Über das Buch

Ist nicht eine tiefe Leidenschaft die einzige Rechtfertigung für das Leben?

Clarita von Trott zu Solz stellt einen Eimer neben ihr Bett, um gefährliche Papiere noch rasch verbrennen zu können. Annedore Leber kämpft jahrelang darum, ihren Mann aus der Haft zu befreien. Freya von Moltke und Marion Yorck von Wartenburg transportieren geheime Unterlagen. Vor allem aber verleihen die Frauen den Zusammenkünften ihrer Männer den Anschein privater Treffen, während diese darum ringen, eine tragfähige Nachkriegsordnung zu entwerfen. Als Graf von Moltke verhaftet wird, stellen sich die meisten an Stauffenbergs Seite, entschlossen, die lang geplante Zukunft mit einem Attentat herbeizuführen.

1

1912, Schloss Tressow, Mecklenburg

Sei still! Warte ab. Übe dich in aristokratischer Zurückhaltung oder halte proletenhaft die Schnauze.

Und wie ginge die Geschichte dann weiter?

Aber es war doch schon beinahe ausgestanden: die Teller mit bunten Versprechungen auf zu erwartende Köstlichkeiten abgetragen, auch der blutige Hauptgang wacker mit allerlei Instrumentarium durchkämpft bis hinab zu Gerippe und Gräte, man saß bereits in Erwartung des Nachtischs –

Was hat Fritzi überhaupt gesagt?

Tisa weiß es nicht mehr. Gräfin Elisabeth von der Schulenburg, sieben Jahre alt: Sie hat vergessen, was der Auftakt des Dramas war. Der Schlussakt hat ihn ausgelöscht, der Zorn der Gewalten, der im Übrigen nicht dem Inhalt von Fritzis Worten geschuldet war, sondern der Insubordination als solcher: Der Vater hat verfügt, dass Kinder an der elterlichen Tafel zu schweigen haben, bis auf ein leises Wort des Bittens und Dankens zu gegebener Zeit. Allenfalls. Und Fritzi hat auf einmal gesagt –

Was?

Der Vater hob den Kopf.

Fritzi begegnete seinem Blick.

Er reckte das Kinn vor, blitzte aus schmalen Augen zurück: Siehst du. Ich kann dich ganz genauso ansehen.

Die Prügel sind im Herrenzimmer vollzogen worden und nun vorüber. Tisa steht vor der Tür des Schrankzimmers.

»Fritzi?«

Keine Antwort. Tisa legt das Ohr an die Tür. Nichts. Normalerweise macht Fritzi sich im Schrankzimmer bemerkbar. Er rennt gegen die Tür an, er trommelt dagegen. Er lässt seinen Hinterkopf an der Tür herunterrattern, was ungefähr klingt wie ein fahrender Zug. Tisa probiert noch einmal die Klinke, aber Miss Bull, des Vaters ausführende Gewalt, hat natürlich abgeschlossen. Vielleicht sollte Tisa lauter rufen. Zwar besteht dann Gefahr, dass Miss Bull sie hört, aber schlimmer ist es doch, wenn Fritzi sie nicht hört. Wenn er denkt, er wäre ganz allein und vergessen da drin. Tisa schließt die Augen. Sie faltet die Hände, drückt die Finger fest zusammen. Dann ruft sie, diesmal richtig.

»Fritzi! Bist du noch da?«

Vielleicht nicht. Vielleicht ist Fritzi geflohen. Vielleicht ist er tot. Tisa schreit. Nun kommen alle gerannt: die Mutter, ein paar Brüder, ein Schwarm Hausmädchen.

»Fritzi ist da drin! Und Fritzi ist tot!«

Nun schreit die Mutter. Großes Durcheinander, das gesamte Haus läuft zusammen. Wer hat den Schlüssel? Wo ist Miss Bull?

»Fritzi! Fritzi!«

Der Schlüssel ist gefunden. Die Tür fliegt auf. Fritzi steht mitten im Zimmer. Graf Fritz-Dietlof von der Schulenburg, geboren am 5. September 1902 in London, spillerig, segelohrig, mit weißblondem Bürstenkopf: Er steht mit verschränkten Armen. Seine Augen schwimmen. Seine Lippen sind zusammengepresst, die Mundwinkel herabgezogen. Er ist sehr blass. Er ist wirklich vollkommen weiß im Gesicht. Aber er rennt nicht auf die Tür zu. Er steht, wo er steht.

1912, Freiburg

Julius Leber darf die Abiturrede nicht halten. Er ist der beste Schüler des Jahrgangs 1912, aber nicht er spricht zu den Eltern und Honoratioren, die sich in der Aula des Freiburger Oberrealgymnasiums versammelt haben, sondern Funck. Der Zweitbeste. Es wundert Julius nicht. Den Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet hat das Militär beenden müssen, der Weltkongress der Sozialistischen Internationale hat sich herausgenommen, die Fürsten und Industriellen frech als Kriegshetzer zu bezeichnen und ihnen den Friedenswillen der geeinten Arbeiterbewegung als Stimmenchor aller Völker des Erdballs entgegenzusetzen, die SPD stellt seit den Reichstagswahlen im Januar die stärkste Fraktion im Reichstag, sie hat trotz der Verzerrungen durch das Mehrheitswahlrecht mehr Stimmen erhalten als je eine Partei zuvor, was ja wohl kaum mit rechten Dingen zugeht, sondern dem jüdischen Golde und seinen Umtrieben geschuldet sein muss, und Julius hält noch nicht einmal schamhaft damit hinter dem Berg, dass er diesem Verein beigetreten ist.

Er ist zwanzig Jahre, ein Alter, in dem manch gehätscheltes Bürger- oder Adligensöhnchen schon fast das Studium beendet. Aber ohne die Fürsprache des Dorfgeistlichen hätte der unehelich geborene Kleinbauernsohn Julius Leber nicht einmal die Mittelschule in Breisach besuchen dürfen, wo er bestraft wurde, wenn er keine Schulbücher hatte oder wenn er dem Unterricht fernblieb, weil er arbeiten musste, um Schulbücher zu beschaffen. Danach haben ihn Mutter und Stiefvater zu einer kaufmännischen Lehre in einer Tapetenfabrik gezwungen. Abgemacht war, dass die Hälfte seines Lehrlingsgehalts für die Oberrealschule zurückgelegt würde. Aber stattdessen hat die Mutter von dem Geld noch ein Stück Land gekauft: noch ein Stück elsässisch-deutschen Wiesenrains, als könnte mehr Dreck die Lage verbessern und nicht mehr Bildung, weshalb man ja eben einen wie Julius Leber nach Kräften von ihr fernzuhalten sucht.

Immerhin hat das Gymnasium ihm dank seiner glänzenden Mittelschulnoten das Schulgeld erlassen. Seinen Lebensunterhalt hat er mit Zeitungsartikeln bestritten und mit Nachhilfeunterricht für betuchtere, dümmere Mitschüler, die natürlich im Traume nicht auf die Idee gekommen wären, ihn deswegen für gleichwertig zu erachten.

