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Leo Heller

Der Gemüseflüsterer von Mainhattan

Krimikomödie

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Inhalt

Impressum

Vorbemerkung

Have A Nice Day

Das Monegassische Prachthuhn

Nur weil jemand Binding Export-Bier trinkt, muss er noch lange kein schlechter Mensch sein

Spirutopia

Michelle, ma belle

Vorsichtig, mein Freund, ganz vorsichtig!

Sophia Lorens Enkeltochter

Konsul Hofgeier

Blumenkohl aus Mannheim

Wenn du so bist wie dein Lachen – dann Gut Nacht!

Dunkle Materie

Germania

Was dich findet, musst du nicht suchen

Das Herz ist ein einsamer Jäger

Ein Prosit der Gemütlichkeit

Time For Flirtation

Rrrrroter Alfa Romeo

Lasst Zwiebeln sprechen

Die Hausordnung

Pressemeldung 1

Pressemeldung 2

Pressemeldung 3

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Vorbemerkung

Im Sommer des Jahres 2015 misst man in Deutschland die heißeste Temperatur seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Vierzig Komma drei Grad Celsius im Schatten. Nachts kühlt es in der Frankfurter City kaum ab, weil sich die Hitze zwischen den Wolkenkratzern staut. Der Hitzestress mag einer der Gründe sein, warum sich im Juli 2015 die Gemüter und Gehirne so stark aufheizen, dass bei einigen Bürgern der Dampfkoch-Kopf explodiert und sie bereit sind, für ein simples Kochrezept zu morden.

Have A Nice Day

Montag, sechster Juli, Frankfurt-City, Opernplatz

Der Fleck auf meinem weißen Hemd wird immer größer. Dickflüssig rinnt die rote Soße über meine Bauchmuskeln.

Verdammt, das sieht nicht gut aus.

Ich werfe die Currywurst und das Gummibrötchen in einen Mülleimer auf der Frankfurter Fressgass und spurte vor zum Opernplatz. Mein neues Shirt aus dem Frankfurt Summer Sale ist genauso ruiniert wie mein Mittagessen.

»Mein Gott, McBride! Wie sehen Sie denn aus? Können Sie nicht mal essen?«, begrüßt mich die Rechtsanwältin Muriel von Stromberg auf der Terrasse des noblen Cafés an der Alten Oper.

»Sorry, Frau von Stromberg, mir ist gerade die Currywurst auf mein …«

»Schon gut. Das sehe ich ja. Setzen Sie sich. Unser Gesprächspartner sollte gleich hier sein.«

»Wer ist gleich hier?«

Die Rechtsanwältin von Stromberg antwortet nicht. Sie lugt über ihre Sonnenbrille und weist mit einem Kopfnicken auf die weite Fläche des Opernplatzes. »Der Herr da hinten. In dem Mantel.«

Ein bärtiger Mann mit einem grauen Zopf schreitet über den menschenleeren Platz. Es ist ungewöhnlich heiß heute. Viel zu heiß für einen frühen Vormittag. Die Hitze flimmert über den Granitplatten des Opernplatzes und lässt den Mann unscharf erscheinen wie eine Fata Morgana. Trotz der hohen Temperaturen trägt der Typ einen Trenchcoat. Sein Oberkörper schaukelt beim Gehen auf und ab. Mit dem rechten Arm rudert er, als wolle er Fliegen vertreiben. Unter dem linken Arm klemmt eine Aktentasche. Der merkwürdige Aufzug und die Art zu gehen kommen mir bekannt vor. Er bleibt jetzt mitten auf dem Opernplatz stehen, orientiert sich und steuert dann unseren Tisch im Opern-Café an.

Es gibt keinen Gast auf der Terrasse des Cafés, der nicht aufblickt, als das Motorrad über den Platz jagt und auf die Person im Trenchcoat zurast. Wenige Meter vor dem Mann geht der Fahrer hart in die Eisen und driftet mit der Maschine so, dass das Motorrad quer vor dem Unbekannten zum Stehen kommt. Keine zehn Meter von uns. Unter der Lederkombination der Person, die die Kawasaki steuert, zeichnet sich eine weibliche Figur ab. Das Gesicht der Frau ist von unserem Tisch aus nicht zu erkennen. Sie trägt einen Integralhelm mit verspiegeltem Visier. Die Motorradfahrerin und der Zopfträger unterhalten sich. Gesprächsfetzen hallen herüber.

»Her mit der Tasche«, befiehlt die Frau und greift nach ihr.

