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Aus dem Englischen von Alan Tepper

www.hannibal-verlag.de

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2020

© 2020 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-686-5

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-685-8

Titel der Originalausgabe: The Age of Anxiety

© Pete Townshend 2019

ISBN Hardcover: Coronet 9781473622937

Coronet is an imprint of Hodder & Stoughton Ltd, London, UK

Cover Illustration © Luis Toledo at Dutch Uncle

Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Übersetzung aus dem Englischen: Alan Tepper

Deutsches Lektorat und Korrektorat: Dr. Matthias Auer

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Buch eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Buch zwei

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Buch drei

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Postskriptum des Autors

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Für Rachel

Buch eins

Kapitel 1

Licht. Blendendes weißes Licht. Da steht ein Mann mit ausgestreckten Armen, den Rücken uns zugewandt. Er ist bis zur Hüfte nackt. Sein lockiges, schulterlanges Haar schimmert goldfarben. Wir können sein Gesicht nicht erkennen. Als wir uns dem Mann langsam von hinten nähern, beginnt sein Körper, das Licht abzuschirmen. Die Sonne geht unter. Seine Haare bilden einen Lichtkranz. Plötzlich springt der Mann nach vorn, und wir fliegen mit ihm, segeln durch die Luft, über die blaugrüne Landschaft, dem Sonnenuntergang entgegen.

Es ist ein beklemmendes Gefühl, mit dem ich an diesem Juniabend in meinem Adlerhorst sitze, wenige Tage vor meinem 67. Geburtstag im Jahr 2012. Mein Name ist Louis Doxtader, und dies ist meine Geschichte. Ich befinde mich im obersten Zimmer eines Hauses, das hoch auf einem Hügel neben einer geschäftigen Straße liegt, am Rande des heruntergekommenen Bergstädtchens Magagnosc in Südfrankreich. Das Gebäude ist gemietet und wird von einer liebenswerten, aber exzentrischen Frau geführt, die mich einlud, mit ihr den Sommer zu verbringen. Ich bezahle alle Rechnungen, und sie kümmert sich um mich, damit ich schreiben kann.

Nur sie weiß, was mich dazu antreibt, diese Geschichte zu erzählen. Sie kennt mein Geheimnis, da sie die Ereignisse selbst miterlebte, versteht, wie wichtig es für mich ist, deren Verlauf zu schildern, währenddessen sich Wundervolles zutrug – als Resultat einer vergangenen Handlung, die ich zutiefst bedauere. Ich will nicht, dass man mir vergibt, will stattdessen eine Art Erleichterung spüren. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, es aber auch nicht zulassen, dass ein Missverständnis von damals die Zukunft verändert. Nachdem Sie meine Geschichte gehört haben, werden Sie in der Lage sein, sich ein eigenes Bild zu machen.

An meinem kleinen Schreibtisch sitzend, kann ich von der erhöhten Aussichtsposition aus das Mittelmeer sehen, die entfernt gelegene Bucht von Cannes und den Hafen La Napoule. Unten im Tal liegt in der Nähe die Stadt Grasse, berühmt für ihre Parfümindustrie. Nur wenige der dort produzierten Düfte steigen zu mir auf, doch die von Kiefernduft erfüllte Luft der Berge, die mit ihren Pisten über dem Tal liegen, dringt manchmal zu mir hinab.

Mein Nachname Doxtader stammt vermutlich aus den Niederlanden, doch mein Urgroßvater kam ursprünglich aus Norwegen. Ich habe mein ganzes Leben in Großbritannien verbracht. Mein Vater Edvard – auch als Ted bekannt – wurde nach Edvard Munch benannt, Maler von Der Schrei. In meiner Kindheit war das eine düstere, geradezu prophetische Vorstellung, die mich möglicherweise prägte, wie sich, so hoffe ich, herausstellen wird.

Munch lebte noch, als mein Vater geboren wurde, und meine Großeltern hatten den bekannten Mann getroffen und zeigten sich tief beeindruckt. Mein Vater Edvard war zwischen den Kriegen nach Großbritannien gezogen und hielt sich dort weiterhin auf, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass er in dieser Zeit für das Kriegsministerium als Spion tätig gewesen sei, da Norwegen gegenüber Deutschland kapituliert habe. Man hatte ihn auf dem RAF Northolt Airport stationiert, von wo aus er an einigen Flugeinsätzen nach Norwegen teilnahm. Während der letzten Jahre der Feindseligkeiten traf und heiratete er meine englisch-jüdische Mutter Claire, und ich wurde geboren, kurz nachdem man Deutschland gezwungen hatte, den neuen Lebensraum aufzugeben.

Als sich mein Patenkind Walter mit meiner Tochter Rain anfreundete, begann ich, mehr Zeit mit dem Jungen zu verbringen. Sie besuchten schon von frühster Kindheit an dieselbe Schule und wurden im Dezember 1966 geboren beziehungsweise im August dieses Jahres.

Walter ist Musiker. Schon im Alter von acht Jahren spielte er ständig Mundharmonika, blies darauf und sog die Luft ein, oftmals den Kopf in einen Plastikeimer gesteckt, um den Klang zu verstärken und sich von der Welt abzukapseln. Ich war mit Walters Eltern eng befreundet und beeindruckt vom Orchester, mit dem sein Vater auftrat.

Es mag Sie vielleicht interessieren, wie Walter Karel Watts zu seinem mittleren Namen kam. Sein Vater Harry war ein hochtalentierter, klassisch ausgebildeter Musiker, aber auch Science-Fiction-Liebhaber. Karel Ĉapek wiederum war ein tschechischer Dramatiker, der das Stück W.U.R. Werstands universal Robots verfasste. Sein Bruder kam auf den Begriff „Robot“, der im Tschechischen „Arbeitstier“ bedeutet.

