Über das Buch

Nach einem schweren Autounfall erwacht Maja Kohlbeck unverletzt in einem Leichensack. Getrieben von der Warnung ihrer Mutter, niemandem zu vertrauen, flieht sie aus der Pathologie des Krankenhauses zu einem Freund. Während die Öffentlichkeit über den Unfall und den Verbleib von Majas Leiche spekuliert, sucht Maja selbst nach Antworten. Niemals hätte ihre Mutter sich das Leben genommen und sie dabei in tödliche Gefahr gebracht - oder hätte sie das?
Und welche Rolle spielt Efrail Rosendahl, der Fremde, der sein Leben riskiert hat, um sie aus dem Wagen zu retten.
Bevor Maja herausfinden kann, was mit ihrer Mutter passiert ist, ereignet sich plötzlich eine verheerende Naturkatastrophe nach der anderen. Und Maja gerät mitten hinein in einen Strudel aus Lügen, Intrigen und Machtkämpfen, dessen Folgen fatale Ausmaße annehmen.

 

 

 

 

Für die Menschen, die verstehen, dass nur ein Teil dieser Geschichte Fiktion ist.

(Und auch ein bisschen für Harry Styles.)

Über Anne Freytag

Anne Freytag hat International Management studiert und als Grafikdesignerin gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete.

Für ihre Romane wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet — unter anderem mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur. Mit »Aus schwarzem Wasser« legt sie ihren ersten Thriller vor. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.

SAUL BERNHEIMER, RADISSON BLU HOTEL, ZIMMER 4128, KARL-LIEBKNECHT-STR. 3, 10178 BERLIN

»Und Sie sind sich absolut sicher«, sagt die Präsidentin.

Saul nickt.

»Es ist nicht nur Hörensagen?«

»Wenn es so wäre, hätte ich Sie wohl kaum gebeten herzukommen. Der Erreger ist scharf. Und er hat verheerende Auswirkungen.«

Die Präsidentin geht vor dem Fenster nervös auf und ab. Der Teppichboden verschluckt ihre Schritte, im Hintergrund das leuchtend blaue Wasser des Aquariums. Saul liebt diesen Ausblick, es ist wie ein Stück Zuhause.

»Wir müssen dieses Virus aufhalten«, sagt die Präsidentin leise, »wir müssen irgendwas tun.«

»Wir tun alles, was wir können«, erwidert Saul.

»Das ist nicht genug«, sagt sie ernst. »Wie konnten Sie das nur zulassen?«

»Bei allem nötigen Respekt«, sagt Saul. »Die Frage lautet wohl eher, wie konnten Sie das zulassen?«

»Ich?«, fragt sie.

Saul seufzt. »Ich habe Sie bereits vor Monaten vor dieser Situation gewarnt. Es war genau hier in diesem Hotelzimmer. Erinnern Sie sich? Sie sagten, ich sei …«, er macht eine nachdenkliche Pause, »ich glaube, es war melodramatisch

»Da wusste ich auch noch nicht, wie bösartig dieser Erreger ist.«

»Blödsinn«, antwortet Saul, »ich würde sagen, der Name Marin Extinction Virus war deutlich genug. Und behaupten Sie jetzt bloß nicht, ich hätte Ihnen nicht gesagt, wofür MEV steht, denn das habe ich. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Unterhaltung.«

»Tja«, sagt sie, »ich mich leider nicht.«

»Dann lassen Sie mich Ihre Erinnerung etwas auffrischen«, entgegnet Saul. »Sie sagten: ›Dieser verdammte Kalte Krieg geht doch nun schon ewig. Was ist jetzt so anders?‹ Nicht ganz Ihr Wortlaut, ja, aber das war der Inhalt. Woraufhin ich sagte, dass der Fokus der Gegenseite sich stark verschoben habe. Dass bis dato deren Bestreben überwiegend darin bestand, an unser Wissen zu kommen. Dass sie versucht haben, unsere Server zu hacken, unsere Elite-Wächter zu verhören, sie umzudrehen und zu brechen.« Saul lehnt sich an die Wand neben dem Bett und verschränkt die Finger. »Und dann habe ich Ihnen gesagt, dass sie das alles nun nicht mehr tun. Dass sie kein Interesse an einer Lösung haben. Und erst recht nicht an Frieden. Erinnern Sie sich? Sie haben gefragt, was sie dann wollen, und ich habe geantwortet: ›Ganz einfach, uns vernichten.‹ Daran müssen Sie sich erinnern, Sie waren so schockiert.«

»Kommen Sie zum Punkt, Saul.«

»Sie haben die Sache nicht ernst genommen. Monatelang. Fast ein Jahr.« Er sieht sie an, ein durchdringender Blick. »Und jetzt, wo die Kacke am Dampfen ist, tun Sie so, als hätten Sie keine Ahnung gehabt.« Saul schüttelt den Kopf. »Aber damit kommen Sie nicht durch, das können Sie vergessen.«

»Sie sagten etwas von einem Plan? Ich bin ganz Ohr.«

Das passt, denkt Saul. Mächtig sein wollen sie alle, aber sich bitte nicht die Finger dabei schmutzig machen.

»Haben Sie nun einen oder haben Sie keinen?«, fragt sie ungeduldig. Sie hält sich mit einer Hand an der Rückenlehne des roten Stuhls fest, der neben ihr steht. »Wenn nämlich nicht, dann …«

»Natürlich habe ich einen«, fällt er ihr ins Wort. »Wir ziehen uns zurück.«

»Wir ziehen uns zurück? Das ist Ihr Plan?«

Sie lässt die Lehne los und macht zwei Schritte auf ihn zu.