»Nimm die Finger weg!«, weicht der Grauhaarige zurück und presst die Aktentasche an seine Brust.

Die Motorradfahrerin wird laut: »Du, Penner, kannst damit sowieso nichts anfangen. Gib es uns, sonst …«

»Sonst was? Lieber verbrenne ich es.«

»Das wirst du nicht tun!«

»Oh doch«, antwortet er.

»Gib mir die Tasche«, raunt die Frau noch einmal drohend.

Der Mann lässt den Arm mit der Aktentasche sinken und lächelt. »Fahr nach Hause und mach dir die Fingernägel, Schätzchen.«

Die Bikerlady steigt von ihrem Motorrad und kippt es auf den Seitenständer. Ohne den Motor abzustellen. Sie bückt sich und zieht einen Gegenstand aus ihrem linken Stiefel.

»Steck das Spielzeug weg«, fordert sie der Mann auf.

Die Pistole, eine kleinkalibrige Beretta, zittert in der Hand der Frau. Einen ewig wirkenden, kurzen Moment lang wird es still auf dem Opernplatz. Der alte Mann schweigt, das Publikum im Café schweigt, Muriel von Stromberg und ich schweigen. Der schwarze Lederarm der Frau streckt sich. Ihre Hand zittert nicht mehr.

BAMM-BAMM!

Zwei Schüsse bellen über den Platz. Beide Kugeln schlagen ins Gesicht des alten Mannes. Jeder Schuss reißt ihm den Kopf ein Stück weiter nach hinten. Noch hält er sich auf den Beinen. Doch langsam knicken seine Kniegelenke ein wie im Regen durchweichte Pappkartons. In Zeitlupe sackt er zusammen und sinkt nieder auf den Steinboden des Opernplatzes. Die Bikerin steckt die kleine Kanone zurück, nimmt die Aktentasche aus den Händen des Sterbenden, klemmt sie sich zwischen ihren Hintern und den Motorradsattel und jagt mit der Maschine davon.

»Merken Sie sich das Nummernschild, McBride!«, ruft meine Auftraggeberin.

Umsonst. Über das Nummernschild der Kawasaki ist ein Jutebeutel gezogen.

»Are they making a movie?«, fragt mich ein Tourist am Nachbartisch, der noch nicht gecheckt hat, dass er gerade in der Hauptstadt des Verbrechens frühstückt.

Muriel von Stromberg wählt den Notruf. Ich springe auf und stürze vor zu dem Opfer. Für Erste Hilfe ist es zu spät. Der alte Mann zittert im Todeskampf. Blut sickert aus seinem Gesicht in den grauen Vollbart. Das rechte Auge ist nur noch ein rotes Loch. Aus dem linken starrt er mich an. Er lebt noch und atmet schwer.

»Jürgen«, spricht er mich mit meinem Vornamen an. Jetzt erkenne ich den Mann. Es ist Dr. Lärche, mein alter Lateinlehrer. Dr. Lärche! Versucht er mir etwas zu sagen? Mehr als ein Röcheln bringt er nicht zustande.

»Ich höre Ihnen zu, Dr. Lärche, reden Sie.«

Mit unheimlicher Kraft, verliehen durch das nahende Jenseits, greift seine Hand in meinen Nacken und zieht mich ganz nahe zu sich runter. Ich rieche den Eisengeruch des Blutes, spüre auf meinem Gesicht die Blasen des roten Schaums zerplatzen, der aus seinem Mund tritt. Er flüstert: »Germania.« Noch einmal höre ich es deutlich: »Germania … Germania. Sachsen…«, gurgelt es aus seinem Schlund.

Dr. Lärche hört auf zu sprechen, und sein Herz hört auf zu schlagen. Von den grauen Granitplatten des Frankfurter Opernplatzes starrt mein Lateinlehrer tot und einäugig in den blauen Julihimmel.

Zwei Schüsse, zwei Kopftreffer. Die Bikerin kann mit einer Kanone genauso gut umgehen wie mit einem Motorrad. Das sollte bei der Ermittlung der Täterin helfen. Falls das zu meinem Job gehören sollte. Noch weiß ich nicht, warum ich eigentlich herbestellt worden bin.