Harry hatte große Pläne für Walter, und aus diesem Grund gab er seinem Sohn den mittleren Namen, inspiriert von Karel Ĉapeks scharfsinnigem Theaterstück aus dem Jahr 1920, das von der Machtübernahme durch intelligente Maschinen handelt. In den Augen seines Vaters war für Walter wissenschaftlicher Ruhm vorbestimmt. Stattdessen entschied er sich dafür, Mundharmonika zu spielen.

In ihren späten Teenagerjahren wurde Rain Journalistin, und Walter besuchte eine Gartenbauschule. Doch er konzentrierte sich letztendlich auf die Musik der Lippen und der damit assoziierten Organe. Während er und Rain noch in Ausbildung waren, begann er, mit Auftritten in Pubs und Clubs recht gut zu verdienen. Er zählte schließlich zur sogenannten „Vierten Welle der Rockmusik“, die in den Neunzigern stattfand – und Bands wie Nirvana, Pearl Jam und die Smashing Pumpkins umfasste –, doch Walters Musik war eine Rückbesinnung auf die Post-Punk-Jahre der späten Siebziger: den Pub Rock von Dr. Feelgood, den Stray Cats, den Fabulous Thunderbirds und der Dave Edmunds Band. Das war die einfache und ehrliche Musik, die er wiederbeleben und würdigen wollte. Aber auf welcher Welle er auch ritt, in meinen Augen war Walter K. Watts ein Fifties-Pub-Rocker des 21. Jahrhunderts, und das würde er auch immer sein. Das ist ein schräges Statement. Aber ich neige dazu.

Mich stimmt es traurig, zugeben zu müssen, dass ich als Vater mittleren Alters zu Beginn der Achtziger vor den Drogen kapitulierte. Ich knallte mir das Hirn zu und wäre vermutlich mittellos gestorben, wäre ich nicht wie durch ein Wunder gerettet worden. Meine Frau Pamela hatte mich verlassen, wobei sie mir erklärte, dass sie sich in ein Kloster begebe. Viele Jahre lang wusste ich nicht, wo sie sich aufhält. Sie ließ mich mit Rain sitzen, eigentlich unglaublich, doch es stellte sich als cleverer Schachzug heraus, zumindest, was mich betraf. Die Verantwortung, mich um Rain kümmern zu müssen, die damals noch mit Walter zur Schule ging, rettete mir wahrscheinlich das Leben. Ich habe mich seitdem auf meinem Spezialgebiet so gut gemacht wie Walter auf seinem. Denn heute bin ich – während Walter ein berühmter Rockstar ist – ein bekannter und allseits respektierter Kunsthändler in dem Segment, das man als Outsider Art kennt. Die etwas snobistischen Galeriebesitzer in New York – und natürlich die Franzosen, die auf den Begriff kamen – nennen es auch Art Brut. Er meint das Zeichnen, Malen, die Bildhauerei, das Schnitzen und Schreiben von Künstlern, die anders denken und tatsächlich auch anders leben. Manchmal sind ihre Arbeiten naiv, manchmal sind sie obsessiv und manchmal außergewöhnlich genau oder detailliert. Hinter solchen Werken steckt meist eine einzelne Idee, ein einzelnes System. Dort zeigt sich gelegentlich eine unterschwellige Offenbarung, eine Vision oder ein mentaler Ausbruch. Die Künstler fühlen sich gequält oder sogar besessen. Möglicherweise hören sie wie Schizophrene Stimmen und glauben, fremdgelenkt zu sein. Manchmal fühlen sie sich von Gott geleitet.

Das Wunder, von dem ich rede, das, was mir mein Leben gerettet hat, lag in dem Talent, den Wert der Arbeit solch psychisch schwieriger Menschen zu erkennen. Vielleicht lag es an dem Schaden, den ich meinem Gehirn zugefügt hatte? Ich wurde einer der ersten europäischen Händler, die sich auf Outsider Art spezialisierten. Auf jeden Fall war ich der erste außerhalb von Frankreich und New York, und mittlerweile erwerben wohlhabende Sammler und sogar einige der besten internationalen Galerien das Zeug. Durch meinen Beruf als Händler begegnete ich schließlich auch Nikolai Andréevich.

Eines Tages im Frühling 1996, also vor sechzehn Jahren, rief mich eine Frau in meiner Londoner Wohnung an. Da ich keine Galerie führe, arbeite ich von zuhause aus.

„Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Mr Doxtader, aber man sagte mir, dass Sie hierzulande der führende Händler für Outsider Art sind.“ Die Stimme der Frau klang heiser, hatte einen meiner Meinung nach vornehmen Akzent, gefärbt von einem leichten Tonfall aus dem Norden.

„Das stimmt“, bestätigte ich.

„Mein Name ist Maud Jackson. Ich bin die Frau Paul Jacksons von der Rockband Hero Ground Zero. Vielleicht erinnern Sie sich an sie?“

„Ja, das tue ich“, lautete meine Antwort. Doch ich zermarterte mir das Hirn auf der verzweifelten Suche, mich an einen ihrer Songs zu erinnern.

Sie erklärte, dass sie mir etwas zeigen wolle, was möglicherweise interessant sei.

Dann kam ich endlich darauf, dass Paul Jackson, der Gründer von Hero Ground Zero, ein Rockstar in den Sixties gewesen war, der sich Mitte der Siebziger in einen Schauspieler verwandelt hatte. Der Bandname sollte die Wut und Frustration seines jungen Publikums widerspiegeln, in der Sprache, die Salinger bei Der Fänger im Roggen benutzt hatte. Ein Kritiker hatte Holden Caulfield als „hero ground zero“ beschrieben.

„Was genau möchten Sie mir zeigen? Sind Sie Künstlerin?“ Zu dieser Zeit vertrat ich genügend Künstler, jeder meiner Klienten auf die eine oder andere Art ein kompliziertes Wesen. Ich wollte mich nicht übernehmen.