»Ja«, sagt Saul. »Wir löschen jeden aus, der von unserer Existenz weiß, jeden Einzelnen von ihnen. Wir beseitigen alle Dokumente, alle Dateien, alle Akten, kurz: alles, was belegt, dass es uns gibt. Wir vernichten die ISA, ihre Server und Back-up-Systeme. Und dann gehen wir nach Hause.«

»Und dann gehen wir nach Hause?«, fragt sie.

»Ganz genau.«

Die Präsidentin sieht ihn an. Ihr Gesicht wie eine Maske, der Ausdruck blank.

»Entschuldigen Sie bitte, Saul, aber sagten Sie nicht immer, wir seien den Menschen überlegen?«

»Das sind wir auch.«

»Und dann ziehen wir uns zurück und verstecken uns vor ihnen?«

»So würde ich es nicht unbedingt ausdrücken, aber ja, wenn Sie so wollen, dann tun wir genau das.«

»Wie würden Sie es denn ausdrücken?«, fragt die Präsidentin.

Saul denkt einen Moment darüber nach, dann entgegnet er: »Ich würde sagen, wir überleben.«

»Aber das tun wir nicht«, widerspricht sie. »Sie werden das Virus freisetzen, das haben Sie selbst gesagt. Und es gibt kein Gegenmittel.«

»Ich bin überzeugt davon, dass es eins gibt«, sagt Saul.

Die Präsidentin runzelt die Stirn. »Wie kommen Sie darauf?«

»Maja Kohlbeck. Einiges deutet darauf hin, dass sie eine Mischform ist. Halb Mensch, halb Marin. Ihre Mutter wird alles tun, um sie zu schützen.«

»Eine Mischform?«, sagt die Präsidentin und schließt einen Moment lang die Augen. »Mein Gott, das hört einfach nicht auf.« Sie sagt es mehr zu sich selbst als zu ihm. Und dann an ihn gerichtet: »Ist Patricia Kohlbeck nicht diejenige, die den Erreger entwickelt hat?«

»Genau die«, sagt Saul. »Einer unserer Leute ist an ihr dran. Efrail Rosendahl. Er ist ihr Assistent.«

»War das nicht Ihr Schützling?«

Saul nickt.

»Versucht er etwa immer noch herauszufinden, was mit Ihnen passiert ist?«

»Ja«, sagt Saul. »Er ist ein überaus hartnäckiger junger Mann. Das ist auch der Grund, weswegen ich so überzeugt davon bin, dass er das Gegenmittel finden wird.«

»Nichts für ungut, Saul, aber für mich klingt das alles nicht nach einem Plan, sondern eher nach einer vagen Hoffnung.«

»Wie Sie es auch nennen wollen, Frau Präsidentin«, entgegnet Saul ruhig, »es ist mehr, als Sie vorzuweisen haben.«

Sie mustert ihn abfällig. »Ihr Tonfall gefällt mir nicht«, sagt sie dann.

»Mein Tonfall gleicht Engelszungen im Vergleich zu dem, was Sie erwartet, wenn die Öffentlichkeit erst erfährt, wie lange Sie schon von dieser Sache wussten.«

Die Präsidentin sieht ihn eindringlich an, ein langer, eisiger Blick. »Wollen Sie mir drohen?«, fragt sie. Im Hintergrund schwimmen die Fische.

»Keineswegs«, erwidert Saul. »Ich bin nur hier, um Ihnen zu dienen.«

Sein Sarkasmus ist ihr nicht entgangen, das ist offensichtlich, doch sie geht nicht darauf ein, stattdessen sagt sie: »Sie meinten eben, Sie wollen sie alle auslöschen. Alle, die von uns wissen, und alles, was auf unsere Existenz hinweist.«

»So ist es.«

»Und wie bitte wollen Sie das anstellen?«

»Indem ich meine Beziehungen spielen lasse.«

»Sie sprechen von dem Zirkel?«

»Sie nennen sich selbst Der Rat, aber, ja«, sagt Saul.

»Richtig«, antwortet die Präsidentin. »Der Rat. Waren das nicht die mit dem Neustart? Die ›Der Kapitalismus ist gescheitert, Überbevölkerung, Knappheit der Ressourcen, alles hängt zusammen‹?«

»Genau die. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, das System zu stürzen. Die Weltbevölkerung zu halbieren, neu anzufangen.«

»Durch Massenmord.«

Saul zuckt mit den Schultern. »Sie kennen das ja, der Zweck heiligt die Mittel.«

Die Präsidentin seufzt. »Wissen die von uns?«

»Selbstverständlich tun sie das. Die wissen alles.« Pause. »Na ja, fast alles.«

»Dann haben sie also auch Kenntnis von dem Virus.«

Saul nickt. »Ja. Und auch davon, dass er freigesetzt werden soll. Aber was sie nicht wissen«, fährt Saul fort, »und das ist viel interessanter, ist, dass ich zur Gegenseite gehöre. Sie denken, ich bin einer von ihnen. Sie vertrauen mir.« Er lacht auf. »Ironisch, nicht wahr? Sie glauben, dass ich ihnen helfe. Dass ihre Ziele meine Ziele sind. Und genau das werde ich nutzen.«

»Wie?«, fragt die Präsidentin.