Vorn am Pult kommt Funck allmählich zum Ende. Julius Leber applaudiert mit den anderen. Er nimmt niemandem etwas übel, nicht einmal Funck. Die Abiturrede zu halten ist eine hohe Auszeichnung, wer hätte widerstehen können? Julius Leber. Er an Funcks Stelle hätte die Rede nicht gehalten. Wenn man den Besten seines Rechts entkleidet hätte, die Rede zu halten, dann hätte auch Julius Leber geschwiegen. Er weiß das. Dieses Wissen genügt, es muss vorerst genügen. Julius Leber wird nun Nationalökonomie studieren.

1912, Schloss Klein Oels, Niederschlesien

Eine Försterei mit winzigen Wildtieren, ein Bus aus Blech mit den Namen wirklicher Berliner Straßen, das Brettspiel »Wer reist mit nach unseren Colonien?« von Professor H. Kratz, sogar ein Bahnhof mit Lok, Wartesaal und Zinnfiguren: Im Kinderhaus von Schloss Klein Oels sind sicherlich alle Spielzeuge vorhanden, die es auf der ganzen Welt gibt. Unten in der Miniaturküche mit ihren winzigen Gerätschaften bewirten die Mädchen gern die Klein Oelser Hausdamen und Kinderfräuleins mit Kuchen und Tee, aber heute erhalten sie von einer Hellerauer Tanzlehrerin rhythmischen Unterricht zur Förderung der Grazie, Musikalität und Charakterbildung, und so haben die Jungen an diesem Regentag das Häuschen für sich. Sie haben sich ins Obergeschoss zurückgezogen: Graf Peter Yorck von Wartenburg, sein ältester Bruder Paul, Bia genannt, und ihr Freund Fritzi Schulenburg, der wie meist im Sommer einige Wochen auf Klein Oels verbringt. Er kniet auf einer Bank und blickt hinaus in den Regen, in dem die Grenzen der Yorck’schen Besitzungen, die mit ihren mehr als dreitausend Hektar zu den größten in Schlesien gehören, dunstig verschwimmen. Über die Wiesen im Vordergrund strebt eine Gestalt in schlechtsitzendem Anzug dem Walde zu. Fritzi lehnt sich ein wenig vor.

»Ist das da unten nicht der Bibliothekar?«

»Pinko Meyer«, sagt Bia, ohne aufzusehen. Peter Yorck lacht.

»Wieso Meyer«, sagt Fritzi, »heißt er nicht Bötticher?«

»Ja klar«, sagt Bia. »Aber er schreibt Gedichte, und die veröffentlicht er unter falschem Namen. Manchmal nennt er sich auch Ringelnatz.«

»Ringelnatz!« Mehr Gelächter.

Eigentlich ist der Bibliothekar angestellt, um die Büchersammlungen von Klein Oels zu katalogisieren. Ihren Grundstock bildet die Bibliothek Ludwig Tiecks, die der Dichter einst dem Großvater des jetzigen Schlossherrn vermacht hat. Dessen Nachkommen haben die Sammlung nach Kräften vermehrt, und so ist sie auf über hundertfünfzigtausend Bände angewachsen, eine der größten in deutschem Privatbesitz.

»Aber leider hat Vater den Bibliothekar rauswerfen müssen«, sagt Peter.

»Warum denn?«, sagt Fritzi.

»Er hat sich mit jemandem gehauen. Mit einem unserer Leute.«

»Gehört der Bibliothekar denn nicht zu euren Leuten?«

»Er ist doch nicht auf Klein Oels geboren«, sagt Peter.

»Er ist auch leider nicht allzu klug«, sagt Bia. »Er kann sich nicht mal mit Mademoiselle unterhalten. Und Platos ›Gastmahl‹ hat er in Übersetzung auf dem Nachttisch liegen.«

Das ist allerdings verwirrend. Selbst die Mutter der Yorck-Kinder liest mühelos Latein und Altgriechisch, und der Vater, promovierter Jurist und Ehrendoktor der philosophischen Fakultät der Universität Breslau, Mitglied des Preußischen Herrenhauses und des schlesischen Provinziallandtages, hat bei seinen Kindern keine Zweifel daran gelassen, dass ein gebildeter Erwachsener über profunde Kenntnisse der Alten Sprachen verfügt, das Englische und das Französische beherrscht, mindestens mit den Grundlagen naturwissenschaftlichen Denkens vertraut und in sämtlichen Geisteswissenschaften bestens bewandert zu sein hat. Im Übrigen spielt Graf Heinrich Yorck von Wartenburg natürlich auch ausgezeichnet Billard.

»Es regnet nicht mehr«, sagt Fritzi. »Wollen wir rausgehen und ein bisschen mit dem Bibliothekar reden?«

»Wozu?«, sagt Bia.

»Vielleicht sagt er ein Gedicht auf«, sagt Fritzi.

»Wir könnten die Ponys nehmen«, sagt Peter.

»Ja, los«, sagt Fritzi. »Wir holen die Ponys, und dann jagen wir den Bibliothekar.«

Sie springen auf. Sie rennen die schmale Treppe hinunter, den Parkweg entlang, auf die Ställe zu: drei Jungen von zehn, neun und sieben Jahren. Fritzi singt laut ein Lied, das er irgendwo aufgeschnappt hat.

Der General Bumbum,

Der reitet alles um!

Sein Streitross ist von Leder,

Papieren Hut und Feder –

1919, Heidelberg

»Poet werden«, sagt Carlo Mierendorff zu Carl Zuckmayer und Theo Haubach, mit denen er in seiner kleinen Heidelberger Studentenbude zusammenhockt, »kann man heute natürlich nicht mehr. Ja, früher, Theo! Du weißt es noch. In Darmstadt, als wir kaum mehr als Buben waren und für die gute alte ›Dachstube‹ schrieben, und dann am Sonntag bediente man im Salon die Violine – aber damit ist es aus und vorbei.«

»Du meinst, das Schreiben wäre heute nicht mehr legitim?«, sagt Zuckmayer, der sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, expressionistische Gedichte verfasst und neuerdings an einem Theaterstück schreibt. »Du meinst, es zählt nur noch die nackte Tat? Wozu dann die neue Zeitschrift?«

»Zuck«, sagt Carlo, »›Tribunal‹ wird radikal. Natürlich muss geschrieben werden, aber angeschrieben gegen die Spießer, die Mucker und Kriegstreiber. Ungeheures geschieht doch. Kriege, Revolutionen, Aufruhr, gewaltige Entwicklungen wälzen sich über den ganzen Kontinent.«

Sie haben alle drei im Weltkrieg gekämpft. Carlo Mierendorff hat sich sofort bei Kriegsbeginn zur Armee gemeldet, zwei Tage nach dem Abitur. Nach der Schlacht um Łódź hat man ihm das Eiserne Kreuz Zweiter, 1917 an der Westfront das Erster Klasse verliehen, und dort, im Schlamm der französischen Gräben, hat er sich eine Mittelohrvereiterung zugezogen. Seitdem ist er auf einem Ohr taub. Sein bester Freund Theo Haubach ist achtmal verwundet worden.