„Oh, nein“, erwiderte sie schnell. „In diesem Fall bin nicht ich die Künstlerin. Dürfte ich Sie aufsuchen?“

Wenige Tage später kam Maud Jackson zu meinem Apartment (meiner Galerie) in Richmond im Westen Londons. Als ich ihr die Tür öffnete, musste ich unwillkürlich lächeln.

„Mrs Jackson?“ Ich zögerte. „Kommen Sie doch herein. Ich erwartete eigentlich jemand …“

Sie fiel mir ins Wort. „Jüngeres? Älteres?“

„Nein, überhaupt nicht!“ In diesem besonderen Augenblick spielte ihr Alter keine Rolle. Ich taxierte sie rasch – so wie man es immer macht, wenn ein Unbekannter vor der Tür steht, den man zu sich hineinbitten und ihm ein behagliches Gefühl vermitteln muss. Dabei bemerkte ich ein leichtes, aber spürbares Flattern in meiner Herzgegend. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor.

Maud Jackson schritt mit einer Eleganz und Würde an mir vorbei, dank derer ich – als ich sie von hinten betrachtete – ein lustvolles Gefühl in mir aufsteigen spürte. Schnell riss ich mich wieder zusammen, doch die Noblesse, mit der sie sich bewegte, faszinierte mich. Die Neigung ihres Kopfes, als sie sich umdrehte und mir die Hand reichte, weckte in mir den Eindruck, als hätte ich sie früher schon einmal getroffen. Der Ton ihres ergrauenden Haares wies auf ein früheres Naturblond hin. Ihre Haut begann, leicht zu erschlaffen und sich minimal zu verfärben. Der Teint war ungleichmäßig, doch ihre kräftigen Wangenknochen wiesen auf eine beeindruckende Schönheit oder zumindest Attraktivität hin, die sie in jüngeren Jahren ausgestrahlt haben musste. Sie war nicht groß, doch hatte eine eindrucksvolle und aufrechte Haltung, was ihr Präsenz verlieh. Ihre Schultern wirkten breit, und möglicherweise war sie Leistungsschwimmerin gewesen. Die Augen waren blass-blau. Sie besaß eine ehrliche und direkte Art, den anderen zu betrachten, und dieses beunruhigende Starren deutete auf eine lebendigere Vergangenheit hin. Ich schätzte ihr Alter auf zwischen 45 und 50 Jahre, doch es war schwer zu bestimmen.

Ich führte Maud in mein Wohnzimmer, dekoriert mit den Arbeitern der meisten Künstler, die ich vertrat. Viele der besten Kunstgegenstände hatte ich für mich behalten, was eine lohnende Investition gewesen war, die mich zumindest in finanzieller Hinsicht auf eine Stufe mit Walter stellte. Ohne zu zögern ging Maud auf ein beeindruckendes Stück zu, das ich von seinem Schöpfer bekommen hatte: das Bild eines Kalenders, über und über bedeckt mit Daten und Zahlen.

„Ich liebe es“, rief sie. „Von wem stammt das?“

„Simeon Blake. Er hat ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen für Daten und historische Ereignisse. Die Bewegung im Bild dreht sich um mein Geburtsdatum und führt einige tausend Jahre sowohl vor als auch zurück.“

„Er nutzte einen Computer zur Berechnung, dass Ihr Geburtstag 1945 auf einen Mittwoch fiel?“

„Er berechnet das in Mikrosekunden im Kopf – auch die Zeitverläufe. In diesem Gemälde wählte er nur die Geburtstage am 20. Juni aus, die auf einen Mittwoch fielen. Doch nicht nur das. Er kann bedeutende Events, Geschehnisse und Fakten zu jedem ausgewählten Tag spontan hinzufügen.“

„Bemerkenswert!“ Maud lehnte sich näher an das Bild, als könnte sie damit das Geheimnis von Simeons Gabe entschlüsseln. „Hier, an Ihrem Geburtstag, kann ich keine bedeutenden Weltereignisse finden.“

„Ich kam kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zur Welt …“

„Ich auch“, unterbrach sie mich und hätte mir dadurch den Kommentar ermöglicht, dass sie jünger aussehe, als ihr Alter vermuten lasse. Dem Himmel sei Dank, vermied ich das; es hätte sicherlich kitschig gewirkt. Sie war also so alt wie ich, um die fünfzig?

„Oh! Somit …“, versuchte ich das Gespräch fortzusetzen und fühlte mich immer stärker von dieser attraktiven Frau mittleren Alters angezogen.

„Also einige Monate“, begann sie, „bevor die Berichte über die Gaskammern veröffentlicht wurden.“

„Äh, ja“, antwortete ich. „Meine Mutter Claire war Jüdin.“

„Und – sind Sie es auch?“, wollte sie wissen.

„Mein Vater war kein Jude, aber die gesamte Familie mütterlicherseits wurde im Krieg getötet. Wie dem auch sei, ich führe ein weltliches Leben, und was Gott anbelangt, bin ich mir nicht so sicher. Und Sie?“

„Früher hätte ich Ihre Ansicht geteilt, doch die Ereignisse der letzten Zeit haben mich dazu gebracht, alles in Frage zu stellen, was ich glaube oder nicht glaube.“

Ich bot ihr Tee an. Sie stimmte zu, und ich ging in die Küche, um siedendes Wasser über die Blätter in einer hübschen blauen Porzellankanne zu gießen, die ich nur für Besucher hervorkramte. Ihre Stimme drang aus dem Wohnzimmer zu mir, und ich spürte wieder einen Stich im Herzen. Klang sie etwa wie meine lang verlorene Frau? Ich konnte mir nicht erklären, was das Ziehen in der Herzgegend verursachte.

Ich trug den Tee in den anderen Raum und stellte ihn ab.