»Indem ich sie mit Fehlinformationen füttere«, sagt Saul. »Ich gebe ihnen die falschen Namen. Sie werden die Leute ausschalten. Und wir kümmern uns um den Rest.« Saul macht einen Schritt in Richtung Fenster. »Wenn wir jeden verfügbaren Wächter und Elite-Wächter zur selben Zeit hochschicken, können wir es schaffen.«

Die Präsidentin massiert sich die Schläfen. »Das ist Wahnsinn.«

»Kann sein. Aber immer noch besser als die Alternative.«

Ein paar Sekunden ist es still, dann fragt sie: »Und was ist Ihr Teil des Deals? Was haben Sie denen als Gegenleistung versprochen?«

»Janus«, erwidert Saul.

Die Präsidentin starrt ihn an. Fassungslos. »Das ist nicht Ihr Ernst«, sagt sie.

Saul antwortet nicht.

»Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Janus für Ausmaße hat?«

»Aber ja, ich war maßgeblich an der Planung dieser Operation beteiligt«, sagt Saul. »Dementsprechend gut bin ich damit vertraut.«

Sie sieht ihn an und schüttelt ungläubig den Kopf. »Voraussetzung für Janus ist der Notstand.«

»Den werden Sie ohnehin bald ausrufen müssen.« Sie sieht Saul an, in ihren Augen erkennt er so etwas wie Angst. »Das ME-Virus wird kommen«, sagt er ruhig. »Und Janus ist die einzig mögliche Antwort darauf.«

Stille fällt über sie. Die Präsidentin mustert ihn, er erwidert ihren Blick. Sie wirkt müde und abgespannt.

»Wir werden das überstehen, Frau Präsidentin«, sagt Saul schließlich. »Wir bringen sie alle um. Und dann ziehen wir uns zurück.«

Die Präsidentin nickt. »Okay«, sagt sie schließlich. »Und wann wird das sein?«

»Wenn mein Plan aufgeht – und ich hoffe jetzt einfach mal, dass er das tut –, dann in ziemlich genau vier Wochen.«

»Vier Wochen«, wiederholt sie seine Worte.

»Ja, vier Wochen«, sagt er.

»Was ist mit dem Rat? Ich will keine losen Enden.«

Saul lächelt. »Es wird keine geben.«

EFRAIL, 13 RUE DES SAULES, DIE DACHTERRASSE, 10:07 UHR

»Maja ist nicht tot. Sie lebt.«

»Bullshit«, murmle ich. »Ich glaube dir kein Wort.«

»Es ist wahr«, sagt er. »Das Mittel, das wir ihr gegeben haben, führte zu einer Beschleunigung der Antikörperbildung.«

»Hör auf«, sage ich. »Halt den Mund.«

Sein Blick ändert sich im Bruchteil einer Sekunde. »Glaub mir, wenn ich sie hätte töten wollen, dann hätte ich es getan.« Er sagt es in einem Tonfall, den ich von früher kenne. Hart und ernst. »Nicht mit irgendwelchen Spritzen, ich hätte sie einfach ausgeschaltet.«

Mein Herz rast, meine Handflächen schwitzen.

»Dasselbe gilt im Übrigen auch für dich.«

»Du hast mich ausgeschaltet«, erinnere ich ihn.

»Ach ja? Und wieso bist du dann noch hier?«, fragt Saul und wischt sich mit dem Ärmel seines Hemds das Blut vom Kinn. »Hast du schon mal von jemandem gehört, der einen Ausschaltversuch überlebt hat? Also, ich nicht.«

Ich auch nicht.

Saul sieht mich an. »Diese Patches funktionieren in beide Richtungen«, sagt er. »Nach innen und nach außen. Keine Kommunikation, kein Standort-Signal und auch sonst keine Verbindung. Solange sie da kleben«, er zeigt auf seine Schläfen, »kann man weder sich selbst noch andere ausschalten.« Pause. »Und man kann nicht ausgeschaltet werden.« Der Ausdruck in seinen Augen ist streng und vertraut. »Ich wusste, dass du nicht sterben würdest.«

»Ich habe es versucht. Mich auszuschalten, meine ich. Als ich wieder zu mir kam, da wollte ich es tun. Aber es ging nicht.« Saul und ich sehen einander an. »Ich habe die Patches entfernt, und dann war ich auf einmal wieder mit dir verbunden.«

»Das war der Plan«, sagt Saul. »Ich habe meine abgenommen, damit du weißt, wo ich bin. Damit du mich finden kannst.« Ein paar Sekunden lang schweigen wir, dann irgendwann seufzt er und sagt: »Es musste so aussehen, als wärt ihr tot.«

»Warum?«, frage ich.

»Weil die Präsidentin in dieser Sache keine losen Enden will«, antwortet Saul und ich runzle die Stirn. »Ich hatte den direkten Befehl, euch zu eliminieren – und ich nehme an, dasselbe hat sie mit mir vor.«

»Besser hätte ich es nicht zusammenfassen können«, sagt eine Stimme neben uns, und wir schauen beide in Richtung Tür.

»Frau Präsidentin«, sagt Saul lächelnd. »Ich habe nicht mit Ihnen persönlich gerechnet.«

»Sie dachten, ich schicke jemanden?«

»Ja«, sagt er. »So was in der Art.«

»Ich denke, manche Dinge erledigt man am besten selbst«, sagt sie zu Saul – dann richtet sie eine Waffe auf mich und drückt ab.

ZWEIEINHALB STUNDEN SPÄTER

Du kannst niemandem trauen, sie stecken alle mit drin.