»Aber wir leben noch, Theo. Wir leben. Was können die Toten des Krieges, was können die Gemordeten von den Lebenden fordern? Dass wir eingreifen in die Geschicke der Welt, dass wir die Welt von Grund auf verändern. Darum studieren wir Nationalökonomie. Darum schreiben wir für das ›Tribunal‹. Und darum, Freunde, sage ich: die Liebe!« Carlo ist aufgestanden, er breitet die Arme aus. »Einen ganzen Krieg lang haben wir vom Leben und von der Liebe geträumt. Jetzt wollen wir leben und lieben und Frauen küssen, wir wollen trinken und schreiben, arbeiten und kämpfen, für die Sache der Freiheit, der Republik, für ein geeintes Europa des Friedens. Dann wird man am Ende sagen können: Es hat sich gelohnt. Wenn wir bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen, für die Sache des Friedens, der Menschheit, der Republik, dann wird es sich alles gelohnt haben. Ganz egal, wie es für den Einzelnen ausgeht.«

Januar 1919, Schloss Kreisau, Schlesien

Der Schnee fällt immer dichter. Helmuth James von Moltke ist auf dem Heimweg von der Schule. Im Krieg ist der Zugverkehr zwischen Kreisau und Schweidnitz eingestellt und in diesem ersten Winter nach Kriegsende noch nicht wieder aufgenommen worden. Jeden Morgen spannt Helmuth also den Apfelschimmel vor den kleinen Wagen, der Spinne genannt wird, und dann geht es los nach Schweidnitz, über die Landstraße. Freilich könnte er auch bei Tante Ete wohnen. Margarethe von Trotha, die Schwester von Helmuths Vater: Sie ist mit ihren Kindern von Kreisau nach Schweidnitz gezogen, damit Helmuths Vetter Carl Dietrich es nicht so weit in die Schule hat. Sie würde auch Helmuth aufnehmen. Aber Kreisau verlassen, Mami verlassen? Und es sind ja nur sieben Kilometer. Im Sommer ist die Fahrt sogar schön: die Morgenfrische, der Dunst über den Wiesen, das leise Sirren der Räder und der Himmel ganz rein, bevor der Tag heiß wird. Aber jetzt ist alles zugeschneit, und Helmuth steckt zum fünften Mal fest.

Es ist noch nicht spät, vielleicht halb vier. Aber es dunkelt schon: eine weiße Dunkelheit, die der stiebende Schnee erzeugt. Helmuth weiß nicht genau, wo er ist. Jedenfalls ist er noch immer auf der Straße, deren Lauf die Alleebäume deutlich markieren. Ihm ist kalt. Es ist mühsam. Er hat die Spinne freigeschaufelt, und ein paar Meter weiter steckt sie wieder fest. Er wird jetzt natürlich nicht zu heulen anfangen. Er ist elf, und im März wird er zwölf. Er heult nicht. Er wünschte nur, Mami wäre hier.

Der Wunsch ist überwältigend. Helmuth darf ihn gar nicht richtig festhalten, sonst überschwemmt ihn weinerlicher Überdruss. Ohnehin wäre es sinnvoller, sich den Kutscher Hermann herzuwünschen. Hermann würde nicht nur für den kleinen Moltke schaufeln, er würde ihn auf den Schultern nach Hause tragen. Es geht aber gar nicht darum. Helmuth würde klaglos schippen und schaufeln, wenn bloß Mami hinten in der Spinne säße. Wenn Mami neben der Spinne herginge, in ihre duftenden Pelze gehüllt: Dann hätte ihr Sohn allen Mut der Welt. Mami würde die Hände zusammenschlagen vor Stolz auf seine unverdrossene Zuversicht.

Er steckt wieder fest. Jetzt kommen doch Tränen. Ist das das Leben? Gehen, kämpfen, feststecken, schippen, wieder ein paar Schritte, wieder feststecken? Wenn es so ist, hat er keine Lust. Danke bestens, aber Helmuth James von Moltke verzichtet. Hat er etwa darum gebeten, auf die Welt zu kommen? Er könnte jetzt aufgeben, wenn er wollte. Er könnte sich in den Schnee werfen und liegen bleiben. Er weiß, was dann passieren würde. Erst friert man entsetzlich. Aber dann wird einem ganz wundervoll warm. Und dann stirbt man. Müdigkeit lullt einen ein, und am nächsten Morgen wird man gefunden, froststeif und halb zugeweht wie ein Hase.

Mami!

Er heult. Er schippt. Er kann die Kinderstimme, die Kleinkindstimme in seiner Kehle spüren, ohne dass er ruft.

Mami, Mami, warum bist du nicht da?

Er muss aber mindestens das Pferdchen freischippen. Was kann denn das arme Pferdchen dafür? Er muss den Wagen heil heimbringen. Sie brauchen den Wagen auf Kreisau, alles wird gebraucht, jetzt nach dem Krieg. Und natürlich erwartet Mami von ihm, dass er Pferdchen und Wagen zurückbringt. Sie setzt auf ihren Sohn, sie begleitet ihn mit ihren Gedanken. In gewissem Sinne ist sie also hier. In gewissem Sinne ist sie tatsächlich hinten in der Spinne.

Helmuth James von Moltke steigt nicht wieder in den Wagen. Er zieht das Pferdchen am Zügel weiter. Mami ist das Zentrum. Ohne sie würde die Welt zerschellen wie eine Tasse auf Steinboden. Helmuth muss jetzt nur den Gedanken festhalten, dass er das Richtige tut. Sein Fäustling ist eingerissen, Schnee fällt ihm in den Kragen, aber er weint jetzt nicht mehr. Er ist jedenfalls auf dem richtigen Weg: Vor ihm sind die Linden, die Junilinden von Kreisau. Fast ist es, als würde der Schneefall schwächer. Freilich, der Himmel hängt voller Wolken. Aber das kann ihm egal sein. Es obliegt einer anderen Macht, darüber zu befinden, ob es schneit oder taut. Helmuth James von Moltke ist sehr müde, aber er kann jetzt tapfer sein. Er weiß ja nun, was er zu tun hat.

1921, Klosterschule Roßleben

»Meine Pläne sind nun natürlich alle perdu«, sagt Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld zu seinem Freund Peter Graf Yorck von Wartenburg. »Nichts wird es mit dem Jurastudium und womöglich einer Karriere im diplomatischen Dienst. Mein Onkel will mich zum Erben über seine Güter einsetzen.«

Sie sitzen in Ulrich Schwerins Zimmer im Internat der Klosterschule Roßleben. Die Koffer stehen noch ungeöffnet neben der Tür: Die Jungen sind heute erst aus den Weihnachtsferien zurückgekehrt.

