Annette Berger

 

Jeder

stirbt seinen

eigenen Tod

 

Wie das Sterben

das Leben verwandelt

 

 

 

 

 

 

 

 

Aquamarin Verlag

Deutsche Originalausgabe

1. Auflage 2020

© Aquamarin Verlag GmbH

Voglherd 1 • D-85567 Grafing

 

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

 

 

ISBN 978-3-96861-068-9

 

Inhalt

Vorwort und Gedicht von Hansjörg Weyermann

Einleitung

Sterben – wandeln und sein

Trauern – reifen und weitergehen

Du und ich – Atemholen im Abschied und Anfang

Palliative Care – begleiten und würdigen

Berührende Hände – verbinden und frei lassen

Nahtod-Erfahrungen – erahnen und ins Leben bringen

Organspende und Hirntod – definieren und mitteilen

Assistierter Suizid und die Angehörigen – Zugehörigkeit und Autonomie

Rituale und Feiern zum Abschied – vom Endlichen und Ewigen

Beten – Sich ausstrecken und wiederfinden

Die Autorin

Vorwort und Gedicht
von Hansjörg Weyermann

 

 

 

Der Inhalt des vorliegenden Buches erfordert ein behutsames und feinfühliges Vorgehen. Der Autorin ist es dank ihrer jahrelangen praktischen Erfahrung mit Kranken und Sterbenden gelungen, dem Leser das große Mysterium von Leben, Sterben und Tod in liebevoller Klarheit bewusster werden zu lassen.

 

Das Buch enthält nicht nur viele wertvolle und nützliche Hinweise, die überdacht und praktisch umgesetzt werden sollten, solange wir Menschen unser Leben noch selbst bestimmen können, sondern führt uns zu dem großen Geheimnis LEBEN, zu der mysteriösen Schöpferkraft, die alles Leben und alles Sterben im gesamten Universum beatmet und belebt. Eine Kraft, die sich in unendlicher Vielfalt wandelt und doch immer geheimnisvoll lebendig bleibt; denn Leben endet nie!

 

Leben und Tod treten zusammen mit uns ins Dasein. Sie sind zwei beständig anwesende Seiten unseres Daseins in der Zeit. Bald wirkt das eine mehr, bald das andere. Wenn wir ganz die Gegenwart leben, im Jetzt, verschwindet der Abgrund zwischen Leben und Tod, denn das ewige Jetzt ist Sein, die Zeit ist Dasein.

Das Buch ist kein Trostbuch mit Jenseitsversprechungen und Himmels-Vorstellungen; aber es führt uns mit seiner Intensität zu einer Ursprungsgegenwart, einer fühlbaren Teilhabe am Ganzen, diesem Ur-Ganzen, das wir nicht mehr Ur-Teilen. Es schenkt Vertrauen, Liebe und Zuversicht, und wir fühlen uns geborgen, eingebettet in den großen kosmischen Kreislauf, dessen Teil wir sind.

 

Eine wundervolle Auswahl von Texten aus vielen Epochen der Literatur, alten Überlieferungen und Weisheiten geben dem Buch eine unvergleichliche Tiefe.

 

Suche nicht

Du bist das Licht

Suche nicht

Die Wahrheit zu ergründen

Solange du suchst,

wirst du sie niemals finden

Suche nicht

Auf tausend Wegen

Die Wahrheit

wartet dir entgegen

und offenbart sich dir

in strahlendem Glanze

Suche nicht

Du bist das Licht

Du bist das Ganze

 

 

Hansjörg Weyermann

 

 

 

 

 

 

 

 

Einleitung

 

 

 

 

 

 

„Wie möchtest du sterben?“, fragte mich der befreundete Redakteur einer Zeitschrift im August 2017. Er schreibe einen Artikel über Menschen, die sich professionell mit dem Sterben und dem Tod auseinandersetzen, und ihn interessiere, wie ich den Übergang für mich persönlich wünsche. Seine Hartnäckigkeit war stärker als meine Bequemlichkeit. Am folgenden Tag schickte ich ihm meinen Text zu.