Ich öffne die Augen und da ist nichts als Schwarz. Mehr Schwarz, als ich je gesehen habe. Ein seltsam raumloses Gefühl, wie ein Universum ohne Sterne. Die Luft ist modrig feucht, sie riecht nach gekipptem Wasser und Gummi. Ich höre mich atmen, rasselnd und flach. Sonst ist da nichts, kein Geräusch, nur eine leere Stille.

Ich liege ausgestreckt auf dem Rücken, meine Schulterblätter bohren sich in harten Untergrund – Stein, vielleicht auch Metall. Ich versuche, mich zu bewegen, aber es geht nicht, taste blind um mich. Alles ist nass und kalt. Die Enge greift auf mich über, mein Mund ist trocken, es ist zu dunkel, zu schwarz, ich will mich aufsetzen und kann nicht. Mein Atem trifft auf etwas direkt vor meinem Gesicht, vor meiner Nase, vor meinem Mund. Ich fasse um mich, berühre das glatte Material, es ist dicht, die Oberfläche gibt kaum nach, ich spüre Wasser, eine Lache, in der ich liege, durchtränkte Kleidung. Meine Finger rutschen ab, wieder und wieder. Ich taste nach einer Öffnung, einem Ausweg, einem Reißverschluss, nach irgendwas. Aber es gibt keine Öffnung, keine Luft, nur Wände, überall Wände, biegsam und dicht, zu allen Seiten geschlossen. Es fühlt sich an wie ersticken, Blut rauscht in meinen Ohren, die Luft ist abgestanden und zu oft geatmet, das Schwarz pulsiert vor meinen Augen, ich bin eingeschlossen in einer undurchdringlichen Haut aus nasser Kälte. Sie frisst sich klamm in mein Fleisch, immer tiefer, bis in die Knochen. Mein Brustkorb ist eng, meine Lungen krampfen, ich winde mich, weiß nicht, ob ich schreie, schlage um mich, kann nicht mehr denken, trete und rutsche ab. Meine Muskeln verspannen sich, sie zucken, als würde jemand Strom durch meinen Körper jagen. Ich versuche ein weiteres Mal, mich aufzusetzen, kann mich nicht aufsetzen, liege wie auf einer Schlachtbank, mit trockenem Mund und trockener Kehle, sehe flirrende Sterne, während eine Kralle in meinem Rachen nach meiner Luftröhre greift und immer fester zudrückt.

Atemnot. Dunkelblaue Fetzen, vage Erinnerungen, schwerelos, schmutziges Wasser, überall Wasser, eine grünlich graue Tiefe, die mich verschluckt, das Gesicht meiner Mutter.

Dann eine Riffelung unter meinen Fingerkuppen.

Ein Reißverschluss.

Ich erstarre, blicke mit offenen Augen ins Nichts, zwinge mich, mich zu konzentrieren, suche fieberhaft die Schließe, bekomme sie nicht zu fassen. Es ist das Innenstück, klein und glatt, nicht dazu gedacht, geöffnet zu werden. Ich atme zu hastig, verschlucke mich, muss würgen, erwische endlich den Verschluss, kralle mich mit den Fingernägeln darunter, einer reißt ein bis ins Nagelbett. Meine Hände sind kalt, aber ich lasse nicht los, schaffe es schließlich, den Reißverschluss ein kleines Stück zu öffnen. Ich denke nicht daran, wo ich bin, denke nicht ans Sterben oder Totsein, bloß an den Reißverschluss, zwinge einen Finger durch das winzige Loch, höre mich keuchen und schreien, alles dreht sich.

Dann ein Lichtstrahl. Wie ein Schlag ins Gesicht. Wie ein Hoffnungsschimmer. Kurz ein ratschendes Geräusch, nur ein paar Zentimeter, Hände, die sich durch die viel zu enge Öffnung kämpfen – meine Hände. Sie umfassen das gummihafte Material, dann reißen sie den Verschluss in einem Ruck auf.

SOFIE, BORACAY, PHILIPPINEN, ZUR SELBEN ZEIT

Der Sand ist nicht sandfarben, sondern weiß. Wie Zucker unter einem großen Himmel. Sofie hat noch nie so klares Meerwasser gesehen. Es ist so klar wie Wasser aus der Leitung. Sie schaut sich um. Die Sonne geht gerade erst auf und der Strand ist fast leer. Er scheint ihnen allein zu gehören, die Weite, die Farben, das Meer. Es umspült die schroffen Felsen mit der Madonna und den Palmen, die wie eine kleine schwarze Insel vor dem Ufer liegen. Dahinter schimmert der Ozean. Es ist ein Blau, das Sofie an Maja erinnert. An ihre Augen. An diese Mischung aus Blau und Türkis.

In der Ferne kräht ein Hahn. Sofie hatte keine Ahnung, dass es auf den Philippinen so viele Hähne gibt. Der Laut passt nicht zum Bild, aber sie hat sich daran gewöhnt. An das Krähen ab vier Uhr morgens, an den Gestank von Benzin und Abwasser, an die Schlaglöcher in den buckeligen Sandstraßen, an die Tricycles und die Mittagshitze. Sie liebt es hier. Das kleine Hotel direkt am Meer, das gute Essen, die Massagen für drei Euro pro Stunde. Sofie will hier nie wieder weg. Sie will Maja anrufen und ihr sagen, dass sie ihre Sachen packen und auf der Stelle herkommen soll. Und dann bleiben sie für immer dort. Maja, Theo und sie. In einer kleinen Hütte irgendwo am Strand. Nur das Krähen der Hähne und das Rauschen der Wellen. Und dann verliebt sich Maja in einen Filipino oder einen Japaner. Und sie sind alle glücklich.