„Also“, drängte ich. „Verraten Sie mir doch bitte, was Sie mir zeigen wollen.“

Sie riss sich zusammen, und ich spürte in dieser Sekunde, dass sie mir eine Art Geschichte erzählen wollte. „Mein Mann wurde für seine Band zu alt. Die anderen Mitglieder waren jünger und wollten häufiger touren. Er fühlte sich nicht wohl dabei. In den frühen Siebzigern gab es keine Anzeichen, dass sich das Touren reduzieren würde.“

„Mein Patenkind Walter ist auch Musiker“, warf ich ein, sie damit unterbrechend. „Als Kind war er ein großer Fan der Band Ihres Mannes.“

Ich spürte sofort, dass ich das Falsche gesagt und Maud Jacksons Mann als Relikt vergangener Jahre dargestellt hatte. „Aber natürlich durften sich Hero Ground Zero noch über eine Menge Hits freuen, oder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Sie hatten den letzten Hit in den frühen Siebzigern. Doch 1975 stieg die weltweite Publikumsnachfrage immer noch, trotz der fehlenden Erfolge der Anfangszeit. Als die Jahre ins Land zogen, sah ich immer weniger von Paul.“

Exakt in dem Augenblick wurde Maud für mich zur Realität. Sie war eine gutaussehende Frau, verheiratet mit einem immens erfolgreichen Rockstar, und hatte wahrscheinlich den Großteil ihres Lebens in seinem Schatten verbracht, vielleicht einsam und allein.

Ich wusste von Jacksons Rolle in einem Film. Bevor sich Walter zu einem R&B-Puristen gemausert hatte, war er ein großer Fan von Hero Ground Zero gewesen. Später machte ich mich an die Recherche und erfuhr die ganze Geschichte. Mit 43 Jahren, zermürbt vom kommerziellen Erfolg ohne kreativen Höhepunkt, stieg Jackson 1979 im Zenit des Erfolgs aus der Gruppe aus, um Schauspieler zu werden. Das Drehbuch zu dem Streifen – The Curious Life of Nikolai Andréevich – wurde von John Boyd geschrieben, der auch Regie führte. Der hochangesehene britische Kameraspezialist arbeitete also mit Jackson in der Rolle des Andréevich, eines charismatischen Musikers, der einen religiösen Kult ins Leben gerufen hatte.

„Paul empfand die Schauspielerei als extrem hart“, fuhr Maud fort. „Mehrere Monate lang jeden Tag vor dem Morgengrauen aufzustehen und bis nach Mitternacht zu arbeiten unterschied sich von der intensiven, aber sporadischen Arbeit mit der Band. Innerhalb der Gruppe fungierte er als Boss und kontrollierte den Arbeitsplan und das Pensum. Paul war damals ein harter Trinker, doch er hörte auf, um mit den Anforderungen des unbarmherzigen Filmdrehs klarzukommen. Ich möchte John Boyd zugutehalten, dass er niemals vorgab, dass die Filmarbeiten für meinen Mann einfach würden. Doch er war berühmt dafür, anzutreiben und pedantisch zu sein. Als die Dreharbeiten zur letzten Szene immer näher rückten, hatte sich Pauls Angst ins Unermessliche gesteigert. Er wusste, dass er schon bald wieder für sich allein verantwortlich wäre, frei von der Disziplin der Dreharbeiten, die ihm geholfen hatte, nüchtern zu bleiben.“

Maud schien sich zu fragen, ob ich den Streifen je gesehen hatte.

„Ich habe ihn gesehen, ja“, antwortete ich.

„Erinnern Sie sich an die letzte Szene?“

Ich versuchte, mir die ikonische Einstellung wieder ins Gedächtnis zu rufen, und erinnerte mich, dass sie auf eine bestimmte Art absurd war, überladen. Maud erlöste mich von der Mühe, kramte im Inneren ihrer Handtasche und zog eine verknitterte Seite des Drehbuchs heraus.

Licht. Blendendes weißes Licht. Da steht ein Mann mit ausgestreckten Armen, den Rücken uns zugewandt. Er ist bis zur Hüfte nackt. Sein lockiges, schulterlanges Haar schimmert goldfarben. Wir können sein Gesicht nicht erkennen. Als wir uns dem Mann langsam von hinten nähern, beginnt sein Körper, das Licht abzuschirmen. Die Sonne geht unter. Seine Haare bilden einen Lichtkranz. Plötzlich springt der Mann nach vorn, und wir fliegen mit ihm, segeln durch die Luft, über die blaugrüne Landschaft, dem Sonnenuntergang entgegen.

„Das ist also die letzte Szene des Films?“ Ich war verwirrt. „Sie wirkt wie ein bombastischer Beginn, die Eröffnungsszene zu einem Abenteuer.“

Maud lachte. „Das hätte sie vielleicht werden sollen. Jedoch wurde sie für meinen Mann zum Anfang einer neuen Lebensphase – und für mich auch. Es handelt sich jedoch um das Ende des Films.“

„Mein Mann stand auf dem Gipfel des Skiddaw im Lake District.“ Sie klang, als sei sie den Tränen nahe. „Er schaute auf die Pracht und Herrlichkeit Derwentwaters hinab und auf die blaugrünen Hügel; es ist wohl der außergewöhnlichste Flecken Erde. Die Kameras liefen, und eine hinter ihm aufgestellte Jupiterlampe versengte seine Haare. Er war von den zwei Monaten harter Arbeit ausgelaugt. Seit der Zeit haben die dort ansässigen Menschen all die beeindruckenden Bilder und die Geschehnisse wie eine Volkserzählung weitergegeben.“

Sie beschrieb die Szene wunderschön. Damals realisierte ich – ihr Mann war immer noch unerreichbar für sie –, dass sie versuchte, ihren Verlust poetisch zu verarbeiten und sich zu öffnen.

„Und was geschah?“, wollte ich wissen.

„Mein Mann hat den Verstand verloren.“

Maud erklärte, dass die besagte Szene für den Abspann bestimmt war. Das ist an sich schon ungewöhnlich, da Filme nur selten in chronologischer Abfolge gedreht werden. Man hatte damit – wie man so schön sagt – alles im Kasten. Die Arbeiten beendet, gratulierten sich die Crewmitglieder.

