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© 2019 Marcus Helwing

Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783750475588

Für meine Klasse

In Gedenken an Helene Weigel,

eine Schule und eine

unwiederbringliche Zeit

Inhalt

Die Diktatur der Mehrheit

Das letzte Schuljahr war gerade angebrochen, das Abitur warf seinen langen Schatten voraus. Zwölf lange Schuljahre lagen nun hinter meinen Klassenkameraden und mir, ein paar Monate standen uns noch bevor. Schwere Monate, intensive Monate, vollgestopft mit prüfungsrelevantem Wissen, prüfungsvorbereitenden Kursen, gähnend langweiligen Lernphasen und enorm stressigen Tests, Zwischen- und Abschlussprüfungen. Was danach kam, war mir völlig schleierhaft. Ich wusste damals schon, dass ein Teil der Leute in der Klasse – manche seit Jahren – genaue Vorstellungen davon hatte, was sie direkt im Anschluss an das Abitur tun würden. Einige sollten sich daran halten, andere schlugen gänzlich neue Wege ein.

Auch wenn sich gut sechs Monate vor Prüfungsbeginn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch nicht alle Mitschüler über die zwangsläufig bevorstehende Trennung nach dem Abitur Gedanken gemacht haben werden, zog der baldige Abschied langsam am Horizont herauf. So, und wenn man sich schon voneinander verabschieden muss, kann man getrost ein letztes Mal miteinander einen draufmachen, womit der eigentliche Sinn solcher Fahrten ziemlich salopp formuliert wäre. Möglicherweise umwehte uns damals ein Hauch von Eskapismus. Noch einmal raus aus dem wöchentlichen Trott, noch einmal raus aus der Lernhölle, noch einmal raus aus unserer beschaulichen Heimatstadt. Vor allem aber weg von dem ganzen Stress, der mit dem Abitur kommen und nach diesem leider nie wieder verschwinden sollte.

Unsere Klassen- und Abschlussfahrt war im Nachhinein betrachtet sehr schön. Ich erinnere mich auch nunmehr fünfzehn Jahre später immer noch sehr gerne an sie. Deswegen will ich sie auch hier mitnichten verreißen, aber doch einige Skurrilitäten schildern, die mir nach wie vor im Gedächtnis herumspuken. Sie begann mit einer kleinen Niederlage für mich. Die Tutorinnen unserer beider Abschlussklassen, ein Mathe- und ein Englischleistungskurs, waren sehr bedächtig und überließen es uns, den Schülern, die Wahl der Destination zu treffen. Vermutlich mit dem pädagogischen Hintergedanken, durch eine demokratische Abstimmung einerseits die Akzeptanz der Entscheidung zu fördern und andererseits die Funktionsweise demokratischer Legitimationsprozesse zu veranschaulichen und sie fest in das Bewusstsein der Schüler zu implementieren. Die Wahl, vor der wir standen, war beileibe keine schlechte. Entweder konnten wir uns für eine Woche in der Goldenen Stadt – Prag – oder aber für sieben Tage an der Côte d’Azur bzw. am Ligurischen Meer mit der Basis Genua entscheiden. Ein wenig Schönfärberei war natürlich mit dabei, denn in Anbetracht der An- und Abreisetage blieben netto lediglich vier Tage übrig. Die kulturellen und historischen Gegebenheiten ließen mich sofort für Prag votieren. Alsbald wurde mir aber vor Augen geführt, dass die mich leitenden Argumente für die große Mehrheit meiner Klassenkameraden nicht den gleichen, keinen ähnlichen oder hauptsächlich gar keinen Stellenwert besaßen. Weiße Sandstrände, eine strahlende Sonne, das azurblaue Meer, tolles Wetter und mediterranes Klima zogen wohl mehr als lebendige Geschichte, atmende Architektur, kulturelle Vielfalt und eine merklich kürzere Wegstrecke.