Sofie schaut lächelnd in den Himmel. Er ist so blau, dass er beinahe schwarz wirkt, sie schließt die Augen und bohrt die Füße noch tiefer in den Sand. Das Sonnenlicht dringt rötlich durch ihre Lider, die Strahlen treffen warm auf ihre Haut. Dann beginnt ein Song von Jack Johnson in der Hotelbar hinter ihr. »Seasick Dream«. Das Lied ist leicht wie der Wind, er streicht über die Wellen wie eine große Hand über ein glattes Bettlaken.

»Kommst du mit ins Wasser?«

Sofie öffnet die Augen und blickt in Theos Gesicht. Es ist unglaublich, wie braun er bereits geworden ist. Sie selbst ist fast noch so blass wie bei ihrer Ankunft vor einer Woche. Theo steht auf und streckt ihr die Hand hin. Sofie will sie gerade nehmen, als ihr Handy auf dem kleinen Plastiktisch zwischen ihren Sonnenliegen zu vibrieren beginnt.

Ihr Blick fällt auf das Display.

»Das ist mein Vater«, sagt sie. »Ich komme gleich nach.«

»Richte ihm Grüße aus«, erwidert Theo und küsst sie auf den Mund. Seine Lippen sind kühl und schmecken nach Mango. Wenn sie für immer blieben, würden sie oft nach Mango schmecken. Sofie schaut ihm nach. Er passt gut hierher. In ihr Paradies.

Ja, sie ist glücklich …

Dann geht sie ans Telefon.

MAJA

Weiß gekachelte Wände, gefliester Boden, ein nackter Raum, Neonröhren, kaum Licht. Ich atme gierig ein, zu schnell und zu flach, muss husten, mein Blickfeld pulsiert, mein Atem kommt von allen Seiten, hallt von den Wänden wider. Ich stütze mich mit den Armen auf dem Metalltisch ab, auf dem ich sitze, schaue mich um, sehe verschwommen, ein Tränenschleier, dann heiße Spuren in meinem Gesicht. Mein Herz schlägt schnell und fremd, ein tiefes dumpfes Gefühl, das sich überall in mir ausbreitet, lauter als sonst. Meine Hände sind wässrig blau und aufgedunsen, der Reißverschluss hat Risse in meiner Haut hinterlassen, mein Zeigefinger blutet. Der Nagel steht eingerissen ab.

Ich blicke durch den Raum. Scharfe Linien und Kanten, als wäre die Welt härter geworden. Realer. Es ist kalt, vielleicht ein paar Grad über null, die nasse Kleidung macht es noch kälter. Mein Atem kondensiert, er schwebt milchig und halb durchsichtig in der klammen Luft. Meine Zähne klappern, sonst ist nichts zu hören. Ich schaue mich um. Obduktionstische auf Rollen, Metallschränke, Leichen unter weißen Laken und in Säcken. Ein Kühlschrank für Menschen.

Ein paar Sekunden lang bleibe ich reglos sitzen, zwischen den Toten und der Stille, dann klettere ich umständlich aus dem Leichensack, steif gefroren und zitternd. Ich bleibe hängen, muss mich festhalten, falle fast vom Tisch. Meine Füße sind eiskalt. Keine Schuhe. Ich bin barfuß. Dann berühre ich den Boden. Er ist rau und trocken, meine Füße sind feucht und gräulich blau. Es ist ein Boden, den man abspritzen kann, in der Mitte ein großer Gully.

Ich bemerke den Umschlag nicht gleich, er hat fast denselben Farbton wie die Fliesen. Er muss vom Tisch gefallen sein. Ich bücke mich danach und hebe ihn auf. Umweltpapier, kein Fenster, die Lasche ist nicht zugeklebt.

Ich ziehe eine einzelne Seite heraus.

Ganz oben steht Totenschein. Darunter mein Name, Maja Fria Kohlbeck. Meine Anschrift und mein Geburtsdatum. Letzter behandelnder Arzt: Dr. Volker Hauck. Sterbezeitpunkt heute um 22:47 Uhr. Identifiziert durch: Prof. Robert Stein. Robert hat mich identifiziert? Er war hier? Ich versuche, es mir vorzustellen, aber es gelingt mir nicht. Wie er neben meinem toten Körper steht und nickt. Überstellung an Prof. Dr. Greifland – auf Wunsch von Prof. Stein. Gefolgt von einer Adresse: Kolmarer Straße 4, 10405 Berlin.

Abholung morgen um 7:45 Uhr.

Todesursache: ungeklärt.

AM KUPFERGRABEN, BERLIN, 21:53 UHR

Der Ausdruck verschwindet aus ihren Augen. Dann sind sie nur noch leer und blau, wie Glaskugeln, durch die niemand mehr sieht. Ihre Hand liegt tot in meiner, ihr Blick geht ins Unendliche, an mir vorbei in ein unbestimmtes Nichts. Schmutzpartikel schweben im Wasser. Ihr Haar fließt um ihr Gesicht wie blonde Flammen. Ich will wegsehen, aber ich kann nicht. Mein Brustkorb zieht sich immer weiter zusammen, ein Gefühl, als würden meine Rippen brechen. Es dauert nicht mehr lang, dann gibt es mich nicht mehr.