 

Peter Michel, der Inhaber des Aquamarin Verlags, las den Artikel und kontaktierte mich daraufhin mit der Frage, ob ich mir vorstellen könne, ein Buch zu publizieren? Wir trafen uns später in Zürich für einen konstruktiven Austausch.

 

Das Leben lehrt mich, Ja oder Nein zu sagen, Herausforderungen anzunehmen oder ziehen zu lassen. Ich sagte Ja, und vor mir lagen neun Monate, in denen ich über einige zeitgemäße Themen rund ums Sterben und den Tod schreiben würde.

 

Das vorliegende Buch spiegelt meine persönliche spirituelle und berufliche Entwicklung und Auseinandersetzung der letzten fünfundzwanzig Jahre wider. Durch die Begleitung von Menschen in existenziellen Krisen und Wandlungsprozessen lerne ich, dass diese letztlich alle tiefer ins Leben führen, auch dann oder gerade wenn der Tod mitspielt.

 

Das Buch möchte dazu anregen, das Sterben und den Tod als Teil des Lebens anzuerkennen und uns gegenseitig teilhaben zu lassen an unseren Fragen, Ängsten, Bedürfnissen und Wünschen. Sie gehören zu uns Menschen und zu unserem Menschsein.

 

Selbstbestimmung und Autonomie sind heute auch in Bezug auf das Sterben aktuell. Häufig wird dabei übersehen, dass damit unsere Selbstverantwortung zunimmt, sowohl in Bezug auf das eigene Wohl als auch auf das unserer Mitmenschen.

 

Selbstverantwortliches Handeln bedingt Entscheidungskraft, ein bewusstes Definieren der eigenen Haltung, der persönlichen Werte und Grenzen.

 

Durch die medizinischen Möglichkeiten im Bereich der lebensrettenden und lebensverlängernden Maßnahmen haben sich die Grenzen des Machbaren drastisch verschoben. Dadurch sind wir herausgefordert, diese neu zu definieren und zu beschreiben, worauf wir uns einlassen wollen und worauf nicht.

 

Das Buch verfolgt die Spur einer Annäherung an die großen und offenen Fragen unserer Existenz. Menschsein heißt für mich: Unsere körperliche wie unsere geistige Existenz anzuerkennen. Das Endliche und das Ewige sind uns als zwei Wirklichkeiten eingeschrieben, sie gehören zu unserem Erfahrungsspielraum und prägen ihn.

Die andere Wirklichkeit in uns ist das Ewige, das nicht an Zeit und Raum gebunden ist. Je wacher und präsenter wir im gegenwärtigen Moment sind, umso mehr nehmen wir das Ewige wahr: Jetzt ist Ewigkeit.

 

Das Geschenk sterbender Menschen an uns ist die Erfahrung, dass in ihrer Gegenwart unsere Wachheit für dieses Hier und Jetzt zunimmt. Vor dem Hintergrund der Endlichkeit gewinnt jeder Moment seine Einzigartigkeit und Kostbarkeit zurück. In dem Sinne öffnen uns Sterbende das Tor zum Ewigen in uns.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

Sterben – wandeln und sein

 

„Der Tod ist der Kunstgriff der Natur,

viel Leben zu haben.“

J. W. GOETHE

 

 

Sterben ist ein individueller, ein sehr persönlicher und intimer Prozess im Leben eines jeden Menschen. Wer sich vom Leben berühren lässt, durchlebt immer wieder kleinere und größere Tode. Damit wandelt sich auch etwas im Inneren eines Menschen. Jeder Verlust hinterlässt Spuren. Diese sind Ausdruck innerer Wandlung und Reife.

