Muhammad Sameer Murtaza
Worte für ein inklusives Wir:
Klartext zur „Muslimfrage“

Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen

Muhammad Sameer Murtaza

Worte für ein inklusives Wir:
Klartext zur „Muslimfrage“

Im Gedenken an
Dr. Murad Wilfried Hofmann
(6. Juli 1931 bis 20.12.2019)

Inhaltsverzeichnis

Statt eines Vorwortes:
Woher unser Grundgesetz kommt

Wir! Wer ist dieses „Wir“?
Und gehören Muslime dazu?

Ohne Orient kein Okzident.

Muslime in Deutschland – eine Prise Geschichte

Die strukturelle Integration

Auf dem Weg zu einem inklusiven Wir

Ein inklusives Wir im säkularen Staat

Der säkulare Staat und die muslimische

Gemeinschaft.

Grundgesetz oder Qurʾān?

Die Neujustierung unseres Verständnisses von Säkularität

Muslimfeindlichkeit als Herausforderung für den säkularen Staat

Alternative Laizismus?

Muslimische Gemeinschaft und politische Mach

Ein inklusives Wir

Identität

Deutsche Identität?

Können Muslime Deutsche sein?

Gläubige Kosmopoliten

Die Schwierigkeit mit dem deutschen Nationalstolz

Mit Sympathisanten von Rechtspopulisten reden?

Islam is beautiful

Integration: ein Begriff der Nebel und Wolken

Dazugehören nicht um jeden Preis

Eine unzeitgemäße Sicht auf die Aufklärung

Statt Assimilation: Tischgemeinschaft

To be a Muslim is beautiful

Darf die Minderheit Forderungen stellen?

Das vielfältige Wir der Vielen

Statt eines Schlusswortes:
ein Plädoyer für eine gelebte Verfassung

Nachwort: Über dieses Buch

Anhang

I Ein Gespräch mit Dr. Murad Wilfried Hofmann

II Konstruktives Sprechen über Islam, Reform und Politik

III Thesen zur Religionsfreiheit

Literatur

„Närrisch, dass jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preist!
Wenn Islam Gott ergeben heißt,
In Islam leben und sterben wir alle.“1

(Johann Wolfgang Goethe)

 

1 Goethe, Johann Wolfgang (1993: 283).

Statt eines Vorwortes:
Woher unser Grundgesetz kommt

Deutschland heute ist ein säkularer Staat. Wir sind eine Nation von Christen, Atheisten, Juden und Muslimen. Muslimen? Deutschland mitunter eine Nation von Muslimen? Islam und Muslime sind augenblicklich Reizwörter, die Diskussionen entfachen. Das ist nicht neu. Frühere Generationen hatten ebenso ihre Debatten, ob es nun um den Einfluss der katholischen Kirche oder um den Bau von Synagogen ging.

Deutschland muslimisch? Über vier Millionen Mitbürger muslimischen Glaubens, die in allen Berufssparten unseres Landes zu finden sind, tragen nicht nur zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands bei, sie machen das Land auch zu einer Nation für Muslime. Kein einziges Bundesland, das nicht über eine Moschee verfügt. Mitbürger muslimischen Glaubens dienen unserem Land und beschützen es, ob als Polizisten, Feuerwehrmänner oder Bundeswehrsoldaten. Weshalb also diese Irritation? Vielleicht hilft bei solch aufgeregten Diskussionen Besinnung. Besinnung darauf, woher wir kommen und wer wir sind.

Wer eine Ausgabe des Grundgesetzes in die Hand nimmt und seine Bezeichnung Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland liest, mag sich vielleicht wundern, warum es nicht Verfassung der Bundesrepublik Deutschland heißt. Beginnen wir doch mit der historischen Ausgangssituation, die nicht nur das Grundgesetz, sondern zugleich die Biografie der Bundesrepublik Deutschland prägte.