»Warum freust du dich nicht?«, sagt Peter. »Landbesitz! Ich hätte nichts dagegen, ein Gut zu erben. Aber natürlich wird Bia als der Älteste den Fideikommiss verwalten.«

»Ja. Na ja, freilich, Klein Oels! Aber von den Gütern meines Onkels liegt das eine in Mecklenburg und wirft nicht allzu viel ab, und das andere ist in Westpreußen. Mitten im Polnischen Korridor. Und ich habe doch noch nie auf dem Land gelebt. Wir haben immer in Städten gewohnt, und meistens im Ausland, in Luxemburg, Dänemark, Guatemala, wo man meinen Vater als preußischen Gesandten eben hinversetzt hat. Ich kann mir das Landleben gar nicht vorstellen. Nun werde ich wohl erst eine land- und forstwirtschaftliche Lehre zu absolvieren haben und dann Agrarwissenschaft studieren.«

»Am besten wäre es, du müsstest noch gar nichts entscheiden«, sagt Peter. »Am besten wäre, wenn du noch gar nicht von Roßleben wegmüsstest. Aber freilich, am Ende muss man immer den familiären Erfordernissen genügen, anders geht es ja gar nicht.«

Bis zu seinem Eintritt in Roßleben ist Peter von Hauslehrern unterrichtet worden, so wie die meisten anderen seiner Mitschüler auch. An seinem ersten Tag stand er allein in der Roßlebener Eingangshalle, ein Stein im Strom der Schülermassen, der sich vor ihm teilte und hinter ihm schloss, bis sich ein schmaler Junge aus ihm löste.

Du bist Peter Yorck, oder? Ich bin Ulrich Schwerin. Ein Vetter von Fritzi Schulenburg.

»Hast du übrigens gehört?«, sagt Ulrich Schwerin. »Fritzi hat seine erste Mensur geschlagen. Wolfi sagt, er hätte einen gewaltigen Schmiss abbekommen. Du kennst ihn? Wolf-Werner, der zweitälteste der Schulenburg-Jungs. Er ist Erster Chargierter bei den Göttinger Sachsen.«

»In welches Corps wirst denn du eintreten, Ulrich?«

»Ich weiß es noch nicht. Du gehst ja sicher zu Borussia Bonn.«

»Es ist Tradition. Mein Vater und mein Bruder Bia sind Bonner Preußen.«

»Und natürlich der Kaiser und der Kronprinz. – Ja, wenn Bethmann Hollweg sich gegen Ludendorff durchgesetzt hätte! Dann hätte Deutschland vielleicht zu einem erträglicheren Frieden gefunden. Jedenfalls hat das Professor von Harnack auf der Beerdigung behauptet, zur großen Befriedigung der Familie.«

Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler von 1909 bis 1917, der am Neujahrstag gestorben ist, war ein Vetter von Ulrich Schwerins Mutter.

»Ich glaube, er war ein wirklich guter und fortschrittlicher Mann«, sagt Uli Schwerin. »Aber er hat immer zwischen allen Stühlen gesessen. Was wir im Weltkrieg gebraucht hätten, wäre einer gewesen wie der alte Yorck. Der hätte vielleicht noch eine Möglichkeit gesehen, das Steuer herumzureißen.«

Ulrich Schwerin meint natürlich Ludwig Yorck, unehelich geboren als Sohn einer Handwerkertochter und eines Kapitäns der preußischen Armee. Peter hat erst kürzlich einen Vortrag über den berühmten Verrat seines Ahnherren in Tauroggen gehalten. Die Geschichte ist ihm so geläufig, dass er sich nicht hat vorbereiten müssen: Napoleons Russlandfeldzug, das erbärmliche Scheitern der Grande Armée in den verschneiten russischen Weiten, dann am 30. Dezember 1812 erreichen die ersten versprengten Franzosen mit Mühe Tilsit, verfolgt von russischen Reiterpatrouillen. Auf Befehl des preußischen Königs hat General Yorck seine Männer auf Seiten der Franzosen in den Kampf gegen die Russen zu führen. Aber gedenkt er wirklich auf Seiten der Macht zu kämpfen, die ganz Europa unter der Knute hält? Der russische General von Diebitsch schickt Yorck einen Unterhändler entgegen: Carl von Clausewitz, keinen Geringeren, der wie andere preußische Offiziere auch lieber seinen Dienst quittiert hat und zu den Russen übergelaufen ist, als dem Befehl des Königs zu gehorchen. In einer alten Mühle bei Tauroggen kommen die drei Offiziere zusammen: Und Peters Ururgroßvater nimmt das Bündnisangebot mit Russland an. Er wird sich dem königlichen Befehl widersetzen. Er wird seine Soldaten nicht in den Untergang der Grande Armée hineinziehen, sondern sie werden den Kern des berühmten I. Armeekorps bilden, das 1813/14 entscheidend zum Ende der napoleonischen Diktatur beitragen wird.

Das ist natürlich Hochverrat. General Yorck riskiert seinen Kopf. Aber in Wirklichkeit ist sein Entschluss ein Akt wahrer Treue: ein Fanal, das langersehnte Signal zur nationalen Erhebung, zum Aufstand gegen die Franzosen, zur Befreiung Preußens und Europas von der Fremdherrschaft. Dies ist der berühmte Geist von Tauroggen. Dies ist der Geist der Yorcks. Ein Yorck bleibt seinen Prinzipien treu, immer und unter allen Umständen: Das hat Ludwig Yorck auch seinem König geschrieben.

Jetzt oder nie ist der Moment, Freiheit, Unabhängigkeit und Größe wiederzuerlangen. Ich schwöre Ew. Königlichen Majestät, dass ich auf dem Sandhaufen ebenso ruhig wie auf dem Schlachtfelde, auf dem ich grau geworden bin, die Kugel erwarten werde.

Aber der König ist nach anfänglichem Zorn vernünftig geworden. Er hat Yorck vollständig rehabilitiert, sich selbst an die Spitze seines ungeduldigen Volkes gestellt und zum Widerstand gegen Napoleon aufgerufen, und so begannen die Befreiungskriege.

Bleibt eingedenk der Güter, die unsere Vorfahren blutig erkämpften: Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft. Welche Opfer auch vom Einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, weil ehrlos der Preuße und Deutsche nicht zu leben vermag. Allein, wir dürfen mit Zuversicht vertrauen: Gott und unser fester Wille werden unserer gerechten Sache den Sieg verleihen, und mit dem Sieg einen sicheren Frieden und die Wiederkehr einer glücklichen Zeit!

Und genauso kam es. König Friedrich Wilhelm III. hat Johann Ludwig Yorck als Graf Yorck von Wartenburg in den Grafenstand erhoben und ihm die säkularisierte Johanniter-Kommende Klein Oels im niederschlesischen Landkreis Ohlau als Dotation übergeben, wo Peter und seine neun Geschwister geboren sind.