Entstehen und Vergehen sind natürliche Bewegungen des Lebens. Die Konfrontation mit dem Vergänglichen ist für den Menschen immer wieder zutiefst herausfordernd.
Er lernt zeitlebens mehr oder weniger freiwillig, sich auf unumgängliche und unerwünschte Situationen einzulassen, diese anzunehmen und sich dem Unausweichlichen hinzugeben. Oft investiert er alle seine Kräfte in den Widerstand, bis er schmerzlich feststellt, dass sein Aufbäumen vor allem kräfteraubend und nicht zielführend ist. Die Frage dreht sich weniger um Kämpfen oder Aufgeben; vielmehr geht es darum, die innere Haltung gegenüber dem Unabänderlichen zu finden.

Der Mensch tut sich schwer, zu akzeptieren, dass sich das Leben anders entwickelt, als er es sich vorgestellt hat. Gelingt es, den Widerstand aufzugeben und die Herausforderungen anzunehmen, wird er im besten Fall demütiger, in seinem Inneren weicher, sanfter, liebender und damit stärker. Er lernt, Würde zu entwickeln in Zeiten von Scheitern, Schmerz, Leid, Verletzlichkeit oder verpasster Gelegenheiten.

Der physische Tod repräsentiert die Endgültigkeit in radikaler und kompromissloser Weise – das Unumkehrbare, das definitive Ende der persönlichen Identität mit dem physischen Körper. Diese Radikalität ist einzigartig, in ihrer Konsequenz unvergleichbar und erschütternd für das menschliche Ich-Bewusstsein. Dieses Ich-Bewusstsein baut sich ein Leben lang auf durch Wissen und Erinnern.

„Denken ist die Ursache des Egos, und das Ego ist die Ursache von allem Wissen und Erinnerten. Der Mensch orientiert und definiert sich anhand dessen, was er weiß und erinnern kann. Wissen ist das, was der Mensch erlebt und woran er sich erinnern kann. Nur an seinen Tod kann er sich nicht erinnern – und das irritiert ihn. Irgendetwas in ihm fürchtet sich davor, weil er nicht weiß, was abfallen wird und ob es ein Danach wirklich gibt. Wenn ja, wie wird es dann dort für ihn sein? Bekanntes gegen Unbekanntes einzutauschen, ist gewiss keine erfreuliche Perspektive für das Ich-Bewusstsein.“1

 

Ob es ein Leben nach dem Tod gibt, wissen wir nicht, auch wenn vieles dafür spricht, dass das Bewusstsein nicht an den Körper gebunden ist. Sich mit diesem Nichtwissen zu konfrontieren, ist Teil des Unbehagens, welches das Thema Tod beim Menschen auslöst. Es widerspricht dem Bedürfnis nach Sicherheit, nach dem der Mensch ein Leben lang strebt. Dabei erfährt er früher oder später, dass es diese Sicherheit hier auf der Erde nicht gibt, auch wenn er sich noch so anstrengt. Diese vermeintliche Sicherheit zerschellt von einem Moment zum anderen, sobald sich im näheren Umfeld ein Todesfall ereignet. Begleitet von einem fahlen Gefühl in der Bauchgegend, realisiert der Mensch seine irdische Verwundbarkeit. Die Fragilität des Lebens schlechthin kann für Momente nicht mehr ausgeblendet werden. Diese Tatsache lässt ihn innerlich aufhorchen. Die bis dahin als selbstverständlich hingenommene eigene Gesundheit oder die Anwesenheit naher Bezugspersonen werden plötzlich wieder wahrgenommen und geschätzt. Er bewegt sich im Leben wieder achtsamer und wacher, da er sich der eigenen Verletzlichkeit bewusster ist.

 

Der Tod erschüttert und rüttelt auf. Darin liegt eine transformierende Kraft, die Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden lässt. Ein Mann in den Vierzigern sagte vor Kurzem zu mir: „Durch den tödlichen Herzinfarkt meines Arbeitskollegen bin ich irgendwie aufgewacht, und ich fühle mich seither lebendiger. Ich bin mir bewusster darüber, was ich alles in meinem Leben habe und wie schnell alles anders sein kann.“ Betroffenheit ist bekanntlich ein kurzlebiges Gefühl. Nicht selten kehrt der Mensch schneller, als es ihm bewusst ist, zurück in vertraute Gewohnheiten, in alte Denk- und Verhaltensmuster.