Ausgangspunkte des Grundgesetzes waren die totalitäre Hybris, die staatlich organisierte Mordmaschinerie und die gewaltsame Expansion der Nationalsozialisten. Der Zweite Weltkrieg endete am 7./8. Mai 1945 mit der totalen Niederlage Deutschlands. Die Nationalsozialisten hatten ein Deutschland in Ruinen hinterlassen. Es gab keine Regierung und keine Behörden mehr, die administrative Struktur des Landes war zerstört. Deutschland drohte der Rückfall in eine primitive Wirtschafts- und Lebensform. Durch den Holocaust waren 6.000.000 Menschen jüdischen Glaubens planmaßig ermordet worden. Im Rahmen der Aktion T4 brachten die Nationalsozialisten 219.600 Roma und unzählige Angehörige der Religionsgemeinschaft „Zeugen Jehovas“ sowie Homosexuelle, psychisch Kranke, körperlich missgebildete und schwerbehinderte Menschen um. 20.000 Sozialdemokraten und Kommunisten, die Widerstand leisteten, wurden von ihren deutschen Mitbürgern in den Konzentrationslagern grausam ums Leben gebracht.2

Zweimal war von deutschem Boden ein Krieg ausgegangen, der große Teile der Welt erschütterte. Die Besatzungsmächte – die USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – hatten ein großes Interesse daran, einen weiteren Weltkrieg, der vom deutschen Volk ausgeht, zu verhindern. Deutschland, das nach Kriegsende zur Selbstverwaltung unfähig war, wurde in vier Besatzungszonen und Berlin in vier Sektoren aufgeteilt. Ein Viermächte-Kontrollrat übernahm die Verwaltung des Landes. Kurzzeitig überlegte man ernsthaft, das Land zu zerstückeln und es in einen vorindustriellen Zustand zu versetzen. Aber es kam anders. Wohl auch deshalb, da im Viermächte-Kontrollrat die Differenzen zwischen den USA und der Sowjetunion unüberbrückbar wurden. Am 20. März 1948 vertagte sich der Kontrollrat auf unbestimmte Zeit, was den weiteren Erhalt der Einheit Deutschlands fragwürdig erscheinen ließ. Seit 1946 vollzog sich in den verschiedenen Besatzungszonen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, der Wiederaufbau der deutschen Verwaltung. Ziel war eine weitgehende Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung, um so eine neue deutsche Staatsgewalt von unten nach oben aufzubauen.3

So begann man, auf kommunaler Ebene Amtsträger einzusetzen, Bürgermeister, Oberbürgermeister, Landräte und Ministerpräsidenten, die zunächst Hilfsorgane der Militärregierungen waren. Zugleich war dieses schrittweise Vorgehen auch eine Einübung in die demokratische Praxis.

Doch die Haltung der Sowjetunion machte eine gemeinsame Deutschlandpolitik unmöglich. In den Westzonen wurde zunehmend über einen wirtschaftlichen Zusammenschluss der Zonen als nächsten Schritt nachgedacht. Schließlich kam es am 1. Januar 1947 zur Bildung der Bizone, der Vereinigung des britischen und amerikanischen Besatzungsgebietes. Frankreich sträubte sich noch gegen eine solche Maßnahme. Mit der Gründung der Bank deutscher Länder als Notenbank begann mit dem 20. Juni 1948 die Währungsreform (Umstellungsverhältnis von 10 Reichsmark auf eine 1 Deutsche Mark) als erste Voraussetzung einer wirtschaftlichen Erholung des Landes. Die Sowjets reagierten mit einer eigenen Währungsreform am 23. Juni und unterstrichen damit ihren Alleinvertretungsanspruch für Berlin sowie ihren Anspruch auf die Kontrolle ganz Deutschlands. Doch die Berliner Bevölkerung wies diese Ambitionen zurück. Am 24. Juni desselben Jahres verhängten die Sowjets daher eine nahezu einjährige Blockade (Juni 1948 bis Mai 1949) der westlichen Land- und Wasserwege nach Berlin. Damit wurde die Bevölkerung Berlins von der Zufuhr an Nahrungsmitteln und Rohstoffen abgeschnitten. Dank der Amerikaner und Briten, die eine Luftbrücke einrichteten, konnte die Lebensfreiheit Berlins verteidigt werden. Diese gemeinsame Frontstellung gegen die Sowjetunion erklärt auch die spätere Westintegration Deutschlands. Deutschland war durch die Sowjetunion direkt bedroht und vom militärischen Standpunkt aus ein höchst verletzliches Land. Die Westbindung stillte das Sicherheitsbedürfnis der jungen Bundesrepublik.4