Das matte Grün ist überall. Eine luftleere Hülle, die mich langsam tötet. Ich stecke fest, Blutwolken wabern um mein Knie, die Wagentür ist eingedrückt, mein Bein klemmt dazwischen.

Ich schaue durch die Windschutzscheibe nach oben in verschwommenes Licht. Helle Flecken in der Dunkelheit, die rund und oval schimmern. Nicht weit weg. Ein paar Meter vielleicht. Meine Muskeln zucken, als würden sie sich ein letztes Mal entladen. Ich höre auf zu frieren. Es ist ein leises Gefühl. Ohne Angst, schon halb auf der anderen Seite. Als würde ich mich mit einer Hand am Leben festhalten und der Rest hat bereits losgelassen. Ich spüre, dass der Bindfaden, der mich noch hier hält, jeden Moment reißen wird.

Der Nebel meiner Gedanken lichtet sich. Ich treibe ganz knapp unter meinem Bewusstsein, zwischen zwei Welten, gerade noch da, halte weiter ihre Hand. In meinem Kopf läuft kein Film, nur ein paar Fetzen aus meinem Leben. Erinnerungen, die Abschied nehmen. Sie kommen und gehen. Ich denke ein letztes Mal an alles und dann an nichts mehr. Mein Kopf leert sich, wie meine Lungen sich geleert haben. Übrig bleiben nur ihre letzten Worte: Du kannst niemandem trauen, sie stecken alle mit drin.

Das schwarze Grün pulsiert. Der Atemreflex wartet direkt an meiner Kehle. Er ist stärker als mein Verstand. Ich lasse das Wasser in meinen Mund fließen. Es schmeckt endgültig, nach Metall und nach Blut, dringt immer tiefer in meinen Rachen. Tu es, sagt die Stimme in meinem Kopf. Tu es jetzt.

Ich schaue ein letztes Mal in das tote Gesicht meiner Mutter, sehe sie an, und sie durch mich hindurch.

Dann atme ich ein.

Und sterbe nicht.

MAJA, KURZ DARAUF

Ein Geräusch lässt mich aufschauen. Das Licht im Korridor ist angegangen, eine helle Linie unter der Tür und ein quadratischer Fleck auf dem Boden. Ich bewege mich nicht, stehe neben dem Metalltisch, lauernd wie ein in die Enge getriebenes Tier, das sich bereit macht, jeden Moment anzugreifen. Mein Herz schlägt schneller, verteilt das Adrenalin in meinem Körper, plötzlich bin ich schmerzhaft wach.

Ich gehe lautlos in Richtung Tür und schaue durch das kleine Fenster in den Flur, doch es ist nichts zu sehen. Nur Licht. Ich höre Schritte und Stimmen, die näher kommen. Absätze auf Fliesen. Und das Quietschen von Gummisohlen. Mein Blick fällt auf das an die Wand montierte Telefon. Aber es ist zu spät. Ich habe keine Zeit mehr für diesen Anruf. Abgesehen davon ist die einzige Handynummer, die ich auswendig kenne, die von Sofie – und die ist auf den Philippinen.

»Ja, davon habe ich auch schon gehört«, sagt eine tiefe Männerstimme. »Wann wird sie nach Moabit überstellt?«

Jeden Moment sind sie da. Nur noch ein paar Schritte. Ich kann die beiden riechen, ja, beinahe schmecken.

»Gar nicht. Sie wird woanders hingebracht«, antwortet eine Frau. »Kam von ganz oben. Keine Ahnung, warum.«

Ich höre das Klirren von Schlüsseln, die Suche nach dem richtigen, keine Schritte mehr. Der Mann fragt etwas, ich höre nicht hin, suche nach einem Fluchtweg, entdecke eine zweite Tür am anderen Ende des Raums, mit einem grünen länglichen Aufkleber und der Aufschrift Notausgang.

Ich stopfe meinen Totenschein zurück in den Umschlag und danach beides in die Hosentasche. Dann laufe ich los. Meine Füße treffen auf Fliesen, ein nasses Geräusch, begleitet von der Frage, ob das Öffnen der Tür wohl einen Alarm auslösen wird – egal, spielt keine Rolle. Ich stoße sie auf, kein Alarm, dafür eine Stimme hinter mir: »Halt!«

Scheiße! Die Tür fällt in Schloss, der Boden ist glatt, ich renne, rutsche fast weg, laufe weiter durch leere Gänge, gräulich blaue Fliesen an den Wänden, die am Boden sind gemustert, rechts und links zweigen Türen ab, breit mit Sicherheitsglas, Beschilderungen führen durch ein Labyrinth aus Korridoren. Es ist ein Krankenhaus. Eines, in dem ich noch nie war. Alte Mauern und keine Menschenseele. Nur ich. Und die, die mir folgen.

»Bleiben Sie stehen!«

Auf einer der Türen am Ende des Flurs steht Treppenhaus. Ich stemme mich dagegen, sprinte die Stufen hoch. Ein Stockwerk, dann zwei. Die Schritte kommen näher, sie holen auf.