 

Viele Menschen beschäftigt die Frage, ob sterben leichter geht, wenn man im Leben lernt loszulassen? Was ist dieses Loslassen überhaupt? Wie geht loslassen?

Dem Loslassen-können geht ein Prozess des Annehmens voraus. Was nicht annehmbar ist, kann nicht losgelassen werden. Das bedeutet nicht, dass etwas gutgeheißen werden muss! Annehmen ist ein Reifeprozess, der im besten Fall dazu führt, ein Ja zu finden für das, was ist. Leben meint Wandlung. Die Wandlung ist die einzige Konstante im Leben. Alles Irdische kommt und geht. Sich an das Gesetz der Wandlung innerlich anzunähern, es immer mehr anzunehmen, ist im Hinblick auf das Loslassen essenziell. Anders gesagt, hat loslassen mit Hingabe an das Leben, so wie es ist, zu tun.

„Vertrauen gewinnen zur Geste des Loslassens, darum geht es immer wieder. Ich öffne meine Hände, ich lasse los, wieder und wieder. Und immer wieder werde ich die Erfahrung machen, dass sich meine Finger sträuben und versuchen, die Hand wieder zu schließen. Und wieder gilt es sie zu öffnen. Ein Leben lang loslassen, achtsam und mit Freundlichkeit.”2

 

Gibt es ein Leben vor dem Tod?

Kann man sich auf das Sterben vorbereiten? Diese Frage beschäftigt viele Menschen. Die beste Vorbereitung auf das Sterben ist meines Erachtens das Leben selbst. Es könnte hilfreich sein, sich selbst immer wieder einmal zu fragen, ob es ein Leben vor dem Tod gibt? Viele Sterbende betrauern das nicht gelebte Leben. Der Schmerz darüber ist zuweilen herzzerreißend. Das Gefühl, nicht gelebt zu haben und sterben zu müssen, ist sehr schwer annehmbar. Erfahrungsgemäß scheint es einfacher, von der hiesigen Welt Abschied zu nehmen, für Menschen, die im Rückblick ihr Leben als gelebt wahrnehmen. In welchem Kontext sich jemand lebendig fühlt, ist sehr persönlich und hängt davon ab, was ein Mensch als erfüllend und sinnstiftend betrachtet.

Der Philosoph Arthur Schopenhauer sagte: „Es werden die meisten, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, dass sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein zu sehen, dass das, was sie so ungeachtet vorübergehen ließen, eben ihr Leben war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel dieser, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tod in die Arme tanzt.”3

 

Der nahende Tod konfrontiert den ganzen Menschen auf unvergleichbar radikale Weise. Er bringt jede Facette des Menschseins in Bewegung. Der körperliche Zerfall, manchmal verbunden mit Schmerzen und anderen schwer zu ertragenden Beschwerden, lässt sich nicht schönreden.

Dazu gilt es, Abschied zu nehmen von liebgewordenen Menschen, irdisch sinnlichen Erfahrungen und von unerfüllten Wünschen, Träumen oder Vorstellungen. Damit verändert sich auch das Ich-Bewusstsein. Es kommt zu einer zunehmenden Ablösung dieser Ich-Identität, die oft im Wunsch gipfelt, Frieden zu finden, sich zu versöhnen mit sich selbst und mit anderen.

Innere emotionale Verhärtungen, die sich in scheinbar unlösbaren Konflikten ausdrückten, weichen häufig auf und möchten noch gelöst werden. Konnten alte Verletzungen, Streitigkeiten, unliebsame Verstrickungen weitgehend integriert werden, konnte vielleicht Heilung im weitesten Sinne stattfinden, gestaltet sich der Übergang einfacher. Integration umschließt hier auch, das Ungelöste als ungelöst anzunehmen.

