Adi Hübel

 

Hannah

 

Die Geschichte der Frau,

die Ihren Mann mit der Armbrust erschoss

 

 

 

 

 

 

ISBN/EAN: 9783958706637

 

1. Auflage

 

Covergestaltung:
Clementine Klein, Köln

nexx verlag gmbh

 

© 2020 nexx verlag gmbh

 

www.nexx-verlag.de

 

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Dialog mit Lesenden

 

Ja, höre ich dich sagen, so solltest du beginnen: Ihre Brüste verfolgten ihn noch im Schlaf, oder besser: Ihre Brüste verfolgten ihn noch im Traum.

Oder: Wer hätte gedacht, dass die Katze nur zwei Tage später ihre Pfoten auf so schreckliche Weise verlieren würde.

Und wie wäre das: Sie hatte gedacht, der Satz: Die Liebe höret nimmer auf, treffe auch auf sie zu, doch sie hatte sich getäuscht.

Darf ich mich jetzt auch einmal zu Wort melden? Ja, ich möchte vielleicht einen Roman schreiben, aber weder sollte er in die pornografische Richtung gehen noch sollte es ein Roman über Tiere oder gar ein purer Liebesroman werden. Über die Liebe ja, aber über ihr Fehlen gleichermaßen. Da kommt mir dieser Zeitungsartikel in den Sinn über die Frau, die ihren Mann mit der Armbrust erschoss. Dieser Bericht, dieser Anschlag auf einen Ehemann hat mich verunsichert und auch staunen gemacht. Mit der Armbrust? Ich finde das merkwürdig und spannend.

Aha, sagst du, du willst also doch einen Roman schreiben. Dann solltest du daran denken, dass der erste Satz der wichtigste ist im ganzen Text. Dieser erste Satz muss ein Einschmeichler, ein Hineinzieher, ein Neugierigmacher, gewissermaßen ein Spannungsflitzer sein. Hat der erste Satz diese Qualitäten, dann und nur dann blättern die Lesenden weiter und erfreuen sich an deinen Exkursen über Weichheit und irgendwelche Schatzkästlein, betrachten mit dir Vesperdosen unterschiedlicher Farbe oder blonde Frauen auf Stilettos.

Da magst du ja Recht haben, aber sag, wie findest du meinen Titel?

Na, ja, diese Armbrust im Titel glaubt dir ja sowieso keiner. Wer, außer dir, würde schon eine solch mittelalterliche Tatwaffe wählen. Aber um noch einmal zurückzukommen, glaube mir, du musst einen ersten Satz anbieten, der spannend ist, der Lust macht aufs Weiterlesen. Der uns Lesende hineinzieht ins weitere Geschehen. Der Spannung aufbaut und neugierig macht. Nimm einen von den Sätzen, die ich dir oben angeboten habe und der Erfolg ist dir sicher.

Erlaube mal, ich möchte meinen Text - und ich spreche jetzt einmal nicht von einem Roman - selbst beginnen. Du als Lesende kannst mir doch nicht schon die ersten Sätze vorschreiben. Zumal ich mir über die Art des Textes noch keine endgültige Klarheit verschafft habe. Es könnte ja beispielsweise ein Bericht werden, über eine unabsichtliche Tötung während eines Armbrustturniers. Die Ehefrau will gewinnen, zielt eigentlich punktgenau, der Pfeil macht sich selbständig und trifft versehentlich den zuschauenden Ehemann. Peng, er fällt um und ist tot.

Prima! Peng, er fällt um und ist tot!

Ach ja, das habe ich mir gedacht, das gefällt dir. So sollte ich wohl beginnen: Peng, er fiel um und war tot. Das wäre dir recht. Groschenroman, kann ich da nur sagen und das mit Ausrufezeichen!!!! Wenn deine Lust und dein Interesse auf so etwas Spektakuläres in Wort und Inhalt gerichtet ist bist du bei mir fehl am Platz. Außerdem macht eine Armbrust nicht einmal Peng. Aber ich möchte dich dennoch nicht verlieren. Ich hätte gerne, dass du mich begleitest bei meinem Gang durch die Geschichte einer lieblosen Ehe.

Ach, du meinst, das Thema sollte ich auch nicht verraten. Das möchtest du selbst feststellen. Aber, wie soll ich dich denn dann hineinziehen in meinen Text? Was kann ich dir anbieten, damit du mich nicht verlässt?

Auf keinen Fall den Schluss, höre ich dich entsetzt rufen.

Das ist ja wohl klar, wer würde schon den Schluss vor dem Anfang präsentieren. Ehrlich gesagt, ich will auch noch die Frage offenlassen, ob diese Frau, deren Leben und Lieben einen großen Teil des Textes ausfüllt, ihren Mann tatsächlich erschoss.

Du behauptest es aber doch in deinem Titel, dass sie zu so etwas fähig sei. Dann muss es doch auch geschehen. Alles andere wäre Betrug an den Lesenden.

Sei nicht gleich wieder beleidigt. Es könnte ja sein und ich habe auch vor, sie sich zu einer so selbstbewussten Frau entwickeln zu lassen, dass sie diese Tat vollbringen kann. Aber wer weiß. Frauen und Töten zusammenzubringen ist nicht so einfach. Sie scheinen eine natürliche Hemmschwelle zu haben, jemanden vorzeitig ins Grab zu legen.