„Einer von der Crew erzählte, dass er mit dem Flugdrachen den Berg hinabgleiten sollte, wo ein zweites Team nahe des Flusses wartete, um ihn beim tiefen Überflug zu filmen. Danach wollten sie im zweiten Team-Jeep zurückkehren. Der nacheilende Hubschrauber konnte ihm wegen des verblassenden Lichts aber nicht folgen. Er verschwand in der Finsternis.“

„Wo landete er?“, wollte ich wissen. Ich wurde immer neugieriger, wollte mehr erfahren.

„Niemand schien etwas zu wissen“, erklärte Maud. „Sie meinten, dass er vielleicht in eine Aufwärtsströmung gekommen und dicht über dem Boden weitergeflogen sei, obwohl es zu dem Zeitpunkt schon stockfinster war. Sie berichteten, dass er schon ein regelrechter Experte geworden sei. Er hatte natürlich trainiert, aber …“

„Natürlich fand dann an dem Abend im nahe gelegenen White Horse Inn am Fuße der Hügel eine feucht-fröhliche Abschlusszusammenkunft statt.“

Maud schaute plötzlich zur Seite.

„Ich hatte ausgemacht, mich dort mit ihm zu treffen, doch er tauchte nicht auf. Mir wurde schnell klar, dass irgendetwas nicht stimmte, und ich machte mich allein auf die Suche.“ Sie verstummte und blickte einen Moment lang in den Himmel.

„Glauben Sie an Zufälle, Mr Doxtader?“, fragte Maud, als sie mich wieder ansah, meine Mimik prüfend, auf der Suche nach einem Anzeichen, ob ich möglicherweise ungläubig war.

„Ich schreibe ihnen keine so große Bedeutung zu, wie es manch anderer macht.“

„Ich auch nicht“, stimmte sie zu. Sie blickte auf ihren Schoß. „Man hatte den Eindruck, als sei Pauls Verschwinden von vornherein geplant gewesen. Ich verdächtigte die Filmproduzenten. Es hätte wohl für einige Schlagzeilen gesorgt, was dem Film geholfen hätte. Mich überkam das Gefühl, als nähme niemand Pauls Verschwinden so wirklich ernst, glaubte, dass sie wüssten, wo er steckte.“

„Aber er hätte dabei sterben können!“ Mich schockierte die Vorstellung, dass Jackson Teil einer solchen Werbefinte geworden war. „Sie hätten ihnen doch sicherlich von einem derartigen Schachzug berichtet?“

„Genau“, stimmte Maud zu. „Doch einer von der Crew wies unverblümt auf die Haftung der Filmversicherung hin. Sie wirkten alle ziemlich kaltherzig.“

„Paul war doch ihr Star“, warf ich ein. „Sie hätten ihn doch für die ganze Werbung rund um die Veröffentlichung gebraucht, das ist doch so?“

„Es tut mir leid, aber ich befürchtete bei denen nur das Schlimmste. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, was Paul anbelangte.“

„Dass er abgestürzt war?“

„Ja, aber nicht mit seinem Flugdrachen. Ich befürchtete, dass er an einem Punkt während der Dreharbeiten emotional zerbrochen war. Er konnte ein sehr schwieriger Mann sein. Wie ich schon sagte, er war es gewohnt, die Führungsrolle zu übernehmen und alle Entscheidungen in seinem Leben und seiner Karriere allein zu fällen. Auch war es für ihn üblich, viel zu trinken, wenn er sich unter Druck gesetzt fühlte. Das stellte für ihn immer eine effektive Medizin dar.“

„Was wollen Sie damit sagen? Dass er die Dreharbeiten vermasselt hat?“

„Nicht ganz“, antwortete sie. „Ich befürchtete, dass er die Sympathie des ihn umgebenden Teams verloren hatte. Vielleicht hatte er wieder mit dem Trinken begonnen, und die anderen waren seiner überdrüssig geworden. Möglicherweise waren alle froh, ihn loszuwerden.“

„Aber sie wussten doch beim Engagement, dass man sich auf einen komplizierten alten Rockstar einließ?“

„Was wissen Sie über das Verhalten eines Künstlers, der zu viel trinkt? Finden sich unter den von Ihnen vertretenen Künstlern Alkoholiker?“

„Nur wenige meiner Klienten trinken. Sie sind schon berauscht genug.“

Maud lächelte bei dem Kommentar.

Ich wollte unbedingt über mich reden, sie in meine Geschichte einbinden, sie in mein Leben und meine Gefühlswelt ziehen. „Ich trank ebenfalls und nahm auch Drogen“, gestand ich. „Ich weiß, was dann passiert.“

Maud schien das nicht zu überraschen, und sie lächelte wieder.

„Ich bestieg den Skiddaw, um selbst nach meinem Mann zu suchen.“

Egal, wie leichtsinnig ihr Mann auch gewesen war, sie hatte ihn immer noch geliebt. Ich beneidete ihn.

„Ich möchte Sie mit keinen weiteren Fragen quälen.“ Ich lächelte, „doch was geschah dann?“

„Tja, ich nahm mir ein Zimmer im White Horse Inn, doch konnte kaum schlafen. Früh am nächsten Morgen, als es hell genug war, stand ich auf, zog mich an und suchte den örtlichen Polizisten auf, der in einem nahe gelegenen Cottage wohnte. Zu meiner großen Erleichterung organisierte er eine Suchmannschaft. Im Vergleich zur Gleichgültigkeit der Filmleute nahmen die dort lebenden Menschen alles sehr ernst. Jede im Hochmoor verlorene Seele wird gleich behandelt. Nach zwei Tagen der Suche – der Suchtrupp sorgte sich immer mehr – fand man Paul.“