 

Angehörige sind aufgerufen, den Impuls des Sterbenden nach Versöhnung ernst zu nehmen. Dabei müssen sie manchmal über den eigenen Schatten springen, indem sie beispielsweise einen Kontakt vermitteln sollen mit einem Menschen, den sie bis dahin selber gemieden haben. Der Impuls nach Versöhnung ist möglicherweise Ausdruck für die sich verändernde Ich-Struktur.

Im natürlichen Sterbeprozess verändert sich diese Ich-Wahrnehmung grundlegend. Stanislav Grof spricht vom „Ich-Tod“, der dem eigentlichen Tod vorausgeht.4

 

Der gut achtzigjährige Herr L. sagte neulich zu mir: „Ich habe gelebt, manchmal gelitten, andere verletzt und geliebt, und ich würde heute einiges anders machen. Mir das eingestehen zu müssen, schmerzt mich. Ich versuche, mir selber zu verzeihen. Jedes Mal, wenn es mir gelingt, fühle ich einen Hauch von Erleichterung. Wie auch immer, das Lächeln überwiegt, ich bin dankbar für das, was war, und ich bin bereit, den Löffel abzugeben.“

 

Innerhalb des Sterbeprozesses begegnet der sterbende Mensch sich und seinem Leben schonungslos, was mit heftigen Emotionen und einer veränderten Sinneswahrnehmung verbunden sein kann.
Das mag beängstigend klingen. Das ist es zuweilen auch, vor allem, wenn Unerledigtes, Verdrängtes oder Vergessenes aus dem Unterbewusstsein auftauchen. C.G. Jung spricht hier von Schattenaspekten. Der Sterbende fühlt sich diesen unterbewussten Kräften oft ausgeliefert.

 

„Religiöse Traditionen haben die Phänomene des Übergangs früh zu deuten versucht. Während die mittelalterlich-monastische Tradition des Christentums „Dämonen“ am Werk sah, denen wir in der Stunde unseres Todes ausgesetzt sind, spricht das Tibetische Totenbuch vom Bardo, von einem Zwischenbereich, in dem wir dem eigenen Schatten begegnen. Darum, so der Tibetische Buddhismus, erscheinen uns nebst angenehmen Bildern auch erschreckende Gestalten oder kommende Welten aus dem schillernden Reich der Seele, die sich aus der dingfesten Welt zu lösen beginnt. Was Sterbenden im Bardo widerfährt, sind nicht reale Gestalten, sondern letztlich Projektionen der Seele, die es mit Hilfe der Wachsamkeit des Geistes in Schach zu halten gilt.“5

 

An diesem Punkt äußern Sterbende oft den Wunsch, nicht mehr allein sein zu wollen. Die Anwesenheit eines anderen Menschen kann ihnen Sicherheit und auch Orientierung geben. Letztere ist wichtig, da sie oft zwischen den Welten hin und her pendeln. Die damit verbundenen wechselnden und unterschiedlichen Bewusstseinszustände können herausfordernd sein. Mal sind sie hier mit dem Körper und den damit einhergehenden Empfindungen und Beschwerden wie Übelkeit, Schmerzen oder Juckreiz verbunden, dann wieder bewegen sie sich in einer Art Zwischenwelt. Dabei verändert sich unter anderem das Körpergefühl im Sinne der Schwerkraft. Dies ist sehr irritierend.

Martin Odermatt beschreibt in seinem Buch „Ich wurde zu Sand und Wasser“ diese Veränderung treffend: „Es gab kein Oben und kein Unten und kein Links und kein Rechts mehr; der Körper hörte auch auf, in seinem Ausmaß und seinen Grenzen bestimmbar zu bleiben. Ich war zwar immer noch in diesem Leib, aber er wurde mir von Tag zu Tag fremder, ich wurde heimatlos im Haus meines eigenen Leibes, er hatte keine innere Farbe und keine Konturen mehr; wo hörte er auf und wo begann die Außenwelt? Es gab dafür kein Gespür mehr.“6

Veränderte Sinneswahrnehmungen sind bei sterbenden Menschen häufig. Die Stimmen der Anwesenden werden aus der Ferne wahrgenommen. Manche Sterbende verlieren das Zeitgefühl, was sich darin ausdrücken kann, dass die kurze Abwesenheit einer vertrauten Person als ewig langes Fernbleiben wahrgenommen wird und heftige Emotionen und Vorwürfe auslösen kann wie: „Warum lässt du mich hier so lange alleine?“ Angehörige fühlen sich in solchen Momenten oft überfordert. Hier braucht es fachkundige Personen vor Ort, die ihnen die nötige Unterstützung bieten.