Aber, du wirst ja sehen. Ich hoffe, ich habe mit meinen Andeutungen dein Interesse jetzt doch geweckt und du liest und liest und liest bis zum Schluss.

Am besten beginnst du bei meinem Anfang: Weich, aber durch und durch.

 

1

Ein Gefühl, das dir die Tage versilbert

Weich, aber durch und durch. Mit diesem Satz könnte ich beginnen. Ich würde kein Fragezeichen dahinter setzen, sondern alles offenlassen, denn dies könnte durchaus die Antwort auf eine Frage sein. Es könnte aber auch eine Warnung sein. Es könnte auch bedeuten, es ist ganz so, wie du es dir wünschst, wie du es haben möchtest, nämlich weich.

Aber Achtung, es gibt da keine harte Kante, keinen Widerstand, nichts, an dem du dich halten oder auch nur reiben kannst. Und es gibt keinen Grund, keinen Boden, kein Ende. Das ist es, kein Ende. Keinerlei Begrenzung nach allen Seiten. Greifst du hinein, so ist alles durch und durch weich.

Eben weich, aber...

Es könnte auch einen Wunsch bestätigen. Beispielsweise: du willst es weich, also sollst du es weich bekommen. Es ist weich, aber... Und dieses aber sitzt in dem Satz wie ein Skorpion, der seinen Stachel zeigt. Das ist es, ein tückisches Aber sitzt in diesem Satz und lauert dir auf.

Mit einem so feinen, klingenden Wort wie weich wirst du gelockt. Nicht nur dein Wunschgebilde wird dir suggeriert, das Wort selbst schmeichelt sich dir ins Ohr. Dieses w, wie es sanft mit deinem Atem dir über die Lippe streicht, wie es dem ei ein Nest baut, wie es sich dann ganz in deine Mundhöhle zum stürmischen ch zurückzieht. Ein Weich, wie du es dir doch wünscht.

Da hätten wir es, die Sache, die Materie und das Wort. Deutlich das Wort, unbestimmt die Materie. Und weshalb eine Sache? Es könnte durchaus auch das wunderbare Gefühl sein, das du vermisst. Ein Gefühl, das du kennst, das du hattest, das dir verloren gegangen ist, das du dir herbeisehnst, herbeiwünschst. Ein Gefühl, das dir die Tage versilbert, wenn nicht vergoldet.

Weich. Sollte es ein Gefühl von jemandem sein. Sollte es gar ein Gefühl von dir sein. Möchtest du das Gefühl spüren oder verströmen. Möchtest du selbst weich sein? Aber durch und durch. Sollte dein Gegenüber weich sein? Durch und durch. Was könnte das für ein Gefühlsknäuel werden, bestehend aus weichem Weichem. Aus weichem was also?

Ein Satz und so viele Fragen. Kein guter Anfang für eine Erzählung, meinst du. Kein guter Anfang? Ja, aber es ist ein Satz, der nicht aus meiner Feder geflossen ist, was heute bedeutet, aus den Tasten geglitten, beziehungsweise aus den Fingern in die Tasten aufs Papier, nein auf die Scheibe und die Platte darunter.

Es ist ein Satz, der hängen geblieben ist im Vorüberfahren. Unterwegs. Unbestimmt, wo es gewesen sein könnte. Und doch ein Satz, der sich einnistet über Tage, Wochen und sich bereithält, überdacht zu werden, betrachtet zu werden, beschrieben zu werden. Was könnte ein solcher Satz fordern an Thema und Vorgehensweise. Ein solcher Satz am Anfang einer Seite. Sollte er oben stehen oder könnte man ihn einfach ganz alleine mitten in die Seite stellen? Möglicherweise wäre dies der richtige Platz für diesen Satz. Oder sollte er als Überschrift den Text beschreiben? Oder wäre er als Schlusssatz ein Punkt, der noch einmal all das vorher Gesagte zusammenfasst: weich, aber durch und durch.

Aber, was wäre das für ein vorangegangener Text. Was würde darin beschrieben. Selbst ein Laib Brot, innen so köstlich weich, wäre ohne härtere Kruste kein Laib. Und gar ein Mensch, Mann oder Frau, beschrieben in ihrer Weichheit, wo hätten sie das Gegenstück versteckt, wo es verloren. Wie weit könnte oder müsste man gehen, wollte man ihre Härte auffinden und beschreiben.

Hier taucht also das Wort auf, das sich in Gegensatz stellt: Härte. Woher jetzt dieser Begriff? Was will er hier? In diesem ersten Satz des Textes kommt er nicht vor. Lassen wir ihn einfach beiseite. Vorerst.

Doch er ist nun einmal benannt, wie sein Gegenüber und soll hier stehen bleiben. Niemand zwingt mich, ihn zu entfernen. Aber es zwingt mich auch niemand, mich näher mit ihm zu befassen. Weshalb auch sollte ich Härte, gerade dieses Wort in meine Überlegungen aufnehmen. Wie es sich schon anhört beim Sprechen!

Da ist mir das Weich schon lieber. Es füllt dir den Mund wie Sahne. Köstlich und unvorhergesehen. Versuch es. Lass es aus dir strömen, dieses weich und genieße es. Ich habe nichts dagegen, das Härte zu ignorieren.