Der Krankenwagen trifft ein. Die Ärzte verschaffen sich Zugang durch den Pulk aus Neugierigen, der sich um das Opfer drängt. Einige Passanten haben ihre Smartphones gezückt und machen Fotos und Videos für Facebook, Twitter und Instagram. Der Tourist, der mit seiner Frau neben mir gefrühstückt hat, zahlt eilig und überlässt seinen Lachstatar den Fliegen. »Have a nice day«, verabschiedet der Kellner die beiden geschockten Touris. Die Polizei fordert über Lautsprecher alle Anwesenden auf, vor Ort zu bleiben und sich zu Befragungen zur Verfügung zu halten. Der Platz wird mit rot-weißen Plastikbändern abgesperrt. Die Beamten beginnen mit der Aufnahme der Personalien. Das heißt, sie versuchen es. Eigentlich haben sie mehr damit zu tun, die Gäste des Cafés zu beruhigen, die sich darüber beschweren, aufgehalten zu werden.

»Das ist eine Unverschämtheit! Sie geben mir jetzt sofort Ihren Namen und Ihren Dienstgrad. Sie können mich hier nicht ohne Grund festhalten, junger Freund. Vielleicht geht das über Ihr Vorstellungsvermögen, aber es gibt in Frankfurt auch noch Leute, die das Geld verdienen, mit dem der Staat die öffentlichen Gehälter bezahlt. Zum Beispiel Ihr dünnes Gehalt, Mister Sherlock Holmes. In Ihrem Fall kann ich nur sagen, dass das für jeden Cent rausgeschmissenes Geld ist. Ich werde jetzt meinen Anwalt anrufen und Sie dürfen sich auf eine saftige Dienstaufsichtsbeschwerde freuen. Jawohl, mein lieber junger Freund. Fassen Sie mich nicht an! Aua! Svenja, hast du das gesehen? Mach ein Foto! Nicht von mir, verdammt! Von dem Nazi da, Mensch!«

In den Tumult dringt eine Lautsprecherstimme. Mit einem starken Akzent. Die Beschwerden der nervösen Kaffeehausgäste klingen aus. Die Rolex-Fraktion der Frankfurter Gesellschaft lauscht den Anweisungen aus dem Megafon.

»Meine Damen und Herren, Sie sind alle Zeugen in einem Mordfall. Wir werden nun Ihre Personalien aufnehmen. Wir bitten Sie, sich kooperativ zu verhalten und unseren Kollegen die Arbeit zu erleichtern. Je mehr Sie unsere Arbeit behindern, desto länger dauert das Ganze. Falls es jemanden einfallen sollte, sich der Überprüfung zu entziehen und über das Absperrband zu schreiten, sind meine Mitarbeiter angewiesen, Sie festzunehmen und Ihre Personalien auf der Wache festzustellen. Die Polizei bedankt sich für Ihr Verständnis.«

Ich kann den Polizeibeamten, der diese Ansage gemacht hat, nicht sehen. Aber ich weiß auch so, wer da spricht. Die Stimme gehört dem Chef des Morddezernats Frankfurt-Mitte: Hauptkommissar Erik Odecker. Erik und ich, wir beide waren mal die deutsch-deutschen Vorzeigekommissaranwärter in der Weihnachtsausgabe von »Die Kriminalpolizei« im Jahr 1999. Mein Kollege aus Zwickau hat es mittlerweile zum Dienststellenleiter im Frankfurter Morddezernat gebracht. Während ich vor fünf Jahren freiwillig aus dem Polizeidienst ausgeschieden bin. Na ja, vielleicht nicht ganz freiwillig.

Erik trägt wie immer sein haselnussbraunes Schurwoll-Jackett mit den aufgenähten Wildleder-Ellenbogenschonern. Das Jackett kauft ihm seine Frau eine Nummer zu groß, damit im Winter der Rollkragenpullover darunter passt.

»Servus Erich!«, begrüße ich ihn, als er an unserem Tisch vorbeiläuft.

Erik sperrt die Augen auf. »Schau an, der Jürgen! Einer ist tot oder tut noch würgen – Und wer steht nebendran? Der Jürgen.«

»Und wer kommt wie immer unpünktlich – der Erich.«

»Nenn mich nicht Erich. Ich heiße Erik.«

»Sorry, ich vergess das immer, Erich.«

»Na schön. Du kommst bei der Vernehmung als Letzter dran.«

»Macht nix – Kellner, einen Sauergespritzten bitte. Was nimmst du, Erich?« Kommissar Erik Odecker zieht wortlos ab. Er darf ja keinen Apfelwein trinken. Erstens, weil das im Dienst verboten ist. Und zweitens, weil er ihn nicht verträgt. Auch das war für mich ein Grund, aus den aktiven Polizeidienst auszuscheiden. Also wegen erstens natürlich. Zweitens ist mehr ein Problem der Ostdeutschen. Aber auch der Norddeutschen und der Westdeutschen. Und der Süddeutschen. Zum Apfelweintrinker muss man geboren sein. In der richtigen Gegend, meine ich damit. Also in Frankfurt am Main.