Ich erreiche das Erdgeschoss, sehe ein Schild mit dem Wort Ausgang, folge ihm. Da sind Betten, die durch Gänge geschoben werden, Schwestern und Ärzte, ich trete zur Seite, renne an ihnen vorbei. Beim Anblick der filigranen Schnörkel auf den Fliesen wird mir schwindlig. Alles beginnt sich zu drehen. Ich strecke die Arme aus, als könnte ich so die Wände davon abhalten, sich zu bewegen, werde langsamer, das Licht schmerzt in meinen Augen, wie Nadeln, die in mein Gehirn gestoßen werden. Vielleicht ist es ein Fehler wegzulaufen, vielleicht sollte ich einfach stehen bleiben und es erklären. Aber ich kann es nicht erklären, nichts davon, weder, was passiert ist, noch, warum ich nicht tot bin. Die Warnung meiner Mutter erwacht in meinem Kopf: Du kannst niemandem trauen, sie stecken alle mit drin. Also renne ich weiter – nur weg, egal wohin.

Eine Frau hinter mir schreit: »Haltet sie!« Aber niemand hält mich. Alles passiert zu schnell, die Welt hört auf, sich zu drehen, wird wieder gestochen scharf, schärfer als je zuvor. Am Ende des Flurs sehe ich den Ausgang, schwere Holztüren, die sich für mich öffnen. Meine Beine brennen, eine bleierne Schwäche breitet sich in mir aus, Seitenstechen, ich bekomme kaum noch Luft, höre, wie der Mann ruft: »Bleiben Sie endlich stehen!« Die Sohlen seiner Sportschuhe quietschen auf dem Boden.

Das Geräusch ist nah.

Gleich haben sie mich.

MAJA, WENIG SPÄTER

Ich werde schneller, renne blind durch die Straßen, versuche, mich an etwas zu orientieren. Es ist dunkel, ich kann die Schilder nicht schnell genug lesen, passiere sie, biege ab, erkenne die Rosenthaler Straße – auch ohne Schild. Ich laufe wie abgerichtet, wie eine Maschine im Autopilot. Keine Spur mehr von Schwäche und Schwindel, nur noch Flucht, Beine, die rennen, und ein Herz, das viel zu ruhig schlägt. Ich war nie konzentrierter, nie wacher. Du kannst niemandem trauen, sie stecken alle mit drin. Meine nackten Füße treffen auf den Asphalt, rau und körnig, voller Kanten. Wovon hat sie gesprochen? Wer steckt wo mit drin? Ich weiche Passanten aus, ihnen und ihren Blicken. Es ist spät, vielleicht schon Nacht. 22:47 Uhr, schließt es mir durch den Kopf. Da bin ich gestorben. Todesursache: ungeklärt. Wie lange ich in dem Leichensack lag, weiß ich nicht. Minuten? Stunden? Länger? Ich sehe mir über die Schulter, der Mann ist noch da, weiter weg, aber trotzdem zu nah. Als ich wieder nach vorne schaue, pralle ich mit einer Frau zusammen. Ich strauchle, fange mich aber. Sie ruft mir irgendwas hinterher, ich höre nicht hin, renne weiter, scanne den Boden vor mir, überall Glasscherben, mal kleine, mal größere. Ich versuche, ihnen auszuweichen, erkenne eine zu spät, weiß, dass ich sie in vollem Lauf treffen werde. Das Glas bohrt sich tief in meine Ferse. Sie pocht und blutet, aber ich spüre den Schmerz nicht, das Adrenalin verschiebt ihn auf später.

Rechts von mir stolpern zwei Männer aus einer Bar, der eine schubst den anderen, sie streiten, schreien sich an, es riecht nach Alkohol. Ich verlasse den Gehweg, laufe ein Stück auf der Straße weiter, ein Taxifahrer hupt mich an. Ich sehe den Rosenthaler Platz näher kommen, die beleuchteten U-Bahn-Schilder, Autos und Ampeln. Der Typ folgt mir noch immer. Ich spüre seine Anwesenheit wie einen Schatten. Es besteht kein Zweifel: Er wird nicht aufgeben.

Ich renne weiter, vorbei am Zugang zur U-Bahn, vorbei am Café Oberholz, der Gehweg ist voll mit Menschen, Nachtschwärmer und Raucher. Ich dränge mich an ihnen vorbei, sie starren gebannt auf einen Fernseher, vielleicht ein Fußballspiel. Die Ampel wechselt auf Rot, ich schaue nach links und rechts, die Tram fährt ein, Endstation Am Kupfergraben. Der Straßenname versetzt mir einen seltsamen Stich. Dann bemerke ich, dass die M1 in Richtung Niederschönhausen, Schillerstraße noch an der Haltestelle steht. Ihre Türen beginnen bereits, sich zu schließen. Ich laufe los, denke nicht, mein Herz schlägt einen festen Rhythmus gegen meine Rippen, dann springe ich ab. Kein Boden mehr unter den Füßen, nur noch Wind im Gesicht. Ich spüre den Jeansstoff, der an meinen Beinen klebt, das feuchte T-Shirt an meinem Bauch. Mein Blick ist auf die Türen gerichtet, der Spalt wird enger, sie streifen meine Schultern. Nicht wieder aufgehen, denke ich. Nicht wieder aufgehen. Meine Füße berühren den Boden, ich rutsche weg, stoße gegen einen Reisekoffer und eine Haltestange, fange mich und drehe mich sofort wieder zu den Türen. Sie sind zu.

Der Typ erreicht die Tram, er steht draußen, ich drinnen. Ich sehe sein Gesicht durch die staubigen Scheiben. Es ist rot, Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn. Er starrt mich an, direkt in meine Augen. Es ist ein Blick, als wäre das, was er sieht, nicht möglich.

Dann fährt die Tram los und unser Blickkontakt reißt ab.