Ein anderer Anfang also sollte es sein nach deinem Wunsch? Etwas leichter, etwas eingängiger. Sollte er etwas mit Jahreszeiten zu tun haben? Oder mit den Personen der Erzählung? Oder mit dem Sonnenaufgang oder Untergang? Könnte er so lauten:

Es war an einem schönen Herbsttag.

Oder: Ein schöner Herbsttag lag vor ihr.

Oder: Der Sommer meldete sich mit kleinen sonnigen Abschnitten.

Möglich wäre auch: Er war zum ersten Mal verliebt.

Oder: Sie war diesen Weg schon lange nicht mehr gegangen.

Oder: Sie freute sich auf das Wiedersehen.

Oder: Das Münster lag vor ihm in einem diffusen, schleierigen Licht.

Aber ein solcher Satz wäre mehrdeutig. Aus einem solchen Anfang könnte viel entstehen, zu viel. Wenn schon Mehrdeutigkeit, dann könnte der Beginn der Erzählung auch schon auf gewisse, schwer zu erzählende und schwer zu verdauende Inhalte hinweisen.

Zum Beispiel könnte es heißen: Seine Zeit war abgelaufen. Was steckte darin nicht alles an Möglichkeiten. Da konnte man durchaus eine Gänsehaut schon beim Lesen des ersten Satzes bekommen.

Oder betrachten wir deinen Vorschlag: Ihre Brüste verfolgten ihn noch im Schlaf. Was war einem solchen Erzählbeginn vorausgegangen? Das muss bedacht sein, dieses Vorher.

Oder: Die Zeit, was bedeutete ihm schon die Zeit.

Um welche Zeit handelte es sich hier? Um die Zeit im Allgemeinen oder im Besonderen, um Zeitabschnitte, um Lebenszeiten oder um Uhrzeiten.

Man kann sie mit den Nägeln nicht mehr auskratzen, hat ein bekannter Dichter einmal im Gedenken an seine tote Mutter geschrieben. Was für ein Satz! Mit den Nägeln jemanden auskratzen. Wie das sich zusammenfügt, Nägel und auskratzen. Und dann kommt statt dem aber hier das nicht hinzu. Welchen Schrecken dieser eine Satz hervorruft. Diese Endgültigkeit, dieses Bemühen, dieses vergebliche Bemühen. Solche Sätze machen Eindruck, bleiben haften. Bei mir und ich hoffe auch bei dir.

Allerdings sind es nicht immer Sätze, die Aufmerksamkeit erfordern. Sätze bestehen aus Wörtern. Aus vielen, aus wenigen. Oben versuchte ich zu klären, dass es auch die Wörter sein können oder sogar sollen, diese ersten, wichtigen Wörter, die das Weiß des Papiers oder die neue Seite zieren. Oder zerstören. Oder verunzieren. Oder füllen. Oder schwärzen. Wörter, die am Beginn eines Satzes stehen. Oder Wörter, die ganz allein eine viele Seiten dauernde Erzählung einleiten. Bedeutende Wörter also.

Es könnten, wie oben, schöne, klingende Wörter sein, wie das weich. Wörter, die uns wie Honig in das Gedächtnis flössen. Ja, Honig zum Beispiel. Was käme uns in den Sinn, würden wir am Anfang meiner Erzählung Honig lesen. Alle Sinne wären gefordert. Wir hörten es summen im warmen Licht eines Spätsommertages. Wir röchen Blütenduft und Honigduft zugleich. Wir sähen fleißige Tiere mit gelbgrauen Körperchen die Luft durchziehen. Wir verfolgten sie mit den Augen und nähmen die vielfarbigen Blütenkelche war, die uns am Ende als köstlicher Honig auf dem Frühstückstisch wieder begegneten.

Honig also zu Beginn, als allererstes Wort. Aber, und da steht es wieder, das widerspenstige Wort aber, aber was dann? Was könnte danach kommen. Weshalb sollte ich meine Erzählung ausgerechnet mit dem Wort Honig beginnen?

Andere Anfänge könnten spannender für dich sein. Wörter, die Befindlichkeiten ausdrücken, die auf Kommendes, auf zukünftige Freuden und Leiden hinwiesen. Da wäre das Wort gestern, ein Wort, das anders wäre als zum Beispiel vorgestern. Was könnte zwischen gestern und vorgestern nicht alles geschehen sein. Ich sollte beide gleichzeitig notieren und das dazwischen beschreiben.

Beginnen könnte ich auch mit gestern und enden mit vorgestern oder umgekehrt. Oder Ich könnte das Dazwischenliegende als Grundlage meiner Erzählung nutzen. Dieses dazwischen könnte so unendlich spannend sein. Es hätte noch so einiges von vorher und nachher in sich. Es wäre wirklich ein Wort, das nur die Ränder im gestern und vorgestern hätte. Durchaus, ein Beginn mit dazwischen könnte reizvoll sein.

