!

Das stimmt nicht, formte ich mit den Lippen und schüttelte den Kopf, aber Ethan zuckte nur mit den Schultern und grinste.

»Ruhe bitte.« Mrs Anderson räusperte sich und drehte sich um. »Kann mir jemand die Lösung für diese Aufgabe nennen? Greta vielleicht?« Sie lächelte mich an.

Ich? Greta schläft sich hoch, hallte es in meinen Gedanken. Wenn das erst einmal die Runde machte … »Nein, kann ich nicht«, stammelte ich. Hitze stieg mir in die Wangen. Hätte ich doch bloß Jordan angerufen oder vor dem Unterricht eine Krankheit vorgetäuscht. Irgendetwas.

»Aber Mrs Anderson«, hallte Ethans schockierte Stimme durch den Raum. »Sie können sie doch nicht einfach so drannehmen und schon gar nicht mit dem Vornamen ansprechen. Immerhin reden Sie hier möglicherweise mit der nächsten Königin von England. Ein Eure Majestät wäre da schon angebracht, oder?«

Alle lachten. Nur ich presste die Lippen zusammen und warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Das ist nicht lustig«, stellte Mrs Anderson klar, aber niemand hörte ihr mehr zu. Stattdessen begannen alle, wild durcheinanderzureden. Die Stimmen vermischten sich zu einem lauten Gemurmel, bis man nichts mehr verstehen konnte. Lediglich ein einziger Name war klar und deutlich zu hören.

Tristan.

Glaubst du wirklich, dass sie und Tristan … Tristan hätte doch nie … Unfassbar, dass Tristan … Tristans Geheimnis … Tristan … Tristan … Tristan!

Ich wollte mir die Ohren zuhalten. Vielleicht auch schreien. Fragte sich denn hier niemand, wie es mir damit ging?

»Ruhe!«, rief Mrs Anderson, dieses Mal lauter. Zu spät.

»Lang lebe Königin Greta!« Connor, Ethans bester Freund, stand von seinem Platz auf, sprang über den Tisch und vollführte eine Verbeugung vor mir.

»Was soll der Scheiß?«, fuhr ich ihn an und erhob mich ebenfalls.

»Also wirklich, Red.« Ethan grinste. »Dein geliebter Tristan hat dich doch bestimmt aufgeklärt, dass du als Royal keine Schimpfwörter benutzen darfst.«

Royal? Geliebter Tristan? Ich schnaubte.

»Bitte beruhigt euch und setzt euch hin«, erklang Mrs Andersons Stimme von vorne. Aber die Klasse war inzwischen vollkommen außer Kontrolle. Chris sprang über einen der Tische, verbeugte sich vor mir und bot an, mein Bodyguard zu sein. Andere winkten wie die Königin auf einer Parade und eine Sitzreihe weiter vorne dröhnte God save the Queen aus einem Handylautsprecher. Kurz entschlossen griff ich nach meinem Rucksack, stopfte meine Bücher hinein und warf ihn mir auf den Rücken.

»Greta, wo willst du hin?«, wollte Mrs Anderson wissen, doch ich beachtete sie nicht länger und lief an ihr vorbei, geradewegs zur Tür. Als ich die Finger nach der Klinke ausstreckte, kreischte jemand hinter mir auf.

Ich wirbelte herum und nach kurzem Suchen entdeckte ich sie. Zwischen der langen Fensterfront und den Haselnusssträuchern pirschte sich eine Frau an der Fassade entlang. Die braunen Haare hatte sie zu einem Dutt gebunden und auf ihrem Shirt leuchtete der Aufdruck But first … Coffee.

Ob sie neu war und sich verlaufen hatte? Eher nicht. Für eine Schülerin war sie eindeutig zu alt, bestimmt schon Mitte zwanzig.

Die Frau blieb stehen, brachte ihr Gesicht noch näher an die Scheibe und spähte ins Klassenzimmer. Mrs Anderson brummte und öffnete eines der Fenster. »Na, hören Sie mal! Das hier ist Privatgelände. Was haben Sie hier zu suchen?«

Die Frau antwortete nicht. Strukturiert glitt ihr Blick durch die Reihen und als sie schließlich an mir hängen blieb, lächelte sie triumphierend. Ich sah sie verwundert an, doch da zückte die Frau schon ihre Kamera und drückte auf den Auslöser.