Das Monegassische Prachthuhn

Montag, sechster Juli, Frankfurt-City, Opernplatz

Hauptkommissar Odecker macht seine Drohung wahr und lässt Muriel von Stromberg und mich lange im Opern-Café sitzen, ohne dass ein Beamter zur Vernehmung an unseren Tisch kommt. Mir ist das herzlich egal. Ich habe schon in weit schlechterer Gesellschaft gesessen.

Meine attraktive Auftraggeberin Muriel von Stromberg, Partnerin der Kanzlei Stromberg/de Funes/Bethmann, ist beinahe so etwas wie eine alte Freundin. Trotzdem siezen wir uns immer noch. Gerade beendet sie ein Telefongespräch mit ihrem Büro.

»Frau von Stromberg, was liegt eigentlich an? Wieso wurde der Mann erschossen?«

»Der Tote heißt Dr. Walter Lärche.«

»Ich weiß. Ich kenne den Mann.«

»Woher das?«, staunt meine Auftraggeberin.

»Dr. Lärche ist mein ehemaliger Lateinlehrer.«

»Ihr Lateinlehrer? Im Ernst? Sie können Latein? Sie überraschen mich immer wieder, McBride. Currywurst und Latein. Na schön, Dr. Lärche ist also ihr Lateinlehrer gewesen. Das war er vielleicht mal vor zwanzig Jahren. Jetzt ist er – war er – ein gut bezahlter Coach, einer der Stars unter den Mental-Coaches. Er coacht die Führungsetagen der deutschen Economy. Außerdem ist er Mitglied in der Nation Of The Beautiful – gewesen.«

»Bitte noch mal zum Mitschreiben, Frau von Stromberg: in der Nation Of was

»Nation Of The Beautiful. Das ist eine internationale Gesellschaft, die sich, grob gesagt, mit Ernährungsfragen beschäftigt. Die Mitglieder der Nation streben körperliche und geistige Vollkommenheit an.«

»Aha, verstehe!«

Muriel von Stromberg zieht eine Augenbraue hoch, betrachtet den Soßenfleck auf meinem Shirt und mustert mich durch ihre Gucci-Sonnenbrille. Um ihr zu beweisen, dass ich sehr wohl verstanden habe, worum es hier geht, teile ich ihr spontan einige persönliche Gedanken zum Thema Ernährung mit.

»Essen ist ja eine wichtige Sache. Ganz besonders heutzutage. Meine ehrliche Meinung als Sportler ist: Lecker und gesund muss kein Widerspruch sein. Ich habe mir angewöhnt, samstagabends zur Sportschau statt einer Tüte …«

Muriel von Stromberg unterbricht mich mit einer ungeduldigen Handbewegung. Okay, all right, kein Problem. Die Lady ist der Boss. Ich werde ihr meine Ansichten zum Thema Ernährung erläutern, wenn die Frau aufnahmefähiger ist. Sicher steht sie noch unter dem Eindruck des schrecklichen Mordes, der gerade vor unseren Augen stattgefunden hat. Sie startet mit dem Briefing für meinen neuen Job.

»Also schön, McBride, ich muss jetzt ein bisschen weiter ausholen, um Ihren Auftrag zu erklären. Bitte versuchen Sie trotz Ihres, äh, speziellen Hintergrunds zu verstehen, worum es den Anhängern der Nation Of The Beautiful geht. Kern ihrer Lehre ist, dass jeder Mensch durch richtige Ernährung zu einem perfekten Selbst gelangen kann. Damit auch zu einer attraktiveren Erscheinung. Das ist aber nicht alles. Die Anhänger der Lehre sind davon überzeugt, dass eine Art von ultimativer Speise existiert. Das Beste, was der Mensch zu sich nehmen kann.«

Rippchen mit Kraut bin ich in einem urhessischen Reflex versucht einzuwerfen. Aber ich schlucke den Einfall runter und konzentriere mich weiter auf Frau von Strombergs Ausführungen.