Es wäre auch denkbar, inzwischen zu nehmen. Oder einfach nur zwischen. Das aber verlangte schon deutlichere Angaben zu vorher und nachher, zu gestern und vorgestern. Und doch, es zeigt dir, wie kurz und knapp solch ein Anfangstext sein könnte. Zugegeben, er hätte Aufforderungscharakter oder beinhaltete sogar die zwingende Forderung nach weiterem. Doch wer ließe sich schon mit dem ersten Wort die weiteren vorschreiben. Da ist dieses zwischen bei mir an die falsche Schreiberin geraten. Ich würde es nicht benutzen. Da jedoch ein schriftliches Dokument ohne Anfang nicht möglich ist, überlege ich weiter.

Halten kommt mir in den Sinn. Ich könnte mit dem wunderbaren Wort halten beginnen. Doch dies auf keinen Fall als Satzanfang. Es müsste alleine stehen, nur Halten und dann Punkt.

Aber was würdest du dich dabei fragen: Soll diese Erzählung nur aus einem einzigen Wort bestehen? Du würdest in Gedanken alle nur möglichen Ergänzungen finden: Anhalten, niederhalten, verhalten, aufhalten, abhalten. Aber ich finde, halten alleine wäre auch nicht zu verachten.

Halten, was für ein wunderschönes Wort. Jemanden oder auch etwas halten, eine Katze zum Beispiel oder eine kranke Tante, oder ein Kind. Aber ich will hier nicht über Kinder schreiben, Gott bewahre. Halten könnte ich meinen Liebsten oder du den deinigen. Das wäre eine Erzählung wert. Es könnte ja sein, dass aus dem anfänglichen Halten dann doch ein Abhalten oder Niederhalten würde und schon wäre die Erwartung auf den Fortgang der Geschichte eine andere.

Aber gibt es denn das, eine Erzählung, die nur aus einem einzelnen Wort besteht? Sicherlich nicht. Möglicherweise würden sich LektorInnen und Verlage freuen. Viele Drucker würden allerdings arbeitslos und die Buchhandlungen würden protestieren, sollten mehrere Autorinnen und Schriftsteller zu dieser reduzierten Schöpfung greifen. Da wäre es dann von großem Interesse, eine Sitzung des literarischen Quartetts im Fernsehen zu verfolgen. Ein Wort nur, das gelesen, beschaut, besprochen, gedeutet würde. Wenn daraus dann auch noch ein gesprochenes Buch würde. Spannend!

Doch ich befasse mich – mit Engelszungen wollte ich gerade sagen – mit dem Beginn einer Erzählung. Was gibt es, so wollte ich schreiben, nicht noch alles zu bedenken und zu überlegen.

 

 

2

Sie liebten sich sehr

Da wäre zum Beispiel der Schluss. Aber kann ein Schluss mit dem unwiderruflichen Beenden eines Schicksals geplant sein, bevor der Anfang begonnen hat? Nein. Ich bin mir sicher, auch du wolltest den Schluss nicht lesen, bevor du das Vorhergehende kennst. Natürlich weiß ich von deiner Unart, bei manchen spannenden Geschichten das Ende zuerst zu lesen. Aber dennoch möchtest du dann doch auch den Beginn und den Verlauf kennen. Ich bin mir da sicher. Dennoch, ein Schluss, ein Abschluss des Vorhergegangenen sollte schon geplant sein.

Schlüsse sind nach meiner Meinung auch etwas sehr Diffiziles. Für andere mögen sie ja nur so aus der Feder springen, mir machen sie durchaus Probleme. Nicht so sehr, dass mir der Stoff ausgegangen wäre oder die Worte versiegten, nein, es ist darum, dass etwas Fließendes naturgemäß zum Stillstand kommen muss. Wer möchte schon ein ganzes Leben lang an einer Geschichte schreiben. Auch Schreibende brauchen Abwechslung. Brauchen etwas Neues. Dann können auch die Schlüsse neu sein und aufregend.

Ich könnte mir jetzt einen Schluss genehmigen. Einfach so. Wie man sich einen Schluck Rotwein genehmigt. Oder eine Praline. Aber, so wie es beim Rotwein und auch bei Pralinen unglaubliche Unterschiede gibt, so kann auch der Schluss einer Geschichte von unterschiedlicher Qualität sein. Ich könnte dir ja zunächst einmal den Schluss der Geschichte von den beiden Schwestern, die sich um Vesperdosen zankten, aufschreiben.

Ich lasse den Anfang, zum Beispiel könnte er so lauten: Zwei Schwestern liebten sich über viele Jahre sehr, einfach mal beiseite. Sicher, du kannst ihn hier lesen, aber, denke ihn dir einfach fort. Er sollte nur eine Andeutung sein. Diese Andeutung ist wichtig, um zu wissen, dass sich die beiden Schwestern nicht immerfort zankten, oder, dass sie sich sogar mehr als vielleicht andere, zugetan waren. Du bekommst damit auch eine Auskunft darüber, dass diese beiden Menschen Geschwister waren oder noch sind. Sie können es durchaus noch sein, auch wenn der erste Satz schon andeutet, dass ihre Liebe möglicherweise nicht mehr so existent ist. Vielleicht wurde sie ja unterbrochen, diese Zuneigung, durch Gewalt von außen, durch einen Unfall oder den Tod einer der beiden oder gar beider. Du kannst aber auch erkennen, dass es sich bei den beiden Schwestern auf keinen Fall um sehr junge Frauen handelt. Sich über viele Jahre zu lieben, das bedeutet doch, schon ein gewisses Alter zu haben. Möglicherweise ging ja alles gut, ein Leben lang und dann kamen die Vesperdosen dazwischen.