»Paparazzi!«, grölte Connor und keine Sekunde später brach Chaos aus. Einige meiner Mitschüler versteckten ihre Gesichter hinter Büchern. Andere jubelten und sprangen absichtlich vor der Reporterin herum.

Blitzlichter. Wieder und wieder. Ich war wie versteinert. Die Panik lähmte meine Beine. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es mir, die Füße rückwärts zur Tür zu bewegen und die Klinke herunterzudrücken. Ein letztes Mal sah ich zu der Reporterin. Warum, fragte ich mit den Augen. Warum tun Sie mir das an?

Doch die Frau lächelte nur, drehte sich um und verschwand zwischen den Büschen. Sie hatte bekommen, was sie wollte.

Mein Herz hämmerte wild, als ich die Glastür erreichte, die auf den Vorhof der Schule führte. Ich stürmte darauf zu, hielt dann jedoch inne und stoppte mit quietschenden Sohlen. Überall an der Straße standen Transporter, Kamerateams liefen hinter dem Zaun umher und – ich musste zweimal hinsehen – sogar eine Drohne schwebte über den Stufen zum Eingang der Schule. Mitten im Getümmel entdeckte ich den Schulleiter, Mr Romero, der mit hochrotem Kopf über den Bürgersteig stiefelte und schimpfte. Doch nur wenige schenkten ihm Beachtung. Die Presseleute machten einfach einen Bogen um ihn, riefen sich gegenseitig Anweisungen zu und brachten sich vor dem Tor, das die Straße vom Schulgelände trennte, in Position.

Ich spürte, wie mir schwindelig wurde, und taumelte zurück. Das konnte nur ein Albtraum sein! Waren die etwa alle wegen mir hier?

Einer inneren Eingebung folgend, flüchtete ich in einen angrenzenden Korridor, der zu den Lehrerzimmern und der Bibliothek führte. Hier gab es keine Fenster und ich erlaubte mir, kurz stehen zu bleiben und die Eindrücke zu verarbeiten. In was war ich da bloß hineingeraten? Edward und ich hatten nur einen kurzen Augenblick zusammen gehabt. Wir hatten nicht einmal viele Worte gewechselt und dennoch schienen die Medien komplett durchzudrehen.

Ich zog mein Handy hervor und scrollte durch die vielen verpassten Anrufe. Zwei von Jordan, unzählige von Livy, sieben anonyme. Und dann … Edward. Mein Herz begann zu flattern. Ich hatte die Nummer, die er mir bei unserem letzten Treffen aufgeschrieben hatte, zwar eingespeichert, ihn aber nie angerufen. Dass er sein Versprechen, sich nicht ungefragt bei mir zu melden, nun brach, konnte nur bedeuten, dass etwas passiert war. Und nach allem, was ich gerade gesehen hatte, drängte sich mir ein beängstigender Verdacht auf.

Mit zittrigen Fingern öffnete ich das Internet und tippte Nachrichten und Prinz Tristan in die Suchzeile ein. Jordan und Livy konnten warten. Zuerst musste ich wissen, wie tief ich schon im Schlamassel steckte.

Die Nachrichtenseite wurde geladen und sogleich leuchteten mir die Schlagzeilen entgegen.

RennbahnskandalLügenprinz schockt mit weiterem Regelbruch

Flüchtige GeliebteWer ist Tristans neue Flamme?

Die Königin fand sie nicht angemessenDas große Drama um Tristans Liebesaus

Wie ich es vermutet hatte. Die Geschichte um uns entwickelte sich zum Selbstläufer. Ungläubig las ich die Worte noch einmal und schüttelte den Kopf. Idioten! Ich hatte die Königin erst ein einziges Mal persönlich gesehen – auf einer Parade, zu der Livy mich mitgeschleppt hatte. Wir hatten am Rand gestanden und mit albernen Fähnchen gewunken.

Ich überflog auch die anderen Überschriften, die die Frage aufwarfen, ob Tristan nun Single war oder nicht. Einige sprachen sogar von einer heimlichen Verlobung und auf der Titelseite der Sun prangte War SIE der Grund dafür, dass Prinz Tristan sich jahrelang der Öffentlichkeit entzog?Rennbahnmädchen sorgt für neuen Wirbel im Prinzenskandal.