»Und das bedeutet Verpflichtung.« Der Vater hat an diesem Ostersamstag im Jahre des Herrn 1923 alle seine anwesenden Kinder im Gartensaal von Klein Oels zur abendlichen Runde um sich versammelt, beinahe so, wie es vor dem Kriege Brauch gewesen ist. »Eine hohe Verpflichtung: Das ist unser Erbe. Diese unsere friedselige Zeit mag einfältig von einem unblutigen Wettbewerb der Nationen träumen, aber Deutschland wird nur dann seinen Platz behaupten, wenn wir entschlossen sind, alles an alles zu setzen, und uns beseelen lassen vom Geist der alten preußischen Tradition, wie er in Yorck und seinen Tapferen lebendig war. Denn die Freiheit im deutschen Sinne besteht nicht in einer Selbstregierung durch die Masse. Sie besteht in der Idee der Bildung und in der persönlichen und politischen Pflicht.«

Peter sitzt auf seinem angestammten Platz auf der Bank unter dem Gemälde von Onkel Leopold von Kalckreuth. Seine jüngste Schwester lehnt sich an ihn. Die neunjährige Irene, Muto genannt: Sie flüstert dem geliebten Bruder ins Ohr. »Hat Davy nicht schön gesungen?«

Die zweitälteste der Schwestern hat etwas früher am Abend eine Mozart-Arie vorgetragen.

»Weißt du, dass Davy sich verliebt hat? Er heißt Hans Adolf von Moltke. Sie redet die ganze Zeit nur immer von ihm. Pass auf, sie wird ihn noch heiraten. Du wirst es sehen.«

1923, Köln

»Keinesfalls schicken wir den Jungen auf diese Schule zurück.« Im Hause Deichmann hat die Mutter den Familienrat einberufen.

»Aber es klang alles so schön und vertrauenerweckend! Landerziehungsheim Schondorf, Erziehung des Einzelnen durch die Gemeinschaft, für die Gemeinschaft. Und dann die zauberhafte Gegend rund um den Ammersee. Wer hätte sich solche Zustände ausmalen können?«

Der Bankier Carl Theodor Deichmann, tief in seinem Lehnstuhl, deutlich älter als seine Frau, wendet sich seinem ältesten Sohn zu. »Nun, Carl. Und du kannst guten Gewissens jede Schuld an den Vorkommnissen von dir weisen? Du bestehst darauf, dass Moltke die Vorfälle nicht selbst provoziert hat?«

»Aber Papa, natürlich. Helmuth Moltke war ja sogar unser Klassenvertreter im Schülerrat. Aber er hat den andern eben nicht nach dem Munde geredet. Er hat gesagt, der gefeierte Schondorfer Landheimgeist wäre nichts als eine Sense, die alles wegmäht, was hervorragend ist. Er hat gesagt, man sollte so handeln, wie man selbst es als richtig erkannt hat, und sich unter das Urteil der Gemeinschaft zu ducken wäre nichts als persönliche Feigheit. Anfangs wusste ich nicht, ob ich seiner Meinung bin, aber dann hat die Schülerversammlung selbst bewiesen, dass Moltke recht hatte. Die haben ihn nämlich in Verschiss getan. Zwei Wochen lang sollte keiner mit ihm reden. Die meisten haben sich auch daran gehalten, aber nicht etwa, weil sie es richtig fanden, sondern nur aus Angst, dass es ihnen sonst genauso ergehen könnte. Das hat mir nicht gefallen und auch einigen anderen nicht. Also haben wir weiter mit Moltke geredet.«

Freya sitzt vorgebeugt, das Kinn in die Hände gestützt. Sie betrachtet ihren Bruder.

»Und dann«, sagt sie, »sind sie zu euch ins Zimmer gekommen und haben euch verhauen. Und ihr habt euch nicht gewehrt.«

»Genau. Wir waren ja nur zehn, gegen alle anderen. Moltke meinte deswegen, wir sollten uns nicht wehren, nur dann würde unsere Unschuld offenbar. Und er hatte recht. Moltke ist das Trommelfell gerissen, das Ohr hat sich entzündet, und wir durften alle zusammen in ein eigenes Haus ziehen, zu einem sehr netten Lehrer, wo wir selber kochen konnten und unter uns geblieben sind. Die anderen haben wir nur noch zu den Schulstunden gesehen. Aber wenn wir uns mit denen geprügelt hätten, wären wir nur alle zusammen bestraft worden.«

»Also du siehst«, sagt Ada Deichmann zu ihrem Mann, »es ist undenkbar, den Jungen zurückzuschicken.«

»Moltke geht natürlich auch nicht mehr hin«, sagt Carl. »Ich glaube, er wollte überhaupt niemals dort sein. Ich glaube, er hatte Heimweh. Er wollte nicht in Schondorf sein, und deswegen hat er von Anfang an gesehen, wie es wirklich ist.«

»Dann ist er jetzt sicher froh, dass er wieder zu Hause ist«, sagt Freya. »Wo wohnt er denn überhaupt?«

»In einem Schloss in Schlesien. Kreisau, so heißt es.«

Freya lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Sie streicht sich das Haar aus der Stirn. »Kreisau«, sagt sie.

1926, Kyritz/Ostprignitz

»Dieser Graf«, sagt die Mutter zur Tochter. »Nein, ich weiß, was du sagen willst, Lotte, und er ist auch durchaus – nennen wir es bemerkenswert. Und dass er sich auf allerlei politischen Zusammenkünften zeigt und sich sogar mit Kommunisten abgibt, darüber mögen sich andere den Mund zerreißen. Aber er ist sieben Jahre älter als du. Und dann diese Läufe, die er jeden Morgen veranstaltet, quer durch die Gemeinde, bekleidet mit nichts als einer Badehose. Lotte, hör auf zu lachen. Du bist erst sechzehn. Graf Schulenburg ist nicht der richtige Umgang für dich.«

Lotte lacht laut heraus. Charlotte Kotelmann, rothaarig, löwenmähnig, üppig, entschlossen: Der Direktor des Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasiums hat ihr auch schon ins Gewissen geredet. Was denkt sie sich dabei, stundenlang mit dem Grafen auf dem Seesteg zu sitzen?

Charlottes Augen sind weit geworden. Etwas denken? Auf dem Seesteg? Was denn, um Himmels willen?

Kennengelernt hat sie den Grafen auf dem Tennisplatz. Und gestern Nachmittag haben sie einmal mehr das gemischte Doppel gewonnen.

Das war sehr gut, hat der Graf gesagt. Sie haben sich ganz hervorragend geschlagen.

Charlotte hat abgewehrt. Nicht ihr war der Sieg zu verdanken, sondern ihm: Graf Schulenburg spielt besser Tennis als Charlotte. Er spielt besser als jeder Mensch, den Charlotte kennt. Der Graf hat sein Lob aber ernst gemeint. Er meint immer alles ernst, er macht keine belanglosen Komplimente.

Wer von uns beiden besser spielt, ist ganz ohne Belang, hat er gesagt. Es wäre nur von Bedeutung, wenn wir gegeneinander spielen würden. Aber das tun wir keinesfalls. Wir spielen immer zusammen gegen die anderen, und dann summieren sich unsere Kräfte.

Sein altersklappriges Rad hatte einen Platten, also schoben sie beide ihre Räder zum See.