Es gibt aber noch einen Hinweis, der nicht unbeachtet bleiben sollte. Sie liebten sich sehr. Dieses kleine Wörtchen sehr, was hat es doch für eine Bedeutung. Fast sollte ich hier ein Ausrufezeichen setzen. Sehr, welch ein Wort in diesem Zusammenhang. Da stellt sich schon die Frage, ob es hier am richtigen Platz ist. Ich denke, ich liebe oder ich liebe nicht. Aber kann ich denn in Abstufungen lieben? Kann ich weniger lieben? Oder mehr lieben? Sicher, ich kann verzweifelt lieben oder zärtlich lieben oder leidenschaftlich lieben. Aber sehr?

Es gefällt dir sicher nicht, wenn ich entschlossen bin, dieses sehr, aus dem Anfangssatz zu streichen, sollte er tatsächlich stehen bleiben. Aber mehr oder sehr oder viel oder wenig, vergiss es! Vergiss den Anfangssatz und sieh, was ich mir für einen Schluss ausgedacht habe. Ausgedacht? Keineswegs. So ein Schluss lässt sich nicht ausdenken. Er ist passiert. Er hat sich so ereignet. Genau so.

Ich würde also, hätte ich die Geschichte über die beiden Schwestern, die sich liebten, sehr liebten, über den Streit um Vesperdosen aufgeschrieben, endlich zum Schluss kommen. Zu dem von mir ungeliebten Schluss. Zu dem dennoch notwendigen Schluss. Natürlich wäre ich keineswegs gezwungen, den in der Realität sich ereigneten Schluss zu berichten. Nein. Dies wäre kein Bericht, sondern sollte eine Erzählung sein. Eine Erzählung ließe mir auch die Freiheit, einen Schluss der Geschichte mit den Vesperdosen zu finden, der mir behagt, der mir und dir gefällt. Den ich schlüssig finde. Der passt. Der mich zum Nachdenken anregt, vielleicht sogar über mein Verhalten oder das deinige. Ein Schluss, fast hätte ich unpassend ein Ende geschrieben, der mich möglicherweise auch traurig stimmt, mich sogar kummervoll zurücklässt.

Um allerdings in eine so verzweifelte Stimmung zu kommen, müsste es, wie ich meine, eine andere Geschichte sein. Eine Geschichte über die Schrecknisse der Welt, über das was tagtäglich in den Nachrichten in mein Zimmer flutet. Über Flüchtlinge, die aus überfüllten Booten stürzen und im Ozean ertrinken. Über Hungernde, die nicht einmal Wasser zu trinken haben. Über Dürren und Kriege. Ja, das gibt es, irgendwo, fern von uns, nicht hier. Nicht bei uns. Deshalb sollen diese kaum zu glaubenden entsetzlichen Zustände und Ereignisse außen vor bleiben. Deshalb soll das Thema meiner Erzählung ein eher erhebendes, erfreuliches sein. Deshalb soll meine Geschichte eine Geschichte über Vesperdosen sein. Doch zu dem Inhalt meiner eigentlichen Erzählung, zu den Themen im Allgemeinen kommen wir noch.

Ich bin abgeschweift, ich weiß. Ich bin mir durchaus bewusst, dass Vesperdosen nicht die Grundlage für depressive Stimmungen sind, es zumindest nicht sein sollten. Aber, wer weiß. Wer kann schon in so eine Erzählung von Anfang an hineinsehen. Ein Schluss also. Ich könnte dir jetzt einfach einen Schlusssatz präsentieren, etwa so: Auch viele Jahre danach, konnte sie ihre Tat nicht begreifen. Allerdings wäre das in etwa dasselbe wie am Anfang gesagt: Du hättest nur die Gewissheit, dass eine Tat, also irgendeine Tat, was immer das bedeutete, ausgeführt oder vielleicht besser gesagt, begangen worden wäre. Dazu wüsstest du auch, dass diese Tat vor vielen, vielen Jahren geschah und dass eine gewisse sie, möglicherweise eine der Schwestern, das damals Geschehene nicht verstehen kann.

Vieles bliebe offen, ungesagt. Kein Schmerz, kein Bedauern würde deutlich, nur ein Nicht-Begreifen. Nicht sicher wäre auch die Täterin, die von ihrer Tat spricht. Es könnte ja sein, dass sich eine Nichte oder eine ungeliebte Schwester, eine Tante oder die alte Mutter in den Streit um die Vesperdosen eingemischt und eine dieser noch nicht benannten Protagonistinnen die Tat begangen hätte.

Natürlich begreife ich deinen Unmut darüber, dass, wie man so sagt, kein Fleisch an den Knochen ist. Mit den Knochen fängst du wenig an, sagst du. Mir geht es, ehrlich gesagt, genau so. Ich muss mich mit dem Dazwischenliegenden befassen.

Zunächst jedoch brauche ich die Entscheidung, um welches Genre es sich bei meiner Erzählung handeln sollte. Soll es denn überhaupt eine Erzählung werden? Sollte es nicht vielleicht nur ein Bericht sein? Oder möchte ich einen Roman schreiben? Aber welch einen Roman?