Ich schaltete den Bildschirm aus und schloss die Augen. Es war noch viel schlimmer, als ich erwartet hatte. Was zur Hölle war passiert? Und wie um alles in der Welt waren all diese Menschen so schnell dahintergekommen, wer ich war und wo ich zur Schule ging? Livy und ich waren erst gestern auf der Rennbahn gewesen! Gestern! Das Zusammentreffen mit Edward lag keine vierundzwanzig Stunden zurück.

Jetzt bloß nicht durchdrehen. Es würde alles gut werden. Ganz bestimmt.

Aber was sollte ich jetzt tun? Nach draußen gehen und den Reportern erklären, dass sie sich mit ihren Theorien vollkommen verrannten? Nein. Wenn meine Mitschüler mir schon nicht glaubten, würde es die Presse erst recht nicht tun. Und ich wollte Edward auch nicht noch mehr in Schwierigkeiten bringen, indem ich in meiner Panik etwas sagte, das später anders ausgelegt wurde. Ein hysterischer Anfall in der Schule war das Letzte, womit ich uns gerade helfen konnte.

Aber was dann? Konnte es mir gelingen, unbemerkt das Gebäude zu verlassen? Vielleicht über den Sportplatz oder durch eines der Fenster in den Kunsträumen? Ja, das konnte klappen. Ich musste es zumindest versuchen.

Das Handy in meiner Hand vibrierte. Livys Bild leuchtete mir von dem Display entgegen und ich nahm das Gespräch an.

»Na endlich!«, erklang die aufgeregte Stimme meiner Freundin aus dem Hörer. Sie war außer Atem und ich hörte eine Tür ins Schloss fallen. »Die ganze Schule ist von Fernsehteams umstellt und alle fragen nach dir. Ich habe dich schon überall gesucht. Wo bist du?«

»Lehrerzimmer. Flur.« Mehr konnte ich gerade nicht herausbringen, ohne dass der immer größer werdende Kloß in meinem Hals mir ein panisches Schluchzen entlockte. Die Schule war umstellt? Hatte ich richtig gehört?

»Gut«, schnaufte Livy ins Telefon. »Dann bleib auf jeden Fall, wo du bist. Ich komme zu dir. Und egal was ist, geh nicht zur Sporthalle raus! Klar? Ruby, aus meiner Cheerleadergruppe gibt da gerade ein Interview über dich. So eine falsche Schlange!«

Ruby? Welche Ruby? Die Cheerleader kannten mich doch gar nicht. Ich hatte sie höchstens ein paar Mal gesehen, wenn ich Livy vom Training abgeholt oder sie zu einem Wettkampf begleitet hatte. Was sollte sie schon über mich erzählen können?

»Beweg dich nicht vom Fleck!«, mahnte Livy. »Ich bin gleich da. Ich muss nur noch schnell … Ach, verfluchte Cleopatra, in welcher Kiste bist du?«

Cleowas?

Ich kam nicht mehr dazu nachzufragen. Aus dem Hörer klang bereits ein gleichmäßiges Tuten. Livy hatte aufgelegt.

Ich wartete und beobachtete, wie es von Minute zu Minute voller auf den Gängen wurde. Keine zehn Minuten zuvor, als ich aus dem Unterricht geflohen war, war es noch komplett leer gewesen. Aber jetzt, da der Gong zur Pause geläutet hatte, strömten die Schüler aus den Klassenzimmern wie aufgescheuchte Insekten. Ich stellte mich so nah an die Wand, wie ich konnte, und tat, als würde ich eine SMS tippen. Zum Glück beachtete mich kaum jemand. Alle liefen schnurgerade an mir vorbei, unterhielten sich lautstark oder telefonierten mit ihren Eltern. Als Livy endlich um die Ecke geschossen kam, atmete ich erleichtert auf.

»Oh Gott, es tut mir alles so leid«, keuchte sie, noch bevor sie zum Stehen kam. Sie schlitterte auf mich zu, schaffte es nicht rechtzeitig zu bremsen und prallte der Länge nach gegen mich. Ich stolperte rückwärts und konnte mich gerade so an einem der Türrahmen abfangen, um zu verhindern, dass wir beide zu Boden gingen.