Die westlichen Militärgouverneure beauftragten mit der Übergabe der sogenannten Frankfurter Dokumente die Landtage der ursprünglichen westlichen Bundesländer: Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern mit der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die die Grundlage eines demokratischen und föderalen Staates schaffen sollte. So kamen 65 Mitglieder der westlichen Landtage sowie fünf Berliner Vertreter mit beratender Stimme unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer in Bonn vom 1. September 1948 bis zum 8. Mai 1949 zusammen. Es heißt im Artikel 145 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG):

Der Parlamentarische Rat stellt in öffentlicher Sitzung unter Mitwirkung der Abgeordneten Groß-Berlins die Annahme dieses Grundgesetzes fest, fertigt es aus und verkündet es.

Im Zentrum der Überlegungen des Parlamentarischen Rates stand die Einsicht, dass eine Wiederholung der Geschehnisse seit 1933 nie mehr geschehen dürfe. Das Ergebnis war das uns heute vorliegende Grundgesetz.

Am 8. Mai 1949 stimmte der Parlamentarische Rat über das Grundgesetz ab, das mit 53 zu 12 Stimmen angenommen wurde. Am 12. Mai 1949 erhielt es die Genehmigung der Besatzungsmächte und schließlich wurde es durch die Volksvertreter der Länder bejaht, mit alleiniger Ausnahme des Bayerischen Landtages, der das Grundgesetz ablehnte. Es heißt im Artikel 144 zur Annahme des Grundgesetzes:

Dieses Grundgesetz bedarf der Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder, in denen es zunächst gelten soll.

Infolge der Abstimmung musste gemäß diesem Artikel auch Bayern das Grundgesetz akzeptieren.

Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft (Artikel 145 Absatz 2 u. 3 GG) und die Bundesrepublik Deutschland (BRD) war gegründet. Zeitgleich wurde in der sowjetischen Zone die Deutsche Demokratische Republik (DDR) ausgerufen. Deutschland war zweigeteilt. Das Grundgesetz konnte also gar nicht Verfassung heißen, da es nicht ganz Deutschland umfasste, und war daher zunächst als Übergangsordnung gedacht. Bereits auf der Koblenzer Konferenz (8.-10. Juli 1948) erklärten die Ministerpräsidenten, eine deutsche Verfassung vorerst zurückzustellen. So heißt es auch im Artikel 146 GG:

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Doch seit der Wiedervereinigung, genauer dem Beitritt der sich politisch und wirtschaftlich im Niedergang befindenden DDR zur BRD, am 3. Oktober 1990 hat es diesen provisorischen Charakter verloren. Gegenstand der im Artikel 146 GG erwähnten Volksabstimmung ist nicht das Grundgesetz, sondern eine vom Grundgesetz abweichende Verfassung. Zumal Artikel 146 GG erst dann anwendbar wäre, wenn Artikel 145 GG um ein Verfahren zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ergänzt würde. Allerdings beinhaltet Artikel 146 GG auch keinen Auftrag zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung und selbst wenn es dazu käme, wäre jede nachfolgende Verfassung an Artikel 79 Absatz 3 GG gebunden:

Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

Wo nämlich die Weimarer Reichsverfassung die „freiheitlichste Verfassung der Welt“ war (keine Sperrklausel, kein Parteiverbot für verfassungswidrige Parteien, positivistisches Rechtsverständnis5), setzte der Parlamentarische Rat dem Wählerwillen Grenzen.

Unbestreitbar ist unsere Gesellschaft heute pluralistischer geworden. Eine Gesellschaft droht in Teilgesellschaften zu zerbrechen, wenn es nicht eine verbindende Klammer gibt, über die Konsens herrscht. Dies kann keine „jüdisch-christliche Leitkultur“ sein, wohl aber kann es die Leitkultur des Grundgesetzes sein. Der Ausgangspunkt unseres Grundgesetzes war die traumatische Erfahrung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus. Der Parlamentarische Rat, dessen Aufgabe es war, das Grundgesetz zu formulieren, war bestrebt, eine Verfassung niederzuschreiben, die eine Wiederholung dieser Gräuel nie wieder ermöglicht. Unter ihnen waren Christen, Agnostiker und Atheisten, Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Kommunisten. Das Grundgesetz setzt sich aus verschiedenen Weltanschauungen zusammen, die sich in dem angestrebten Ziel einig sind: Nie wieder 1933!