»Man nennt es: das Jüngste Gericht. Wer das Original des Rezeptes für dieses Gericht besitzt und es verspeist, dem werden fünfzig Jahre Gesundheit und Schönheit garantiert. Der Überlieferung nach erscheint das Rezept alle fünfzig Jahre an einem ehemaligen keltischen Siedlungsort. Und wirkt dann nur bei drei Menschen. Bei dem Rezept handelt es sich um eine Aufzeichnung, die auf Pergament niedergeschrieben wurde. Die Wirkung des magischen Gerichtes tritt an einem einzigen Tag, dem 19. Juli, ein. Das ist der Geburtstag eines keltischen Heiligen namens Baldur. Das letzte Mal wirkte das Rezept am 19. Juli 1965 in London. Jetzt, genau fünfzig Jahre später, schreiben wir das Jahr 2015. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass das Pergament mit dem Rezept dieses Jahr hier in Frankfurt auftauchen wird. Nun zu Ihrem Auftrag: Meine Kanzlei beauftragt Sie, das Rezept zu finden und das Pergament im Original bei uns abzuliefern. Unser Mandant beansprucht ein ererbtes Recht auf das Pergament. Es ist eine Person des öffentlichen Lebens. Diese Person will anonym bleiben.«

»Hatte mein alter Lateinlehrer das Rezept in seiner Aktentasche? Und die Motorrad-Lady ist mit dem Ding abgerauscht?«

»Ich denke nicht, dass Dr. Lärche das Artefakt in seiner Aktentasche hatte. Wahrscheinlich hatte er Hinweise darauf. Ich hatte ihn mehrmals zu einem Gespräch gebeten. Ich wollte mit ihm zu einer Übereinkunft im Interesse unseres Mandanten kommen. Er hatte das bisher strikt abgelehnt. Heute Morgen hatte er es plötzlich eilig, mich zu treffen. Er sagte, er fühle sich bedroht, und bat mich um Hilfe. Ich wollte, dass Sie ihn kennenlernen, McBride, und vielleicht eine Zeit lang begleiten. Als eine Art Bodyguard. Natürlich auch, um zu einer Einigung wegen des Rezeptes zu kommen. Wie wir leider mit ansehen mussten, lag Dr. Lärche mit seinem Gefühl, verfolgt zu werden, richtig. Seit in einer Fernsehsendung berichtet wurde, das magische Rezept sei in Frankfurt zu finden, sind eine Menge Leute hinter dem Pergament her.«

»Glauben Sie diese ganze Geschichte, Frau von Stromberg? Ich meine, die Sache mit fünfzig Jahren Schönheit nach einem einzigen Essen?«

»Vielleicht nicht in letzter Konsequenz. Aber prinzipiell ist etwas dran an der Story. Ernährung hat einen großen Einfluss auf unser Inneres und Äußeres. Das ist unbestritten. Mens sana in corpore sano. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Sie verstehen doch Latein, McBride«, sagt Muriel von Stromberg und lächelt schelmisch.

Wir lassen den einstigen Lieblingsspruch meines Lateinlehrers im Raum stehen. Muriel zieht ihre Sonnenbrille ab. Ich ziehe mir eine frische Camel. Frau von Stromberg rückt ihren Stuhl näher, greift nach ihrem Aperol und nippt an dem Glas, ohne daraus zu trinken.

»Wie lange kennen wir uns jetzt, McBride?«

»Keine Ahnung. Drei Jahre vielleicht?«

»Sollten wir uns nicht langsam mal duzen?«

»Können wir machen.« Muriel beugt sich mit ihrem Aperol vor.

»Also … ich heiße Muriel.«

»Das weiß ich doch längst«, grinse ich.

»McBride, Sie haben wirklich kein Benehmen!«

»Ich bin der Jürgen«, biete ich mein geripptes Apfelweinglas zum Stößchen an.

»Sag mal, wie alt schätzt du mich, Jürgen?« Muriels Kaffeehausstuhl knackt, als sie ihren Po anspannt.

»Keine Ahnung Muriel. Ich bin wirklich nicht gut im Raten.«

»Ich gebe dir einen kleinen Tipp.« Muriel zwinkert mit dem Auge. »Damit du nicht total danebenliegst: Ich werde meistens ein klein wenig jünger eingeschätzt, als ich bin.«

»Wirklich, ich weiß nicht.«

»Sag einfach eine Zahl!«

»Zweiundvierzig.«

»Na gut.« Muriels Ton wird geschäftsmäßig. »Dein Tarif ist gleich geblieben, nehme ich an?«