Wichtig war für mich die Lektion, dass, wenn man mal bei einer Abstimmung die Minderheitsposition vertritt, die Welt auch nicht untergeht. Ich muss nämlich unumwunden und freimütig zugeben, dass es eine fantastische Woche werden sollte. Zwar kann ich mich, aus Gründen, auf die ich hier nicht im Detail eingehen möchte, nicht mehr an alle Momente so genau erinnern, aber wir sollten dort eine tolle Zeit verbringen.

Unter Zugzwang

Als sich am Sonntag peu à peu alle Mitglieder der bevorstehenden Expedition am Sammelpunkt – einem Parkplatz eines Einkaufszentrums mit diversen Ständen, Geschäften, Läden und Filialen nahe unseres Gymnasiums, der an einer der Hauptverkehrsadern der Stadt lag und am Wochenende praktisch ungenutzt blieb – einfanden, war die Spannung groß. Was würde die Woche bringen? Was würden wir sehen? Wen würden wir treffen? Hält das Wetter? Erwartungen und Vorfreude standen der Spannung in Nichts nach. Nachdem Dutzende Gepäckstücke in den dafür vorgesehenen Frachträumen verstaut waren, begann eine fast schon rührend anmutende Abschiedszeremonie, da viele Eltern es sich nicht nehmen ließen, ihre Kinder persönlich in die Obhut der Tutorinnen zu übergeben. Vermutlich, um diesen ostentativ die Verantwortung zu veranschaulichen, die sie die ganze nächste Woche übernehmen müssten. Nicht mehr lediglich kurze 45 Minuten in sicheren Räumlichkeiten, sondern mehrere Tage am Stück in fremden Ländern. Okay, wir hatten nicht vor, die EU zu verlassen, um auf eine Erkundungsreise durch Schwarzafrika oder Südostasien zu gehen. Dennoch schien es manchen Eltern so vorgekommen zu sein.

Als wir sie dann endlich abgeschüttelt hatten und ihre Silhouetten im Rückfenster des Busses kleiner und kleiner wurden, begann das Abenteuer. Bereits auf den ersten Autobahnkilometern kam im hinteren Teil des Busses, in welchem ich mich nicht aufhielt, der Verdacht auf, dass die Reifen komische Geräusche erzeugten. Beim ersten kurzen Zwischenstopp, irgendwo auf einem Autobahnrastplatz in der sachsen-anhaltischen Bördelandschaft, wurde der Sache auf den Grund gegangen. Während die Fahrer plauschten und ein paar Zigaretten rauchten, vertraten sich die meisten von uns die Füße. Melanie allerdings nicht. Ganz im Gegenteil. Sie war die Speerspitze eines Investigativkomitees, welches einen vermuteten Mangel an den Reifen oder der Radaufhängung aufgedeckt hatte. So rief sie die Lehrerinnen herbei und schilderte ihnen die Situation, optional erwog sie sogar einen Anruf, fast schon einen Notruf, bei der zuständigen Polizeidienststelle.

Frau Herrlich und die noch bedächtigere Frau Spiegel besahen sich die dicken Busreifen, vermochten jedoch nichts festzustellen. Auch mit der Aufhängung schien alles in Ordnung zu sein. So redeten sie mit Engelszungen auf Melanie ein, die Sache auf sich beruhen zu lassen, was an sich schon eine Geste der Höflichkeit war, denn eigentlich lag dem Verdacht kein Sachverhalt zugrunde. Schlussendlich, bestimmt nach mehr als dreißig Minuten, ließ sich Melanie davon überzeugen, dass mit der Technik alles zum Besten stand, wenngleich sie auf den ersten Stunden der Klassenfahrt zur Bereifungsexpertin mutiert zu sein schien. Gewitzelt wurde, dass diese Metamorphose nur eine Frage der Zeit gewesen sei, da sie sich schon lange und äußerst intensiv mit Schuhen befasste, also mit der Bereifung der Füße. Das war bei der vorderlastigen Gewichtsverteilung, die sie schon als Schülerin hatte und durchaus mithilfe von Kleidungsaccessoires zu betonen wusste, überhaupt nicht verwunderlich.