„Wo? Wie ging es ihm?“ Was war das nur für eine außergewöhnliche Geschichte, die sie mir erzählte! Sie hob beide Arme und schien damit abzuwinken, als habe sie keine Geduld mit mir. „Es tut mir leid. Das zu erzählen ist immer schwierig.“ Dann fuhr sie doch fort: „Da der Wind stark gewesen war, gelang es ihm, mehr als fünfzehn Meilen zu fliegen. Wegen der vielen Hügel kam er in zahlreiche Aufwinde, die ihn weiterschweben ließen. Als er schließlich landete, war er allein in der Dunkelheit. Das Suchteam, das ihn dann endlich entdeckte, zeigte sich von seinem Zustand schockiert.“

„Waren Sie dort?“, schnitt ich ihre Erzählung ab. „Mit dem Team, das ihn fand?“

„Ich hielt mich ganz in der Nähe auf“, erklärte sie. „Ich stieß kurz danach zu ihnen.“

„Er war immer noch nackt bis zur Taille wie bei der letzten Aufnahme, fror und schien auf den ersten Blick an Wahnvorstellungen zu leiden. Er hatte sich Schutz in einer winzigen Höhle gesucht, auf halbem Weg in die Berge, und machte einen erbärmlichen Eindruck“, verriet mir Maud traurig. Ihre Augen schimmerten feucht, doch dann besserte sich ihre Stimmung, und sie begann zu lächeln.

„Er wirkte auf eine bestimmte Art beeindruckend!“ Sie grinste schelmisch. „Er sah aus wie ein Schiffbrüchiger, der nach einer jahrelangen Kokosnussdiät gerettet worden war.“

Sie blieb eine unangenehm lange Zeit still. Ich verharrte zuerst.

„Möchten Sie noch ein wenig Tee?“, bot ich ihr dann an.

Maud schüttelte den Kopf. Mit ihrer rechten Hand zeichnete sie Kreise in die Luft wie jemand, der einen „Film“ mit Gesten nacherzählt.

„Nun kommt der merkwürdige Teil“, begann sie. „Er erzählte mir etwas von einer himmlischen Offenbarung. Ausgelöst von der Hitze und dem Licht am Set sowie dem atemberaubenden Blick über Derwentwater, hat er etwas gesehen, das er als ‚Harvest‘, als Ernte beschrieb.“

Meine Aufmerksamkeit wurde wieder geweckt.

Maud erzählte ihre Geschichte weiter. „Was die Erscheinung anbelangte, gab er sich deutlich und überzeugend, aber er ließ sich nicht vom Berg weglocken.“

„Was meinte er denn mit ‚Harvest‘?“

„Das ist alles befremdlich, doch ich kenne meinen Mann. Das von ihm Beschriebene hat er wirklich gesehen. Er erkannte hundert Engel, alle im Schatten eines gigantisch großen Engels, dessen ausgestreckte Flügel von der einen bis zur anderen Seite des Tals reichten. Sie flogen tief über eine brodelnde Ansammlung von einigen tausend Seelen, die auf Führung und Geleit warteten, dorthin, wo auch immer sie ihr Schicksal zu lenken gedachte.“

„Wohin genau?“, unterbrach ich sie.

„Ich nehme an, er meinte einen anderen Ort: den Himmel, die Hölle, die Astralebene. Ich weiß es nicht.“

Wegen meines Drogenentzugs hatte ich meine eigenen schrecklichen Visionen durchleiden müssen, doch ich erlebte niemals so etwas wie das, was Paul Jackson fühlte und sah.

Maud nahm ein kleines Taschentuch und betupfte sich damit die Augen.

„Ich fragte ihn, wohin denn die Flut menschlicher Seelen dränge, doch er antwortete, dass er es nicht wisse. Als ich einen gewissen Zweifel erkennen ließ, antwortete er aufbrausend, dass er das wirklich gesehen habe und niemals mehr derselbe sein könne. Ich glaubte ihm.“ Sie drehte sich zu mir, als würde sie Widerspruch erwarten.

Maud hatte einige Monate in ihrem kleinen Zimmer über der lauten Bar des White Horse ausgeharrt und manchmal den ganzen Morgen damit verbracht, zur winzigen Höhle ihres Mannes zu klettern. Es war eher eine kleine Einkerbung an einem Berghang, geschützt von einem Baum. Dabei brachte sie ihm verschiedene Gegenstände mit, die er haben wollte: Karten, ein Zelt, eine kleine Schaufel, einen Kompass, ein Messer, Bleistift und Papier, eine wasserdichte Jacke, einen großen Vorrat dieser kleinen Feuerzeuge, die von Rauchern benutzt werden, Decken und einen Rucksack für Wanderer. Sie beschaffte ihm auch Nahrungsmittel, doch er wollte kleine Tiere töten, um sie zu essen.

„Manchmal versuchte ich, ihm Geld zuzustecken“, erklärte sie. „Doch er nahm es nie an.“ In dem Augenblick erinnerte sie sich vielleicht an die damaligen Schmerzen, die Hilflosigkeit und Frustration und wirkte auf einmal älter, ihre Lippen geschlossen und strichförmig wie die eines Rauchers.

„Ich glaube, dass er sich Geld von Bergwanderern erbettelte, die seinen Weg kreuzten.“ Bei der Erinnerung lächelte sie wieder.

„Warum denken Sie das?“

„Manchmal sah ich einige Dinge in seiner Höhle, die nicht von mir stammten“, erklärte sie. „In der zweiten Woche des zweiten Monats überreichte ich ihm die komplette Sammlung von Wainwrights Guides to the Lakeland Fells, und er nahm sie auch an. Wissen Sie etwas über Wainwright?“

Ich nickte zustimmend. Die Leute behaupten oft, dass eine ganze Lebensspanne nötig sei, um das ganze Gebiet zu begehen, das Wainwright erkundete, um die berühmten Wanderführer für den Lake District zu verfassen. Anscheinend hatte Mauds Mann sich für den Rest des Lebens dieser Aufgabe verschrieben.