Einen Entwicklungsroman? Die beiden Frauen scheinen schon etwas älter zu sein, sie sind schon entwickelt. Ein Heldenroman? Die beiden scheinen mir keine Heldinnen zu sein. Doch wer weiß, verwirf das nicht ganz. Streitigkeiten, beziehungsweise die Fähigkeit und fast würde ich sagen, die Lust sich auseinanderzusetzen, verweisen doch auch immer auf mögliches heldenhaftes Verhalten.

Ein Umweltroman? Na ja, Vesperdosen könnten in ihrer Entstehung, möglicherweise auch durch Gebrauch und Entsorgung, durchaus umweltrelevant sein.

Ein Zukunftsroman, hinweisend auf den kommenden Nahrungsmangel, auch bei uns, entstanden durch den sich deutlich abzeichnenden Klimawandel. Da würden dann Vesperdosen überflüssig werden.

Ein Liebesroman? Zwei Frauen lieben denselben Mann oder dieselbe Frau und versorgen ihn oder sie mit Häppchen für den Büroalltag.

Oder sollte es doch, was durch Anfang und Schluss vorgezeichnet scheint, ein Kriminalroman werden?

Denkbar wäre auch eine Verknüpfung von mehreren Themen. Nicht nur denkbar, sondern notwendig. Wie sollte ein Kriminalroman mit einer tödlichen Tat ohne Liebeshändel auskommen? Und hier könnten auch Umweltsünden im Allgemeinen hineinspielen.

Du bist von meinen Überlegungen nicht begeistert, ich spüre es. Solche Romane und Erzählungen kennst Du zur Genüge. Ich weiß, doch was könnte so unbekannt sein, um deine Neugierde zu erregen und keine Langeweile aufkommen zu lassen. Die menschlichen Tragödien ereignen sich nun einmal immer aufs Neue, nur in kleinen Variationen. Und die Grundlage für Romane, aber auch für Theaterstücke, für das Kino oder für Opern ist doch immer wieder dieselbe: Macht, Liebe, Leidenschaft. In unserer Zeit ist noch vermehrt Geld bzw. Kapital als selbständige Komponente dazu gekommen, also der schnöde Mammon. Das ist nicht außer Acht zu lassen.

Ich kann nur vorsichtig auf mein Thema mit den Vesperdosen verweisen. Meine Meinung dazu: Dieses ist neu in der Literatur. Und ich behaupte keineswegs, dass Vesperdosen nur naturalistisch zu betrachten wären. Sie könnten durchaus Symbolcharakter besitzen. Sie könnten für etwas ganz anderes stehen. Dazu müsste der Charakter der Dose überhaupt geklärt werden. Dosen sind dazu da, etwa hineinzugeben. Etwas aufzubewahren. Etwas für später zu reservieren. Auch etwas frisch zu halten. Dosen können die unterschiedlichsten Formen besitzen. Meistens sind sie rund oder oval. Doch sind sie immer dazu da, etwas aufzunehmen.

Ich wollte dich jetzt keineswegs auf den Gedanken bringen, der dir so nahe liegend erscheint. Auch mir ist beim Schreiben der Symbolcharakter der Vesperdosen in Bezug auf das Geschlecht der beiden Schwestern aufgefallen. Dennoch war diese Symbolik bei der Wahl des Schlusssatzes der Erzählung über den Streit um die Vesperdosen nicht intendiert. Beabsichtigt war nur der Entwurf oder eigentlich nur der Gedanke einer heiteren Erzählung. Es ist ja heutzutage schwierig, gedanklich und sprachlich anspruchsvolle Themen an die Lesenden zu bringen. Viele Menschen wären, denke ich, gut bedient mit dem einen Satz, ja sogar mit dem schon erwähnten Einwort-Roman. Aber ich schreibe ja hier für dich, die du mich so aufmerksam begleitest. Und dir möchte ich auf keinen Fall nur ein einzelnes Wörtchen bieten.

Du zwingst mich allerdings dazu, mein Thema mit den Vesperdosen noch einmal zu überdenken. Auch meine Form müsste noch klarer erkennbar sein. Ein Roman scheint mir zu umfangreich. Es könnte dann doch bei einer Kurzgeschichte oder Erzählung bleiben, diese könnten mir möglicherweise am besten gelingen. Die Anforderungen sind überschaubar. Ich müsste mir nicht die vielen Dialoge aus den Fingern saugen und mir Gedanken um den sprachlichen Duktus der Figuren machen. Gelassen könnte ich mich einer fließenden Welle der Sprache hingeben. Wenn denn die Fabel geklärt wäre.

 

 

3

Mitten ins Herz

Natürlich habe ich, so wie alle Schreibenden, mehrere Geschichten im Kopf. Da wäre zunächst, abgesehen von den beiden Schwestern mit den Vesperdosen, die Geschichte von der jungen Frau, die ihren Mann mit der Armbrust, fast hätte ich geschrieben: erlegte. Nein, ich sage es zivilisiert: erschoss. Was für ein Drama könnte das gewesen sein. Was für ein Plot.