»Fünfhundert Euro Tagessatz ohne Spesen.«

»Du bist hiermit beauftragt, das Artefakt des Jüngsten Gerichtes wiederzubeschaffen. Das ist ein in lateinischer Schrift beschriebenes Pergamentblatt. Ein Beispiel, wie es ungefähr aussehen könnte, schicken wir dir per Mail. Unser Klient legt großen Wert darauf, dass ihm das Original spätestens zwei Tage vor dem 19. Juli übergeben wird. Bei Einhaltung dieses Termins ist er bereit, eine Erfolgsprämie in Höhe von zwei Tagessätzen auszuschütten. So oder so endet dein Auftrag spätestens am Freitag, den 17. Juli um null Uhr.«

»Da hat’s einer eilig, fünfzig Jahre lang zu leben!«

»Hm. Woher weißt du, dass mein Klient ein Mann ist?«

»Da hast du recht, Muriel. Das soll mir auch egal sein. Was meine Ermittlungen angeht: Mein alter Lateinlehrer, Herr Lärche, kann uns ja nicht mehr viel über das Rezept erzählen. Was ist mit der Motorrad-Lady? Eine Idee, wer die Frau sein könnte?«

»Nein, keine Ahnung, ich kenne die Frau nicht. Aber ich habe einen Vorschlag, wo du mit deinen Ermittlungen starten solltest: Heute Abend findet ein Vortrag in dem Gesellschaftshaus der Nation Of The Beautiful statt. Ein Vortrag über ›die spirituelle Energie pflanzlicher Nahrung‹. Wir vermuten, dass das Rezept im Umfeld des Klubs auftauchen könnte. Vielleicht kannst du dort Kontakte knüpfen und dabei gleich etwas über den Mord an unserem gemeinsamen Freund herausfinden. Die Adresse ist im Frankfurter Westend, Altkönigstraße dreihundertvierundneunzig. Der Vortrag beginnt um zwanzig Uhr. Unsere Kanzlei wünscht einen regelmäßigen Bericht über den Stand deiner Ermittlungen. Spätestens bis zum Wochenende erwarten wir erste Hinweise zum Verbleib des Rezeptes. Und eins noch, Jürgen …«

»Ja?«

»Meinst du, du bekommst es hin, bis heute Abend nicht nach Imbissbude auszusehen?«

»Kein Problem, ich ziehe mir ein frisches Hemd an.«

Als Profi-Ermittler fällt es mir dank meines weltmännischen Stils leicht, mich in jeder Umgebung standesgemäß zu kleiden. Wie oft wurde ich bei Veranstaltungen der Europäischen Zentralbank oder im Frankfurter Börsenverein für den Gastgeber gehalten. Man muss wissen, dass die Rechtsanwältin Muriel von Stromberg Mandanten aus den besten Kreisen betreut. Insofern legt sie auf ein gepflegtes Auftreten ihrer Mitarbeiter großen Wert.

In der Vergangenheit war Muriel schon mehrmals meine Auftraggeberin. Gleich bei unserem ersten gemeinsamen Abenteuer durfte sie sich von meiner sprichwörtlichen Diskretion überzeugen. In diesem delikaten Fall im europäischen Hochadel musste sie sich absolut darauf verlassen können, dass keine Personalien an die Öffentlichkeit gelangten. Die Angelegenheit war aber auch zu peinlich! Der gesamte Monegassische Fürstenhof ist mir noch heute bis auf die Knochen dankbar, dass ich die kleinen Hindernisse, die seinerzeit der Hochzeit von Charlene und Prinz Albert entgegenstanden, aus dem Weg räumen konnte. Wie man auf den Fotos in der Klatschpresse sehen kann: Charlene lächelt wegen dieser Geschichte noch immer ein wenig verlegen. Ich habe damals Prinz Albert in die Hand versprechen müssen, über die ganze Sache kein Wort zu verlieren. Vielleicht zu dem Thema nur so viel: Das Monegassische Prachthuhn, das bis dato frei in den Grünanlagen herumspazierte, trifft man dort nicht mehr an.

Nur weil jemand Binding Export-Bier trinkt, muss er noch lange kein schlechter Mensch sein*

Montag, sechster Juli, Frankfurt-Gutleutviertel, Mainufer

Mit Speed katapultiert uns der Opel über die Rampe aus dem Parkhaus in der Junghofstraße ans Tageslicht. Alle vier Räder drehen frei in der Luft. Laut bellt die Maschine des 1900er Opel GT auf, als sie den Sound des ewig gültigen Opel-Lieds auf den Asphalt der Neuen Mainzer Straße drückt. Übermütig lässt mein kleiner Freund einen Zündaussetzer in die Hochhausschlucht knallen, dass es zwischen den Monetentempeln aus Spiegelglas nur so scheppert. Der Opel freut sich über unseren neuen Auftrag. Er weiß genauso gut wie ich, dass es für uns höchste Zeit wird, Geld in die Haushaltskasse zu bringen. Für ihn ist eine neue Auspuffanlage fällig. Das kann bei einem Opel GT Baujahr 1972 schon mal ein paar Euros kosten. Bester Stimmung donnern mein bester Freund und ich auf der Mainzer Landstraße über eine dunkelgelbe Ampel in Richtung Platz der Republik.