»Und da sitzt ihr auf dem Holzsteg und redet«, sagt die Schwester. »Was redet ihr nur die ganze Zeit?«

»Meistens über Bücher«, sagt Charlotte. »Wir können endlos über Bücher reden.«

Weshalb sie jetzt auch weiß, was sie mit ihrem Leben tun will. Charlotte Kotelmann wird Germanistik studieren. Sie hat es dem Grafen gestern gesagt. Er hat anerkennend genickt: Hervorragend. Ja, das wäre genau richtig für Sie.

Sie hat gesagt: Und dann werde ich Kinder bekommen.

Er hat gelacht, voll plötzlicher Freude. Der Graf lacht selten und immer nur kurz, aber wenn, dann ist es sehr schön: als würde sich ein Vorhang heben, und für einen kurzen Moment flutete Lichtschein hinaus auf den dunklen Hof der Welt.

So machen Sie es, hat er gesagt. Sie studieren Germanistik, und dann bekommen Sie viele Kinder. Ich bin sicher, es werden sehr schöne Kinder werden. Und alle mit einem guten, freundlichen Herzen.

1927, Hohwacht

»Was für ein zäher kleiner Kämpfer du bist.« Dr. Julius Leber, Reichstagsabgeordneter der SPD, Mitglied der Lübecker Bürgerschaft und Chefredakteur des ›Lübecker Volksboten‹, hält Annedore Rosenthal im Arm, die streng deutschnational und katholisch erzogene Tochter des Direktors des humanistischen Gymnasiums Katharineum zu Lübeck. »Was für ein tapferer kleiner Schmetterlingsjunge. Wer hätte das gedacht? Erst hat er die Schneiderlehre durchgesetzt, anstatt wie befohlen Jura zu studieren. Und nun hat sich der Saulus auch noch zum Paulus gewandelt.«

Annedore ist letzte Woche in die SPD eingetreten. Sie ist dreiundzwanzig. Julius ist sechsunddreißig. Erst durch ihn hat sie begriffen, wie privilegiert sie aufgewachsen ist. Annedore ist mit Privatunterricht auf das Abitur vorbereitet worden, für das Julius so hart hat kämpfen müssen. Ihr Herz wendet sich um, wenn sie an den Jungen denkt, an das Kind mit leerem Magen, todmüde von der Arbeit, heruntergeputzt von kleingeistigen Lehrkräften. Aber der Mann hat nichts Bemitleidenswertes. Er ist stark und schön, mit vollem Mund, geraden Brauen, einer strahlenden Vision von einer besseren Welt.

»Mein Paulus. So ein hübscher Frischbekehrter bist du.«

An ihrer Wange reibt der raue Stoff seines Jacketts. Sie fühlt den Strom, der von ihm ausgeht: seine Vitalität, seine Stärke, seine Verletzlichkeit, sodass sie ihn mütterlich schützen und umfangen möchte, diesen schweren kraftvollen Mann, während sie sich an ihn schmiegt. Sie stehen am Strand der Ostsee, in Hohwacht, wo sie zwei heimliche Tage verbringen: Annedores Vater ist aufs äußerste empört über dies illegitime Liebesverhältnis seiner Tochter mit einem kulturlosen Bauern, dreizehn Jahre älter als sie und ohne ein Wort Latein, dafür aber mit einem unehelichen Bankert, wie man munkelt.

Und sollte es Annedore verblüffen, dass vor ihr schon andere Frauen Julius Leber erlegen sind? Das Kind hat er unumwunden gestanden. Es entstammt einer flüchtigen, längst beendeten Beziehung, Jüli bezahlt Unterhalt, weitere Kontakte existieren nicht, was kümmert die Angelegenheit Annedore? Jüli: So nennt sie ihn, mit der französischen Aussprache anspielend auf seine elsässische Herkunft.

»Mein Junge. Was hältst du davon, wenn wir beide heiraten würden? Wir würden doch gut zueinander passen. So ein hübscher Schmetterlingsjunge, der ganz fest an meiner Seite steht.« Er schiebt sie ein wenig von sich, sucht ihren Blick. »Mein Paulus. Sag es.«

»Ja.« Sie muss weinen.

Sie heiraten am 21. November 1927.

März 1928, Löwenberg, Niederschlesien

»Und Sie sind also mit diesem Flugzeug hierher geflogen!« Eugen Rosenstock-Huessy, Professor der Rechtsgeschichte an der Breslauer Universität, umrundet staunend die Klemm 25: das kleine Sportflugzeug aus Spanholz und Seide, mit dem Adolf Reichwein soeben auf der Wiese neben dem Boberhaus gelandet ist.

Edolf, wie ihn seine Freunde seit seiner Weltreise nennen, Äidolf, mit englischer Aussprache: Das Flugzeug hat er nach dem Tod seines Kindes angeschafft. Der Zweijährige ist beim Spielen ertrunken. Die Scheidung von dessen Mutter ist gerade rechtskräftig geworden. Edolf Reichwein, der die Lederschnallen der Kappe löst, aus dem Cockpit klettert, wägt ab, welcher Teil dieser Geschichte hier erzählt werden sollte. Wenn überhaupt. Lächelnd sagt er: »Das Fliegen passt doch recht gut zu unserer Veranstaltung. Es veranschaulicht wie wenig sonst die veränderten Distanzen heutzutage, wo die wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge noch das entfernteste Ereignis sozusagen vor die eigene Haustür rücken.«

»Eine Erkenntnis, die Ihre Reise zweifellos vertieft hat«, sagt Rosenstock-Huessy.

Von 1926 bis 1927 ist Reichwein über England nach Amerika gereist, dann quer durch den Kontinent von New York nach Seattle und durch Kanada nach Alaska gefahren, als Matrose auf einem Frachtschiff ist er nach Japan, China, auf die Philippinen und wieder zurück nach Amerika gelangt, und schließlich ist er der kalifornischen Küste bis hinunter nach Mexiko gefolgt.

»In der Tat hat die Reise mir anschaulichst vor Augen geführt, dass man sich nicht mehr verschanzen kann«, sagt er. »Nicht in seinem Haus, nicht in seinem Land. Alles ist global, wie die Angelsachsen sagen. Natürlich liegen darin aufregende Chancen ebenso wie große Gefahren.«

»Ich nehme an, Sie werden diese Themen in den nächsten Tagen auch unseren jungen Leuten hier unterbreiten?«

»Unbedingt. Ich wollte ja vor allem meine weltwirtschaftlichen Studien vertiefen, weshalb die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft mir die Sache überhaupt ermöglicht hat. Ich freue mich nun sehr über die Möglichkeit, gewisse Erkenntnisse weiterzugeben, und eben nicht nur die, die sich für die Schriftform eignen.«

Edolf Reichwein hat nach seiner Rückkehr erneut die Leitung der Volkshochschule Jena und des von ihm gegründeten Jungarbeiterwohnheims am Beuthenberg übernommen, in dem er zusammen mit einem Dutzend junger Arbeiter lebt. Rosenstock, ein Mitstreiter in der Volkshochschulbewegung, hat ihn eingeladen, am Ersten Löwenberger Arbeitslager teilzunehmen.