SOFIE

»Bist du noch dran?«

Sie ist noch dran. Doch sie kann nicht sprechen. Als hätte dieser eine Satz sie gelähmt. Wie ein Gift, das so verzögert wirkt, dass das Opfer seinen eigenen Tod noch mitbekommt.

»Liebling?«

Die Stimme ihres Vaters ist sanft und weit weg. Alles ist weit weg. Das Meer, Theo, sie selbst.

»Wenn du nach Hause willst, kann ich das organisieren.«

Nach Hause, denkt Sofie und weiß nicht mehr, wo das ist.

»Sag mir, was ich tun kann«, sagt ihr Vater.

Aber er kann nichts tun. Sie hat ihn niemals zuvor machtlos erlebt, noch nie in ihrem ganzen Leben. Doch in diesem Fall ist er es.

»Wann ist die Beerdigung?«, fragt Sofie und ihre Stimme klingt so fremd, dass es auch die einer anderen sein könnte.

Ihr Vater schluckt. Sie hört es. »Das steht noch nicht final fest«, sagt er. »Wir müssen noch die Obduktion abwarten.«

»Die Obduktion?«, fragt sie matt.

»Die Unfallursache ist unklar«, antwortet er. »Das ist das übliche Prozedere.«

»Wird Maja auch obduziert?« Sofies Stimme bricht wie ein dünner Zweig.

»Ja«, sagt ihr Vater. Mehr nicht.

Sie nickt langsam. Die Bilder in ihrem Kopf sind entsetzlich. Sofie will sie nicht sehen, aber sie gehen nicht weg. Die Pathologie einer Klinik, bläuliches Licht, Maja, die nackt auf einem Metalltisch liegt, ein Gerichtsmediziner, der ihren Brustkorb aufsägt.

»Wo seid ihr gerade?«

Sofie ist froh um diese Frage, sie lenkt sie kurz von den Bildern ab.

»Auf Boracay«, sagt sie.

»Soll ich euch dort abholen lassen?«

Sofie kann nicht antworten. Sie weiß es nicht. Sie weiß gar nichts. Ihr Körper fühlt sich an wie betäubtes Zahnfleisch. Sie begreift nicht, was passiert ist. Dass es passiert ist. Sie hat den Satz genau gehört, beide Male, doch er hat sie nicht erreicht.

Maja ist tot.

Aber sie kann nicht tot sein. Sofie hat vorgestern noch mit ihr gesprochen. Worüber, weiß sie nicht mehr. Wie kann sie es nicht mehr wissen? Es war erst vor zwei Tagen.

»Soll ich jemanden schicken, Liebes?«, fragt ihr Vater ruhig.

»Ich muss mit Theo sprechen«, erwidert sie.

»In Ordnung«, sagt er. »Ich fliege morgen am späten Nachmittag nach Israel. Aber Verena kannst du immer erreichen. Tag und Nacht.«

»Okay«, sagt Sofie.

»Ruf an, ja?«

»Okay«, sagt sie noch einmal. Dann legt sie auf.

MAJA

Die Trambahn ruckelt die Straße entlang. Ich sinke auf einen der freien Plätze. Meine Haare sind nass, rotschwarze Spuren übersäen den Boden. Blut und Dreck. Sie führen von den Türen bis zu meiner Ferse. Es tut noch immer nicht weh. Aber das wird nicht mehr lang dauern. Die Streckenanzeige wechselt und kündigt die nächste Station an: Zionskirchplatz. Daneben steht 01:13 Uhr.

Ich schließe kurz die Augen. 01:13 Uhr. Ich will einfach nur nach Hause, aber der Weg dorthin ist weit und ich bin müde. Abgesehen davon habe ich keinen Schlüssel. Und Sofie ist verreist, ich komme also nicht in die Wohnung. Und ich habe kein Geld. Daniel wohnt keine fünf Minuten von hier. Und er verlässt so gut wie nie das Haus. Abgesehen davon hat er unseren Ersatzschlüssel. Ich könnte bei ihm duschen und die Wunde versorgen. Bei ihm übernachten.

Kurz denke ich, dass ich nicht aufstehen kann. Und ich will auch nicht aufstehen. Am liebsten würde ich für immer hier sitzen bleiben. Genau hier. Alle Kraft, die ich eben noch hatte, ist aufgebraucht. Ich bin ein kleiner Rest, der übrig ist, gerade noch in der Lage, zu atmen und zu sitzen.

Trotzdem tue ich es. Ich zwinge mich auf die Füße. Als meine Ferse den Boden berührt, entlädt sich der Schmerz wie ein Stromschlag in mein Bein. Die Trambahn hält und die Türen gehen auf. Ich steige aus, dann stehe ich an der Haltestelle und sehe mich um. Viele Gesichter, aber seins ist nicht dabei. Er ist mir nicht gefolgt.

Ich überquere schwerfällig die Straße, humple den Gehweg hinunter. Und während ich gehe, versuche ich zu rekonstruieren, was in den vergangenen Stunden passiert ist. Die einzelnen Stücke zu einem Ganzen zu formen. Aber es bleiben Lücken. Offene Fragen ohne Antworten. Ich weiß, wer ich bin und wann ich geboren wurde – und das nicht nur, weil es auf meinem Totenschein stand. Ich weiß auch, wo ich heute Nachmittag war – und dass ich nicht das getan habe, was ich ursprünglich vorhatte. Genauso wenig wie die letzten beiden Male.

Todesursache: ungeklärt