Zum Start meiner Ermittlungen könnte ich jetzt ins Office fahren, mich wie jeder Penner mit Stromanschluss vor den PC setzen und mir Weisheiten über das keltische Rezept und die Nation Of The Beautiful zusammengoogeln. Aber es gibt verdammt gute Gründe, gerade das nicht zu tun. Der erste Grund ist das wundervolle Wetter an diesem Sommertag. Es wäre wirklich eine Schande, heute Nachmittag zu Hause vor der digitalen Idiotenlampe als Nachtschattengewächs dahinzuwelken. Das wäre eine Respektlosigkeit gegenüber der freundlichen Großwetterlage, den atlantischen Luftströmungen und unserem glorreichen Offenbacher Wetteramt.

Zweitens gibt es, wenn es um Frankfurter Geschichten geht, eine wertvollere Auskunft als die fußkranken Informationsquellen Google und Wikipedia. Niemand kennt sich in Frankfurter Interna besser aus als mein Freund Gustav, der Pächter einer Trinkhalle am Mainufer. Seine mit wenig Geld und viel Sinn für Improvisation aufgepimpte Holzbaracke ist für ein bunt gemischtes Publikum aus Geschäftsleben, abhängendem Proletariat und Unterwelt so etwas wie ein Kummerkasten. Eine stressfreie Zone, in der man beim Bier zusammenkommt und redet – und eben auch mal zu viel redet.

Gustavs Trinkhalle liegt unweit des Frankfurter Hauptbahnhofs am Mainufer unter zwei Eisenbahnbrücken, über die im Minutentakt Züge rauschen. Aus zwanzig Metern Höhe rieselt der Abrieb der Eisenbahnzüge von der Brücke herunter. Da macht es Sinn, sein Bier nicht aus dem Glas, sondern aus der Flasche zu trinken.

Gustavs Trinkhallenidyll ist nicht ganz leicht zu finden. Zufällig verirrt sich kein Mensch in das triste Industriegebiet am Rande des Frankfurter Gutleutviertels. Diesen Platz muss man schon kennen und mögen, um ihn anzusteuern.

Der Opel GT biegt von der Gutleutstaße auf ein Betriebsgelände ab, driftet über den Schotterplatz und rotzt dabei den Kies der Zufahrtsstraße an die Betonwand des Bauschuttlagers. So was macht ihm trotz seines Alters immer noch Spaß, dem kleinen Racker! Der Opel stürzt sich in die Senke der Fahrbahn runter zum Main, driftet in die Kurve zur Uferstraße und schleudert mit einer Hundertachtzig-Grad-Drehung millimetergenau zwischen zwei Blumenkübeln der Urban-Gardening-Initiative in eine Parkplatzbucht am Mainufer.

»Müsst ihr hier immer so reinheizen?«, schnauzt uns Gustav an.

»Sorry, du kennst ihn ja. Je älter er wird, desto eigensinniger wird er«, versuche ich meinen vierzig Jahre alten Freund zu entschuldigen.

»Wenn hier was zu Bruch geht, kriegt der Opel Hausverbot. Dann könnt ihr draußen auf der Gutleutstraße parken. Schreibt euch das hinter die Außenspiegel.«

Schuldbewusst klappt der Opel seine Schlafaugenscheinwerfer runter. Ohne meine Bestellung abzuwarten, marschiert Gustav in sein Büdchen und karrt zwei Flaschen Binding Export an.

»Und sonst, Meister?«, erkundigt sich Gustav nach meinem Befinden, durch die beruhigende Aura der Halbliter-Gerstensafteinheit schon friedlicher gestimmt.

»Schlechten Leut geht’s immer gut«, antworte ich auf seine immer gleich blöde Frage mit der immer gleich blöden Antwort.