Das Grundgesetz als Folge einer imaginären „jüdisch-christlichen Leitkultur“ zu proklamieren, würde bedeuten, dass es seine Existenz quasi deterministisch einzig und allein dem Christentum verdankt und die historische Erfahrung mit dem Nationalsozialismus ausgeblendet wird. Doch worauf fußt diese „jüdisch-christliche Leitkultur“? Für unsere jüdischen Mitbürger bedeutete sie Vertreibung, Pogrome, brennende Synagogen, den Judenstern und letztendlich die Massenvernichtung durch ihre nichtjüdischen Mitbürger. Der Name Auschwitz begleitet uns für alle Zeiten und fordert von uns, wie Richard von Weizsäcker es einmal sagte, ein Mahnmal des Denkens und des Fühlens in unserem eigenen Inneren zu errichten.6

Die „jüdisch-christliche Leitkultur“ ist eine vor allem nach 1945 geprägte Wendung, als Ausdruck einer politischen Korrektheit. Auch 82 Jahre nach der Reichspogromnacht muss gesagt werden, dass die „jüdisch-christliche Leitkultur“ ein rhetorisches Konstrukt ist. Die Beziehung zwischen Christen und Juden in diesem Land war allzu oft eine Beziehung zwischen Tätern und Opfern. Durch die Überbetonung einer solchen Leitkultur als Identität des deutschen Staates droht das Grundgesetz zunehmend in den Hintergrund zu geraten. Jeder, der jenseits des Jüdisch-Christlichen steht, wäre demnach der andere. Nicht mehr das Grundgesetz, sondern die Religionszugehörigkeit würde dann entscheiden, wer zur Leitkulturgemeinschaft gehört. Denkt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, so können die muslimischen Mitbürger nie so richtig dazugehören. Indem die „jüdischchristliche Leitkultur“ als Identitätsmerkmal beschworen und das Grundgesetz religiös aufgeladen wird, signalisiert man den muslimischen Mitbürgern, dass sie dem falschen Glauben angehören und eigentlich und genau genommen keinen gleichwertigen Platz in diesem Land haben, ganz gleich, ob sie nun die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht. Diese Rhetorik macht aus Muslimen gefühlt Bürger zweiter Klasse, drängt sie an den gesellschaftlichen Rand, grenzt sie aus, aber wie sollen sie dann noch ein positives Zugehörigkeitsgefühl zum deutschen Staat herstellen können?

 

„Orient und Occident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsre Augen hinmalt, um unsre Furchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch machen, zur Freiheit zu kommen, sagt sich die junge Seele; und da sollte es sie hindern, dass zufällig zwei Nationen sich hassen und bekriegen, oder dass ein Meer zwischen zwei Erdtheilen liegt, oder dass rings um sie eine Religion gelehrt wird, welche doch vor ein paar tausend Jahren nicht bestand. Das bist du alles nicht selbst, sagt sie sich. Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand ausser dir allein. Zwar giebt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dich durch den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst; du würdest dich verpfänden und verlieren. Es giebt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, ausser dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn. “7

(Friedrich Nietzsche)

 

2 Vgl. Rudzio, Wolfgang (1996: 15).

3 Vgl. ebda. (15-16 u. 38).

4 Vgl. ebda. (17-19).

5 D. h., dass Recht allein an der formellen Korrektheit des Rechtsetzungsverfahrens gemessen wird. Die BRD ist dagegen ein Grundrechtsstaat, der Recht durch die Grundrechte auch inhaltlich festschreibt und damit dem Zugriff von sich wandelnden Mehrheiten entzieht.

6 Vgl. Weizsäcker, Richard von (1985).

7 Nietzsche, Friedrich (2003: 339-340).