 

Im Kontakt mit einem sterbenden Menschen verändert sich mein Gefühl für die Zeit, diese scheint gar stillzustehen. Innerliches Entschleunigen ist Ausdruck dessen. Sie erlaubt mir einen Zustand der Achtsamkeit. Das bedeutet, meine eigenen Körperreaktionen, Empfindungen und Gedanken sind mir bewusster. Gleichzeitig bin ich wach für die Bedürfnisse des sterbenden Menschen. Meine innere Präsenz kann Sicherheit vermitteln und den Prozess dadurch unterstützen. Anders gesagt, je mehr ich mit mir und meiner Essenz in Kontakt bin, umso größer ist die Chance, dass sich mein Gegenüber entspannen und sich bestenfalls dem unaufhaltsamen Prozess der Wandlung hingeben kann. Mein Bei-mir-sein erlaubt dem anderen ein Bei-sich-sein.

In Zeiten von Überforderung, Stress, Sorge und Schmerz richten Angehörige ihren Fokus oftmals nur noch auf den Sterbenden. Was gut gemeint ist, kann für diesen jedoch zusätzlich belastend sein, ihn in seinem Prozess sogar behindern und einengen.

 

Der Krankheitsverlauf ist häufig komplex und dauert Monate bis Jahre. Für Angehörige, die einen Menschen in seiner letzten Lebensphase zu Hause begleiten, ist diese Zeit extrem herausfordernd. Es gilt, alles Mögliche zu organisieren und zu koordinieren. Daneben läuft der Alltag mit den Kindern oder der Arbeit weiter. Es entsteht eine Kluft zwischen den beiden Welten, die dazu führt, dass Angehörige in einen erschöpfenden Funktionsmodus schalten. In diesem Zustand ist es schwer, die Räume zu erkennen und zu nutzen, die zum “Sein” einladen würden. Eine gesunde Selbstfürsorge der Angehörigen ist essenziell wichtig. Sie unterstützen damit auch den Sterbenden in seinem natürlichen Prozess des innerlichen Zurückziehens.

Wenn sich betreuende Angehörige immer wieder einmal zurücklehnen, den Fokus vom Sterbenden bewusst abwenden und sich auf sich selbst besinnen, werden sie mit ihrem eigenen Loslösungsprozess konfrontiert. Dieser ist unumgänglich, damit der sterbende Mensch die Schwelle überschreiten kann. Oft sind es die Angehörigen, die den Sterbenden zurückhalten. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein und den eigenen Teil dazu beizutragen, damit der sterbende Mensch loslassen kann. Die Kraft der Zustimmung zum bevorstehenden Übergang ist enorm groß. Sterbende entspannen sich sichtlich, wenn sie von ihren Liebsten Sätze hören wie: „Du kannst jetzt gehen, wir werden dich vermissen, doch wir werden es schaffen!”

 

Sitze ich am Bett eines sterbenden Menschen, ist es oft still. Manchmal werden ein paar Worte ausgetauscht oder es wird nachgefragt, ob ich noch da bin. Manchmal wird die Stille durchbrochen von einem tiefen Seufzer, einem Wimmern, einem ängstlichen Schrei und dem Satz: „Ich kann mich nicht wehren gegen diese Bilder, sie schmerzen so!“ In solchen Momenten ist Unterstützung wichtig. Diese besteht vor allem darin, dem sterbenden Menschen beizustehen, während er mit teils beängstigenden Bildern und Gefühlen konfrontiert wird, und ihn zu ermutigen, durch die Wellen „hindurch“ zu gehen.

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