»Die ganze Unternehmung geht im Wesentlichen auf eine Initiative eines meiner Studenten zurück«, sagt er. »Graf Moltke. Ein bemerkenswerter Träger des alten Namens. Er ist vor ein paar Tagen erst volljährig geworden. Im Moment halten ihn seine juristischen Studien noch in Breslau fest, aber er wird im Laufe der nächsten Tage noch zu uns stoßen. In den Osterferien letztes Jahr hat er im Landratsamt von Waldenburg gearbeitet, mitten im schlesischen Bergbaugebiet, und war tief erschüttert vom Ausmaß der dortigen Verelendung. Deshalb hat er sich an mich gewandt, zusammen mit zwei meiner Studenten – ah, Einsiedel. Da sind Sie ja.«

»Die Waldenburger Kohle kann eben nicht mit der qualitativ besseren Kohle Oberschlesiens konkurrieren«, sagt Horst von Einsiedel zu Edolf Reichwein. »Aber Moltke sagt sehr richtig, man könne hier doch nicht auf Ursachen und Wirkungen verweisen, so als würden wirtschaftliche Entwicklungen von Naturgesetzen geregelt und nicht von Menschen. Um die obersten Reichsstellen zu einer direkten Hilfsaktion zu zwingen, hat er deutsche und ausländische Journalisten nach Waldenburg eingeladen, eine amerikanische Korrespondentin namens Dorothy Thompson, Edgar Mowrer von der ›Chicago Daily News‹. Es kommen ja alle, wenn Moltke ruft. Sein Name öffnet ihm alle Türen. Sogar den Kaiser hat er mal besucht, und er hat mit zwei Hohenzollernprinzen Abitur gemacht.«

»Bildet er sich etwas darauf ein?«

»Moltke? Absolut nicht. Eher denkt er wohl, die anderen hätten Grund, mit ihm anzugeben. Ich war am Anfang auch etwas überbeeindruckt. Ich kenne ihn ja erst seit letztem Jahr, durch seinen Vetter Carl Dietrich von Trotha, der mit mir zur Akademischen Freischar gehört.«

»Wir glauben, dass man die wirtschaftlichen zusammen mit den gesellschaftlichen und politischen Wurzeln der Misere zu packen suchen muss«, sagt Trotha. »Deswegen haben wir eine große Tagung einberufen. Helmuth Moltke hatte die geniale Idee, jeweils die gegnerische Seite sollte Mitstreiter vorschlagen, die geeignet sein könnten, also Katholiken die Protestanten und Gewerkschaftsführer die für uns brauchbaren Industriellen. Am Ende sind siebzig Vertreter von Industrie, Gewerkschaften, Kirchen und Staatsverwaltung unserer Einladung gefolgt. Gewerkschaftssekretäre, Fabrikanten, Lehrer, Pfarrer, Gutsbesitzer.«

»Ein Kuratorium wird jetzt die Waldenburger Probleme angehen«, sagt Rosenstock. »Reichspräsident von Hindenburg und Innenminister Severing haben ihren Besuch bereits zugesagt. Zugleich ist bei den Besprechungen die Idee dieses Arbeitslagers entstanden. Junge Arbeiter, junge Bauern und Studenten sollen einige Wochen in einer Lebens-, Lern- und Arbeitsgemeinschaft verbringen, um über alle weltanschaulichen, sozialen und religiösen Grenzen und Gegensätze hinweg miteinander ins Gespräch zu kommen.«

»Das Ganze soll aber keinesfalls etwas Bündisches haben«, sagt Carl Dietrich von Trotha. »Das hat Moltke uns noch einmal extra ans Herz gelegt. Bloß keine Lagerfeuerromantik, die die real vorhandenen Gegensätze überbrückt. Im Gegenteil müssen wir die weltanschaulichen und parteipolitischen Differenzen möglichst scharf herausarbeiten, vor allem die einander widersprechenden Klasseninteressen. Die sind es ja, die so oft notwendige Maßnahmen verhindern.«

»Unbedingt«, sagt Reichwein. »Aber zugleich gilt es, die menschlichen Voraussetzungen für eine sachliche Arbeit zu schaffen, damit man auch bei widerstreitenden Standpunkten das Gespräch nicht abbricht, weil man dem anderen unterstellt, aus moralischer Verworfenheit anderer Meinung zu sein.«

Es wird jedenfalls kein Erholungsaufenthalt: Wecken um halb sieben, schweigend zu absolvierender Waldlauf, ein halbstündiger Vortrag Rosenstocks zu einem historisch-gesellschaftlichen Thema, dann erst das Frühstück. Anschließend Arbeitsdienst, gegen angemessene Bezahlung natürlich: Hausdienst, Brennholz hacken auf dem Hof der Landesirrenanstalt in Plagwitz, Instandsetzung eines verfallenen Gutshofs. Nachmittags wird Reichwein über Fragen der Weltwirtschaft referieren. In den anschließenden Aussprachegruppen sollen hinter den individuellen Geschichten die unterschiedlichen Lebenshorizonte erkennbar werden. Allgemeine gesellschaftliche Fragestellungen werden sich herausschälen, Kategorien, anhand derer es sich über die Zukunft nachdenken lässt.

»Und zwar geht es um die Zukunft eures Landes und um eure eigene«, sagt Edolf Reichwein. »Für beide muss man sich etwas abverlangen, und das durchaus mit aller gebotenen Härte. Voraussetzung eines inhaltsvollen Lebens ist die selbsterzieherische Tat.«

1928, Berlin

»Es würde mich wirklich freuen«, sagt Peter Graf Yorck von Wartenburg zu Marion Winter, »wenn Sie zur Herbstjagd nach Klein Oels kommen würden. Ich selbst jage nicht, aber wir wahren das Andenken meines Vaters. Viele Gäste werden erwartet, sicher auch die Köckritze von Schloss Mondschütz.«

Dort haben sie einander im April kennengelernt. Peter, der Marion als Tischherr zugeteilt war, hatte sich verspätet: Er war trotz des Sturms mit dem Motorrad von Breslau herübergekommen.

Der Arme ist so nass wie ein Fisch!, rief Margarete von Köckritz. Aber gedulden wir uns noch einen Moment. Unter seiner ledernen Rüstung ist unser junger Ritter gewiss präsentabel.

Dann trat er heran, der Held des Abends, lang, mager, fast schlaksig, und von einer scheuen Sprödigkeit, die Marion zuerst für Hochmut hielt. Aber es war nur Zurückhaltung, die rasch verschwand. Sie haben den ganzen Abend miteinander getanzt. Sie sind den ganzen folgenden Tag miteinander spazieren gegangen, immer am Wassergraben von Schloss Mondschütz entlang, versunken in einem ununterbrochenen Gespräch, bis nichts mehr zu existieren schien als dieser eine Mann, das tiefe Gespräch mit diesem Mann.