„Vom Zeitpunkt an, als ich ihm den Führer gab“, erklärte sie, „war er schwieriger aufzufinden.“ Maud beschrieb, wie sich ihr exzentrischer Mann einige Jahre an den Berghängen nahe Keswick als Landstreicher – oder Eremit – erfolgreich durchgeschlagen habe.

„Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder ein normales Leben mit ihm zu führen.“ Während Maud davon erzählte, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und ich nutzte die Gelegenheit, um ihr näher zu kommen und zum Trost meine Hand auf die Schulter zu legen. Mit ungeduldigem Nicken wehrte sie meinen Versuch energisch ab, trocknete die Augen und fuhr fort.

„Natürlich nannte ich ihn bei seinem Geburtsnamen Paul, dem Namen, den er trug, als ich ihn geheiratet hatte, doch er bestand nachdrücklich darauf, dass er nun Nikolai Andréevich sei. Er lebte die Rolle aus, die er im Film personifiziert hatte. Ich hätte ihn – wie er sagte – Nik zu nennen. Er hegte die felsenfeste Überzeugung, dass die Welt eines Tages verstehen würde, dass die von ihm erlebte Offenbarung direkt auf seine Arbeit beim Film zurückzuführen sei. Er meinte, dass er in den letzten Sequenzen der Filmaufnahmen ein neuer Mensch geworden sei.“

„Nennt er sich immer noch Nik?“

Sie nickte. „Ich habe es akzeptiert und rede ihn so an.“

„Wie schaffen Sie das? Haben Sie jemanden, der Ihnen hilft?“ Ich versuchte, nachzuempfinden, wie sie sich dort oben in Cumbria gefühlt haben musste beim Versuch, die Kommunikation mit ihrem Mann am Leben zu erhalten, in verzweifelter Sorge um ihn.

„Drei Monate nach Aufnahme der letzten Szene“, fuhr sie fort, „wurde der gesamte Film mit der dazugehörigen Publicity veröffentlicht, mit Pauken und Trompeten. Damals erkannte ich, dass das wilde Abenteuer meines Mannes, sein Fehlen und die Geschichte seiner psychischen Entwicklung dankbaren kontroversen Stoff für die Öffentlichkeitsarbeit darstellten, auch wenn das von den Produzenten nicht so geplant gewesen war.“

Boyds Streifen wurde ein Erfolg. Das Rätsel um das Verschwinden des Hauptdarstellers in den Bergen des Lake District, seine Visionen und schließlich die Adaption des Namens des von ihm im Film dargestellten Charakters trugen zum geheimnisvollen Mystizismus des Projekts bei. Die PR-Firma schmückte die Story effektiv aus, doch nach einer erfolgreichen Veröffentlichung kam die Maschinerie ins Stocken und stoppte dann ganz. Paul Jackson verschwand in der Vergessenheit.

Schließlich kehrte Maud nach London zurück und besuchte ihren Mann immer seltener. Manchmal fuhr sie den ganzen Weg nach Cumbria und verbrachte mehrere Tage damit, das Hochmoor zu durchstreifen, ohne ihm zu begegnen. Dann beschränkte sie sich darauf, einem vertrauenswürdigen Polizisten Pakete zu schicken, der an seinem freien Tag zu Niks Höhle wanderte und sie unter einem Haufen Geröll versteckte.

„Alter Nik“, resümierte sie. „Klingt wie der Name des Teufels!“

Sie lachte wieder. Darüber, dass Paul sich selbst Nikolai getauft hatte und dass die Bergsteiger ihn mit dem gekürzten Spitznamen riefen. Man sah ihn nur noch selten in dem Gebiet, aber oft genug, dass Maud wusste, dass er noch lebte, immer noch in der Morgendämmerung die Arme der aufgehenden Sonne entgegenstreckte und auch, wenn sie wieder hinter den Hügeln verschwand.

„Ich stellte mir die Frage“, sinnierte sie, „ob er noch die vielen Engel sah, von denen er gesprochen hatte. Geleiteten sie immer noch zahllose verlorene Seelen? Sah er Seelen, die ins nächste Leben übergingen?“

„Das nächste Leben?“ Ich konnte die in meiner Stimme mitschwingende Ungläubigkeit nicht verbergen. Zu was auch immer sich jeder von uns bekennt – in der modernen Welt ist es unklug, zu viel seines metaphysischen Glaubens zu verraten.

Ich fand Maud attraktiv und faszinierend, doch sie schien mein Interesse nicht zu bemerken, und nun begann mein Geduldsfaden langsam zu reißen. Unser Treffen überschritt bereits die von mir dafür eingeplante Zeit.

„Das ist ja alles interessant, aber was“, fragte ich – im Rückblick ziemlich unhöflich – „aber was hat das nun mit mir zu tun?“

Da erklärte Maud, dass ihr Mann nach einem harten fünfzehnjährigen Leben – wenige Wochen vor ihrem Anruf bei mir – einfach in die Bar des White Horse Inn in Derwentwater gegangen sei.

„Er gab bekannt, nun endgültig von den Bergen herabgestiegen zu sein.“

Für Maud war die erste Information über die Rückkehr ihres Mannes eine Benachrichtigung, dass er nun in einer Zelle der Polizeiwache in Keswick sitze. Die dort ansässigen Menschen hatten Maud liebgewonnen – und auch Old Nik, Letzteren besonders angesichts seines Rufs und wegen Klatsch und Tratsch.

„Dem Bericht nach stand Nik eines Nachmittags in der Tür des Inn. Sein Haar war lang und lockig, schien in Flammen zu stehen angesichts des Lichts hinter ihm.“

Der Lake District in Keswick erfreute sich des ruhigen Abschnitts der Jahreszeit. Der Frühling setzte sich nur zaghaft durch, und es hätte eigentlich kalt und regnerisch sein müssen. Dieser Nachmittag stellte jedoch eine Ausnahme dar. In der Bar befanden sich wenige Ortsansässige, ein paar professionell wirkende Wanderer mit den üblichen in die Schuhe gestopften dicken Socken und eine Gruppe recht modisch gekleideter Teenager, versammelt um einen knallbunten und lauten elektrischen Spielautomaten.