Vollkommen aufgelöst sah Livy mich an. »Die Presseteams sind überall! Eben sind sogar welche über den Zaun vom Schulgarten geklettert. Vollkommen irre! Oh, Mann, wenn ich das geahnt hätte, wäre ich ganz bestimmt niemals mit dir zu dem Pferderennen gegangen. Ehrlich! Ich dachte, Edward wäre noch auf Staatsbesuch in Frankreich und …«

»Schon okay.« Ich umarmte sie. »Du kannst überhaupt nichts dafür. Ich hätte einfach gehen sollen, als ich Edward gesehen habe. Oder er hätte nicht zu mir … Ach, keine Ahnung.« Ich fuhr mir durch die Haare und seufzte. Vermutlich machte es jetzt keinen Sinn mehr, sich darüber Gedanken zu machen, was hätte sein können, wenn einer von uns anders reagiert hätte. Ich hatte vorgehabt, Edward nie wiederzusehen, über ihn hinwegzukommen und einfach weiterzuleben. Aber dieser Plan war grundlegend gescheitert.

»Komm, lass uns verschwinden«, riss Livy mich aus meinen Gedanken und plötzlich klang ihre Stimme nicht mehr nervös, sondern kühl und beherrscht. Sie griff in ihre Tasche und holte ein Bündel Kleidung und eine schwarze Perücke hervor. »Hier, zieh das an.«

»Was soll das sein?«, fragte ich.

»Na, was wohl? Tarnung! Habe ich aus dem Theaterfundus mitgehen lassen.«

»Ja, aber …«, setzte ich an, doch Livy machte sich schon daran, mir die Mütze vom Kopf zu ziehen und meine Haare zusammenzubinden.

»Nichts aber. Ohne kann ich dich nicht rausschmuggeln. Und jetzt hör auf zu diskutieren. Sei froh, dass ich dich nicht in einen Wäschesack stecke und nach draußen rolle.« In einer einzigen schnellen Bewegung fischte Livy mir die Perücke aus der Hand und zog sie mir über. Dann lief sie einmal um mich herum, zupfte daran und nickte schließlich zufrieden.

Ich berührte die falschen Haare mit den Fingerspitzen und tastete an dem gerade geschnittenen Pony entlang.

»Was soll das sein?«, fragte ich, immer noch skeptisch, und drehte mich, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, worin ich mich spiegeln konnte. Aber da war nichts.

»Cleopatra«, antwortete Livy. »Aus dem diesjährigen Winterstück. Glaub mir, damit wird dich keiner erkennen, weil du nämlich aussiehst wie Rihanna.«

Oder aber total bescheuert.

»Und von welcher Aufführung ist das?« Ich faltete das schwarze Stoffbündel auseinander und hielt es vor mich. »Tanz der Vampire?«

Der lange Mantel mit den silberfarbenen Schnallen und der Spitzenbordüre an den Ärmeln sah aus, als wäre er gestern noch von Graf Krolock persönlich getragen worden.

Livy verdrehte die Augen, half mir aus dem Blazer meiner Schuluniform. »Schön, ich gebe es zu. Es ist vielleicht nicht ganz dein Style. Aber ich hatte nur wenig Zeit. Außerdem ist das mein erster Fluchtplan.«

Ehe ich michs versah, stopfte sie meine Sachen in ihre Tasche, zog mir den Mantel über und hielt mir eine Sonnenbrille entgegen.

»Und du glaubst wirklich, dass das funktioniert?«

Livy nickte. »Hundertprozentig. In Filmen wird das doch immer so gemacht. Und denk mal an die ganzen Promis. Die verkleiden sich auch, wenn sie unter Leute gehen. Beyoncé, Lady Gaga, Shawn Mendes …« Beim letzten Namen seufzte sie verträumt. »Einfach alle.«

Ich nickte, auch wenn ich nach wie vor wenig überzeugt war, und ließ mich von Livy in Richtung der Musikräume ziehen. Auf dem Weg dorthin wurden mir zahlreiche schiefe Blicke zugeworfen und als wir an einer der Glastüren vorbeikamen und ich mich darin betrachtete, wurde mir schlagartig bewusst, warum. In der Spiegelung blickte mir eine verstört aussehende Version meiner selbst entgegen, mit akkurat geschnittenen schwarzen Haaren, glitzernder Sonnenbrille und Dracula-Mantel. Nicht zu vergessen, meine Chucks, die darunter hervorlugten und den Look noch skurriler wirken ließen. Rihanna? Weit gefehlt!