Ihm bekannte männliche Kunden beehrt Gustav mit der Anrede »Meister«. Unbekannte männliche Kunden nennt er »Chef«. Frauen spricht er mit »Dame« an. Wenn eine Frau etwas bestellen möchte, läuft das so ab: Gustav senkt seinen Kopf und blickt die Frau von unten aus seinen rot geäderten Augäpfeln an. Wenn er sich sicher ist, dass die Drahtlosverbindung zu der Kundin steht, bittet er mit einem »Die Dame?« um die Bestellung. Dabei klingt er wie ein Straßenbahnschaffner aus Kaiser Wilhelms Zeiten.

»’ne Rindswurst«, bestellt die Frau vielleicht.

»Eine Rindswurst, die Dame«, wiederholt dann Gustav. Die Wiederholung der Bestellung ist als Geste der Höflichkeit gemeint, mit der er seiner Kundin bestätigt, dass ihre Bestellung respektvoll aufgenommen wurde. Dann fummelt er aus einer Plastikpackung eine Rindswurst und erhitzt die Gref-Völsing-Wurst in der Mikrowelle.

Es ist schwer zu beurteilen, ob Gustav die gestelzte Art, Bestellungen aufzunehmen, ironisch meint. Vermutlich weiß er das selber nicht. Das ist auch wurscht. Das abwegige Gebabbel passt einfach hierher.

»Was zu essen, Meister?«

»Danke, später. Der Meister braucht wieder mal ein paar Informationen von dir. Sagt dir die Nation Of The Beautiful was?«

Gustav zieht sich eine Camel ohne aus meiner Packung, kramt ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und lässt die filterlose Kippe mit einem stabilen Lungenzug aufknistern. Er wartet mit seiner Antwort, bis der ICE über die Eisenbahnbrücke gefahren und der kreischende Lärm der Wagen verebbt ist.

»Persönlich kenne ich zwei von denen. Italiener. Sie gehören zur Schlipsträgerfraktion der Banker und Broker, die hier abends aufkreuzen, um sich vom Businessstress zu erholen. Die beiden bleiben am liebsten unter sich. Hängen über ihren Laptops und dealen mit irgendwas. Einmal, als sie ein paar Gläser zu viel hatten, wollte sich einer von ihnen mit mir über meine Speisekarte unterhalten. Er hat sich über unsere Küche lustig gemacht, hat mir und groß und breit erklärt, welche Nahrungsmittel positiv aufgeladen sind und welche nicht und dabei von seinem Verein der Nation Of The Beautiful erzählt. Er ist der Sprecher der Deutsch-Italienischen Handelsgesellschaft. Er heißt Cornetto Caretta. Ein kleiner, öliger Typ. Mit so einer nostalgischen Hornbrille und nach hinten gegelten Haaren.

Der andere Italiener ist so etwas wie sein Assistent. Oder Bodyguard. Ein großer Kerl, nicht mehr jung, um die fünfzig. Kräftig, aber nicht fett. Er hat ein richtiges Metzgergesicht mit grauen Augenrändern. Wie der Typ bei ›Der Pate‹, dieser Schrank, dessen Hand mit dem Messer an der Theke festgenagelt wird. Der Typ redet nicht viel und nickt nur, während der Kleine pausenlos auf Italienisch auf ihn einquasselt.«

»Weißt du was über den Verein selbst, die Nation Of The Beautiful?«

»Die sind hier in Frankfurt noch nicht lange aktiv. Ursprünglich kommen die aus England. Ende der Sechzigerjahre, zu Hippiezeiten, waren die in London eine Hausnummer. Der Verein hat irgendwas mit Naturreligionen zu tun, mit Stonehenge und keltischen Riten. Die haben sich seinerzeit mit Pflanzen, Kräutern und irgendwelchen Pilzen zugedröhnt, die ihnen den absoluten Durchblick gebracht haben. Die ›Nation‹ hat wieder an Bedeutung gewonnen, nachdem Essen in den letzten paar Jahren zu einer Weltanschauung geworden ist. In Frankfurt wird der Verein von einem Unternehmer finanziert, der bekannt ist als ›der Konsul‹. Der Konsul ist ein Networker mit guten Verbindungen zur Stadt Frankfurt und zur Landesregierung. Als ›echter Frankfurter Bub‹, wie er sich in der Presse gern nennt, sponsert er die Eintracht. Konsul Hofgeier ist eine Person des öffentlichen Lebens. So sagt man doch, oder?«

»Das mit der Person des öffentlichen Lebens habe ich heute schon mal gehört.«

»Äh, okay«, nickt Gustav. Er ist nicht weiter an der Sache interessiert, öffnet mir ein neues Binding Export und geht seinen Geschäften nach.

* Herzlichen Dank an Flugkapitän Jan Schmidt für diese Kapitel-Überschrift