„Mein Mann hatte Glück.“ Maud ließ den Blick durch mein Wohnzimmer schweifen, wobei ihre Augen über die sorgfältig aufgehängten Bilder huschten. Traurig schüttelte sie den Kopf, drehte sich zu mir und blickte direkt in meine Augen. „Aus der Perspektive der Barbesucher muss er wie ein seltsamer alter Mann gewirkt haben. Doch ein Junge aus der Gruppe der jungen Farmer, die um die zischende und glucksende Maschine herumstanden, kannte ihn noch von seinen Tagen als Rockstar. Als Nik durch ein Krächzen seinen Durst verriet, kauften sie ihm ein Pint Bier – sehr starkes Bier aus der Gegend –, das er in einem Zug hinunterschüttete. Als ein Polizeibeamter auftauchte, um ihn zu beruhigen, predigte er schon Hölle und Verdammnis.“ Maud lachte. „Er hatte schon seit einigen Jahren keinen Drink mehr gehabt und beschuldigte die jungen Farmer, dass sie ihn vergiften wollten. Er brüllte, dass er wegfliegen werde, dorthin fliegen, von wo er gekommen sei.“

Für einen kurzen Moment rief ich mir meine eigenen verrückten Aktionen ins Gedächtnis. Zweifellos tauchten im Gefasel von Old Nik, des wieder-„getauften“ Alkoholikers, Sterne, Frösche, Kobolde und vielleicht sogar feuerspeiende Teufel mit Dreizacken auf.

Noch am selben Abend reiste Maud in den Norden, um ihren Mann zu retten, der nach einer kurzen Anhörung vor Gericht wegen Ruhestörung freigelassen wurde. Dann, nach einer schnellen Runde durch den Lake District, auf der sie seine an einem Dutzend Orten verteilten Habseligkeiten einsammelte, brachte Maud ihn in ihr Haus in Chiswick. Sie ließ nur den Flugdrachen zurück.

Trotz der jüngsten Vision schien es so – zumindest auf den ersten Blick –, als ob er sich erinnerte, um wen es sich bei ihm tatsächlich handelte und wer er die ganze Zeit über gewesen war.

„Natürlich wollte ich ihn mit Paul anreden“, erinnerte sich Maud. „Aber sogar unsere nächsten Freude nannten ihn Old Nik, trotz des jung wirkenden, sonnengebräunten Körpers und der wunderschönen langen, lockigen Haare, die beinahe überall in goldenem Glanz schimmerten.“

Während sie davon berichtete, bemerkte Maud meinen Gesichtsausdruck. Ich muss erneut skeptisch ausgesehen haben, denn sie starrte scheu lächelnd auf den Boden, ein wenig beschämt.

„Ich habe auch Visionen erlebt“, meinte ich unerwartet und wollte sie damit in die Gegenwart zurückholen. „Meine Visionen kamen von den Drogen, und ich habe bizarre und phantastische Bilder gesehen.“ Ich wollte ihr von den schreienden Grimassen berichten, die am Kopfende des alten Betts auftauchten, damals, als ich noch mit Pamela verheiratet war. Doch das war eine lange Geschichte. Ich holte tief Luft und setzte zum Reden an. Als hätte ich mich durch das Geständnis, das besondere Mitgefühl, dieses Augenblicks würdig erweisen wollen, rollte Maud die wasserdichte Bodenplane eines Zeltes aus. Ich starrte auf das erste Beispiel der phänomenalen Zeichnungen ihres Mannes und war total verblüfft.

Gierig durchsuchte ich die anderen Blätter: Hier lagen wenigstens zwanzig, und Maud meinte, es gebe Dutzende mehr. Jedes einzelne porträtierte mit atemberaubender Genauigkeit eine Momentaufnahme von Old Niks Vision des engelhaften „Final Harvest“.

„Die Arbeiten sind grandios“, stammelte ich aufgeregt. „Das ist beeindruckendes Material. Stellen Sie sich vor, was es bedeutet, wenn er das hier Dargestellte tatsächlich sehen kann!“

Sie berichtete, dass Old Nik einige Jahre in der rauen Natur mit den Zeichnungen verbracht habe, dass sie zusammengerollt in der Höhle lagerten, in der er immer Schutz suchte. „Für mich war das eine totale Überraschung“, fuhr sie fort. „Paul war schon immer ein talentierter Künstler gewesen. Wie so viele Rockstars seiner Generation kam er von der Kunsthochschule, doch er hatte in der Vergangenheit nie mehr gezeichnet als einige wenige simple Porträts für Glückwunschkarten an die Familie.“

Ich war erleichtert, dass keins der Blätter eine Signatur zeigte, da ich instinktiv spürte, dass Nikolai Andréevich ein weitaus besserer Name für einen Künstler der Outsider Art war als Paul Jackson. Nikolai Andréevich, kalkulierte ich still. Geboren während der Verfilmung seines Aufstiegs und Niedergangs. Jeder in der Welt der Outsider Art sollte sich darüber freuen, im Laufe seiner Entwicklung wahnsinnig geworden zu sein.

Das Folgende zu sagen ist ein Klischee – und es ist mir peinlich, dass mir so ein unverfrorener Gedanke durch den Kopf ging, während ich die exquisiten Bleistift- und Kreidezeichnungen prüfend anschaute –, doch ich hörte mich die Worte flüstern.

„Maud“, hauchte ich mit kaum wahrnehmbarer Stimme und vor Erregung leicht zitternd. „Sie und ich werden wahrscheinlich eine Menge Geld machen!“

Zum ersten Mal, seit sie mein Apartment betreten hatte, sah Maud glücklich aus, ein Glück, das ich kannte. Wieder spürte ich mein flatterndes Herz.