Was hat diese Frau dazu gebracht, den Mann, den sie doch einmal liebte oder zu lieben glaubte, vom Leben zum Tode zu befördern. Das ist sicher die entscheidende Frage. Aber da ist ja noch die Armbrust. Dieses Instrument oder Gerät, gar Sportgerät, ist nur den wenigsten bekannt. Schon ein solcher Umstand könnte das Interesse an meiner Erzählung wecken. Ich würde natürlich, ich weiß, dass du dies von mir erwartest, dieses tödliche Sportgerät näher beschreiben, ja, beschreiben müssen. Kein Mensch bleibt gerne im Ungewissen, wenn es sich darum handelt, vielleicht später einmal für seine näheren Verwandten oder Bekannten, Angetrauten oder Lebensgefährten eine Todesart ausdenken zu wollen.

Erfreulicherweise setzen diejenigen, die diese Gedanken hegen, sie nur selten in die Tat um. Die Handhabung einer Armbrust ist natürlich auch nicht von heute auf morgen zu erlernen. Und wer wollte schon bei der Hochzeit an eine solche, sicher blutrünstige Todesart denken.

Aber das könnte durchaus eine junge Frau sein, zum Beispiel unter Zwang verheiratet mit einem völlig fremden, ungeliebten Mann. Man denke sich nur in eine solche junge Frau hinein. Lebt in unserer Umgebung, vielleicht sogar in deiner Nachbarschaft. Ist selbstverständlich auch hier aufgewachsen. Ist gerade dabei, einen Beruf als Verkäuferin zu erlernen. Und da kommt doch eines Tages der Vater auf die Idee, man könnte, wie vor zwei Jahren, wieder einmal den Jahresurlaub in der Türkei verbringen.

Eigentlich wollte sie ja nicht mitfliegen, die junge Ayshe. Sie flirtete jetzt schon einige Wochen mit einem Jungen, der sie beim Brötchenholen angesprochen hatte. Mit ihm auszugehen hatte sie sich bisher nicht getraut. Da sei sie jetzt doch noch zu jung dazu, meinte die Mutter. Aber wenn die Filiale leer war, redeten die beiden über sich, über ihre Familien, ihre Arbeit, ihre Ausbildung und darüber, was sie sich für die Zukunft vorstellen könnten. Einmal war sie auch tatsächlich mit zu ihm gegangen. Hatte ihn begleitet auf dem Nachhauseweg. Den Eltern hatte sie von einer Freundin erzählt, mit der sie ins Kino gehen würde. Es waren ein paar vergnügte Stunden gewesen. Sie hatten viel herumgealbert, viel gelacht und seine tollen CDs gehört. Ayshe hatte den Eindruck gehabt, dass ihr neuer Freund auch noch nicht so recht wusste, wie sie es anfangen sollten, sich näher zu kommen. Sie hatte sehnsüchtig darauf gewartet, wenigstens geküsst zu werden, aber wie sollte sie ihn dazu bringen. Direkt fragen wollte sie ihn nicht, es reichte schon, dass sie ihm sagte, dass sie es ganz super fand, dass er gerade bei ihr seine Brötchen holte und wie sehr sie sich darüber freute. So war es dann doch beim Teetrinken geblieben und bei einer noch fremden, unbeholfenen Umarmung vor der Haustüre. Aber nach wie vor war er in den Laden gekommen, sich seine zwei Brötchen bei ihr abzuholen. Sie wartete jeden Tag sehnsüchtig auf ihn.

Dann kam die Idee auf, den Urlaub dieses Jahr wieder in der alten Heimat zu verbringen. Ayshe hätte sich unter anderen Umständen sicher gefreut. Sie liebte die Großeltern, die Tanten, Onkel und ihre Cousins. Sie genoss auch das ganz andere Lebensgefühl in einem kleinen Dorf. Dort redeten alle miteinander, grüßten sich, wussten genau über sie Bescheid, wessen Tochter sie war, wo sie in Deutschland wohnte, sogar, dass sie den Schulabschluss mit besten Noten bestanden hatte. Und auch die Landschaft in ihren warmen Braun- und Rottönen und der Umgang mit den Tieren im Stall der Großeltern machten sie glücklich.

Aber dieses Jahr freute sie sich nicht darauf. Sie wollte hierbleiben, wollte mit ihrem Freund ins Schwimmbad gehen. Sich mit ihm treffen und einmal so richtig Zeit haben, mit ihm zusammen zu sein. Sie hatte sich das gut ausgedacht, die Eltern und der kleine Bruder waren weg und sie hätte freie Bahn.

Aber du ahnst es schon, leider waren es Wunschträume, die sie ganz schnell wieder begraben konnte. Sie musste mit in die Türkei. Was dann passierte, passiert immer wieder und ist kein schönes Kapitel im Buch der Frauenrechte. Ayshe bettelte und bat die Mutter, sie solle den Vater umstimmen. Die Mutter versuchte noch mit dem Vater zu reden. Ayshe sei nun doch schon so gut wie erwachsen und sollte selbst entscheiden können, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen möchte. Doch der Vater sprach ein Machtwort und so wurde der Urlaub in der Türkei verbracht.