Wäre ich nicht so verzweifelt, hätte ich wohl über mich selbst gelacht und ein Erinnerungsfoto geschossen. Aber so senkte ich bloß den Kopf, lief mit schnellen Schritten hinter Livy her und fragte mich, ob dieser Tag eigentlich noch schlimmer werden konnte.

»Okay, keine Paparazzi in Sicht«, raunte Livy von draußen. »Du kannst kommen.«

Ich atmete tief durch und kletterte auf die Lehne des abgewetzten Sofas, das direkt vor der Fensterreihe stand. Tatsächlich war Livys Idee, über den Musikkeller nach draußen zu kommen und von dort aus zur Bahn zu laufen, gar nicht so abwegig. An dieser Seite der Schule wuchsen zahlreiche Büsche und wir mussten lediglich über einen Gitterzaun klettern, um das Gelände zu verlassen.

Eigentlich meine leichteste Übung. Dennoch schlug mir das Herz bis zum Hals, als ich mich mit den Händen im Fensterrahmen abstützte und mich mit dem Kopf voran hindurchschob. Wenn mich jetzt jemand erwischte, waren die Meldungen vorprogrammiert. Gothic-Cleo auf der FluchtTristans Freundin bleibt im Fenster stecken.

Das durfte auf keinen Fall passieren!

Auf dem Bauch liegend, robbte ich weiter und Livy griff nach meinen Schultern, um mich nach draußen zu ziehen. Der Mantel verhakte sich und es kostete uns einige Mühen, bis ich endlich auf dem Rasen lag.

»Los, aufstehen!« Livy zerrte an meinem Arm und ich erhob mich schwerfällig und warf einen Blick zu allen Seiten. Niemand zu sehen. Gemeinsam rannten wir die wenigen Meter bis zum Zaun. Ich half Livy herüberzuklettern und nahm dann selbst Anlauf. Mit den Händen stützte ich mich auf dem schmalen Metall ab, drückte mich nach oben und schwang meine Beine nacheinander auf die andere Seite. Geschafft! Livy lächelte stolz und richtete meine Perücke, aus der vereinzelte rote Strähnen hervorblitzten. »Hab doch gesagt, das funktioniert. Alle Promis machen das so.«

Ich war aber kein Promi. Nur Greta. Ein Mädchen aus Clapham, das sich eine winzig kleine Studentenbude mit ihrem Bruder und einer gestörten Katze teilte. Und ich hatte garantiert nie vorgehabt, berühmt zu werden. Geschweige denn, ins Fernsehen zu kommen. Ich seufzte und ließ den Vampirmantel von meinen Schultern rutschen. Zumindest hatten wir es geschafft, unbemerkt das Schulgelände zu verlassen. Das war das Wichtigste. Jetzt nichts wie in die Underground und dann …

Von irgendwoher erklang ein Surren. Auch Livy bemerkte es, denn sie hielt plötzlich inne. Das Geräusch, es kam von … von oben? Gleichzeitig blickten wir in Richtung Himmel und ich riss vor Schreck die Augen auf. Die Drohne! Verdammt, die Drohne! Ich hatte sie bereits vorhin am Eingang entdeckt, aber nicht mehr im Geringsten an sie gedacht. An der Unterseite blinkte eine unscheinbare Kamera.

»Oh, Shit«, entfuhr es Livy und für die Dauer eines Herzschlages standen wir uns bewegungsunfähig gegenüber. In ihren Augen spiegelte sich meine Panik. Dann hörte ich aufgebrachte Stimmen von der Straße, gefolgt von eiligen Schritten und Motorengeräuschen.

»Die wissen jetzt, wo wir sind.« Livy reagierte als Erste. Sie griff nach meiner Hand und zerrte mich mit sich, direkt über die Straße. Autos hupten. Jemand schimpfte. Wir ignorierten es, rannten geradewegs in eine Seitengasse und kreuz und quer durch ein Wohngebiet. Die Häuser flogen nur so an uns vorbei und wir hetzten immer weiter, auch wenn wir die Reporter längst abgehängt hatten. Livy atmete schwer und vor meinen Augen verschmolzen die Häuserreihen zu einer einzigen, nie enden wollenden Masse. Als sich die Perücke schließlich aus meinen Haaren löste und quer über den Bürgersteig davonflog, wusste ich längst nicht mehr, wo wir waren.