Wieder daheim, wieder Teil ihres wahren Berliner Lebens, war sie entschlossen, ihn nicht wiederzusehen. Für solche Vereinnahmung hatte sie keine Zeit. Am Dienstag war eine Tanzerei bei Stresemanns, für die Mutter ihr aus einem ihrer eigenen Ballgewänder ein Kleid aus Seidentaft hatte schneidern lassen. Am Freitag war im Schauspielhaus Premiere, für die der Vater als Generalverwaltungsdirektor der Staatlichen Bühnen Berlins selbstverständlich Karten bereithielt. Marion würde Klaus Curtius mitnehmen, den Sohn des Reichswirtschaftsministers, der nichts von ihr erwartete, er war nur ein Kommilitone, der ebenso wie Marion Jura studierte, er war nicht wie Peter Yorck, der – was war es, das Peter Yorck erwartete?

Peter rief an. Was konnte sie sagen, ohne unhöflich zu sein? Er kam zu einem einmaligen Besuch. Kam danach wieder, kam regelmäßig, kommt längst bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und sie sieht diesen Besuchen voll Vorfreude entgegen. Warum also sollte sie seine Einladung nach Klein Oels ausschlagen?

»Eigentlich müsste mein Bruder Paul diese Jagd ausrichten«, sagt Peter. »Bia. Nach dem Tod meines Vaters vor zwei Jahren hat er die Verwaltung von Klein Oels übernommen. Aber – nun ja, er verfolgt offensichtlich andere Interessen. Es ist meiner Mutter ein Schmerz. Aber wenn Sie kämen, würden sich alle freuen. Meine Geschwister sind schon sehr gespannt auf Sie.«

Die Jagd ist vorüber. Die Gäste haben sich im Gartensaal versammelt. Die Türen zur Rosenterrasse sind geöffnet. Die Abendluft flutet in duftenden Wellen herein, so warm, als käme die Sonne der Erde hier näher als in Berlin. Im Licht ihrer letzten Strahlen erglüht ein riesiger Dahlienstrauß.

»Und wie gefällt es Ihnen hier im Osten des Reichs, Fräulein Winter?«

Einer der von Kattes ist an Marion herangetreten, mit dieser Frage, die ihr von allen Seiten entgegenschallt. Was kann sie antworten? Es ist natürlich überwältigend.

»Dies weite Land. Die Rübenfelder bis zum Horizont, der Rohrwald. Die Rudel der hechelnden Hunde, wie sie sich heute vor der Jagd in die Ackerfurchen duckten. Alles kommt mir fast wild vor, ganz ungezähmt im Vergleich mit daheim.«

Zustimmendes Lachen von allen Seiten.

»Allerdings fehlt es uns an den Zerstreuungen der Hauptstadt«, sagt Davy. »Was wird denn zurzeit auf den Berliner Bühnen gegeben?«

Eine Höflichkeitsfrage. Man folgt hier auf den großen Gütern den kulturellen Entwicklungen in der Hauptstadt sehr genau. Aber der Kreis der Geschwister hat Marion vom Moment ihrer Ankunft an in seine Mitte gezogen. Püzze, Davy, Nina, Doro, Heinrich, Renate, Hannusch, Muto: Man hat sich für ihr Jurastudium interessiert, gemeinsame Bekannte entdeckt, Marion zum Mitwisser erster Familieninterna gemacht und hundert weitere seidene Bande ausgespannt, die sie auf die sanfteste Art zu fesseln beginnen.

»Und Sie, Davy, was hören Sie von Ihrem Mann aus Genf?«, sagt einer der Köckritze. »Hans-Adolf nimmt doch sicher an der Konferenz des Völkerbundes teil. Was sagt er denn zu Briands Rede?«

Davida Yorck ist seit zwei Jahren mit Botschaftsrat Hans-Adolf von Moltke verheiratet. Sie leben nicht weit von Klein Oels, in Wernersdorf, einem zu Schloss Kreisau gehörenden Pachtgut. Im Zentrum des Gartensaals hat die alte Gräfin nun den Arm ihres Sohnes Hannusch ergriffen, unter fröhlichem Geplauder formieren sich die Gäste, um zu Tisch zu schreiten, Marion schiebt ihre Hand unter Peters Arm. Sie spürt seine Nähe, die Wärme seines Körpers. Aber noch stehen sie in den Anfängen. Noch ist nichts, gar nichts entschieden.

März 1929, Kreisau

»Und sind die Würfel jetzt gefallen, Helmuth? Gehst du tatsächlich nach Amerika?«

Carl Dietrich Trotha ist in Kreisau vorbeigekommen, nach seinem wohlverdienten Skiurlaub im Riesengebirge, um dem Vetter vom Verlauf des Zweiten Löwenberger Arbeitslagers zu berichten.

»Vor dem du dich mit gutem Grund gedrückt hast. Wer juristische Prüfungen pinselt, kann nicht Kartoffeln schälen. Na, gratuliere zum bestandenen Examen. Rosenstock, Einsiedel und ich haben die Sache ganz gut über die Bühne gebracht. Hast du denn schon Schiffskarten?«

»Vor allem braucht er neue Anzüge«, sagt Helmuths Mutter Dorothy. »Wir müssen jemanden auftreiben, der ihm welche kauft. Drüben kostet ein Anzug das Dreifache, und die ›New York Evening News‹ zahlt ihm zu Anfang nur dreißig Dollar die Woche. Aber als Journalist kann man doch eine Menge bewegen. Helmuths Aufsatz im ›Survey‹ über die Stimmung der deutschen Jugend ist sehr gut angekommen. Wenn er jetzt die Sache von der Pieke auf lernt – «

»Ja, Mami«, sagt Helmuth Moltke. »Und ich bleibe schließlich nicht für ewig ein Lehrling. Ich werde schon zurechtkommen, auch mit beschränkten Mitteln, zumal ich keinesfalls zu heiraten gedenke.«

Zudem kann es im Leben doch nicht vorrangig darum gehen, die eigene Subsistenz zu sichern. Schon gar nicht kommt es in Frage, sich um Rang und Aufstieg zu bemühen. Solcherart selbstische Antriebe müssen doch zwangsläufig auf jede Tätigkeit sinnentleerend wirken. So ein Leben kommt einfach nicht in Frage. Sinn verleihen könnte ausschließlich eine Anstrengung, von deren Früchten man nicht selbst satt zu werden gedenkt.

Aber was könnte das sein? Welchen Beitrag könnte Helmuth James Graf von Moltke leisten, um die Welt zu verbessern? Und was, wenn die Welt gar nicht wünscht, von ihm verbessert zu werden? Denn man kann sich leicht sagen, tu dies oder das, es ist das Richtige, und du selbst hast nichts als Mühe und Plage davon. Aber was, wenn man am Ende für nichts und wieder nichts so und so viele Jahre auf dieser Erde herumgelaufen ist? Sollte man nicht besser gleich in einer Ecke sitzen bleiben und sein Leben lang lesen?