Im Dorf kam dann ein junger Mann zu den Großeltern zu Besuch. Anscheinend kannte ihn der Vater. Man trank Tee, redete und erzählte und verbrachte einen gemütlichen Nachmittag. Ayshe war ahnungslos, bis der Vater ihr mitteilte, dass der junge Mann sie heiraten wolle und er zugestimmt habe. Ayshe war fassungslos. Dass der Vater streng war, daran hatte sie sich gewöhnt, das kannte sie nicht anders. Aber dass er sie jetzt verheiraten wollte mit einem ihr ganz fremden Mann, das war zuviel. Sie versuchte alles, vor allem auch über die Mutter, den Vater umzustimmen. Irgendwie kam ihr das Ganze unwirklich vor. Sie konnte es eigentlich nicht ernst nehmen. Und doch, Hochzeitsvorbereitungen wurden getroffen und es sah alles danach aus, dass der Vater seinen Willen bekommen sollte.

Ayshes Tage wurden zum Martyrium. Sie weinte, bis sie einschlief und wenn sie aufwachte, weinte sie aufs Neue. Zuerst wollte sie weglaufen, doch wohin sollte sie sich wenden. Die Großmutter tröstete sie und konnte ihre Verzweiflung nicht verstehen. Sie selbst hatte auf diese Weise den Großvater geheiratet, was war dagegen einzuwenden. Es würde schon alles gut werden, meinte sie. Aber, was konnte in so einem Fall schon gut werden.

Ayshe würde sich umbringen. Sie überlegte sich eine gute Todesart. Sollte sie vom nahen Badefelsen in den reißenden Fluss springen, sollte sie sich erhängen oder sich die Pulsadern öffnen? Alle diese Todesarten schienen ihr gleich unsicher zu sein. Sie hatte Angst davor, ihr junges Leben so zu beenden. Niemals würde sie dann ihren Freund in Deutschland wiedersehen. Und sie hatte doch solche Sehnsucht nach ihm. Gerne hätte sie ihm geschrieben. Hatte auch seine Adresse sorgfältig und doppelt in ihren Heften notiert. Doch was hätte es ihr geholfen, er konnte doch nicht einfach zu ihr ins Dorf kommen. Wie sollte das gehen.

Ihre Verzweiflung wurde größer, je näher der Tag der Hochzeit rückte. Der Vater hatte keine Zeit verstreichen lassen. Sie mussten ja bald wieder zurückfliegen und alles sollte bis dahin erledigt sein. Tränenreich wurde die Hochzeit vollzogen. Die Hochzeitsnacht war eine einzige Katastrophe. Stumm und unbeteiligt ließ die junge Frau alles über sich ergehen. Der Bräutigam war zwölf Jahre älter als sie und schien schon einige Erfahrung zu haben. Für sie war es ein einziger Schrecken, sich durch so einen kaum bekannten Mann besudeln zu lassen. Es war praktisch dann doch eine Vergewaltigung.

Ja, das war es. Du denkst vielleicht, so drastisch sollte man das nicht ausdrücken. Aber, überlege doch, wenn du zu gar nichts bereit bist und es trotzdem kein Entkommen gibt. Was ist das dann?

Für den Mann war es sicher auch kein Vergnügen, sollte man denken. Doch für ihn war die Passivität Ayshes nicht nur kein Problem, sondern es stachelte ihn geradezu an, mit ihr zu machen, was er wollte. Und nicht nur im Dorf war es so. Er wohnte nach dem Rückflug zunächst zusammen mit Ayshe bei ihren Eltern. Aber als er Arbeit gefunden hatte und sie in einer eigenen kleinen Wohnung wohnten, wurden die Übergriffe, sein gewalttätiges Eindringen in sie, seine Beschimpfungen und die Schläge nur noch zahlreicher und heftiger. Ayshe hatte ihren Ausbildungsvertrag gekündigt, das heißt ihr Ehemann hatte es für sie erledigt. Sie sollte im Haus sein, ihn versorgen und Kinder gebären.

Vielleicht scheint es dir noch zu früh zu sein, über eine gewalttätige Lösung nachzudenken. Aber die Schwelle für das Erdulden von Gewalt ist bei den Menschen unterschiedlich angelegt. Manche ertragen sie ein Leben lang, andere erstechen ihren ungeliebten Bräutigam schon in der Hochzeitsnacht. Ayshe wartete allerdings noch ab. Sie konnte diesen Mann nicht liebgewinnen. Nicht nur die Art des Kennenlernens, sondern vor allem sein Verhalten ihr gegenüber machten es ihr unmöglich, einen Funken von Zuneigung oder Verständnis für seine Situation zu spüren. Um genau zu sein, sie spürte überhaupt nichts anderes mehr als ihren Körper. Ihre blauen Flecken waren zahllos. Ihr Geschlecht ständig entzündet und die gequetschten Brüste schmerzten heftig. Sollte es so weitergehen? Nein. Sie begann tagtäglich über ihre Befreiung nachzudenken. Die Mutter beruhigte sie, sprach wohl auch mit dem Ehemann, doch es blieb alles bei Andeutungen und von seiner Seite alles beim Alten.

Hier nun möchte ich auf die Armbrustschützin zurückkommen. Diese Art der Lösung scheint für Ayshe nicht die richtige zu sein. Ich denke, ich habe hier eine Geschichte erzählt, deren Ende auf keinen Fall mit dem Schuss aus einer Armbrust zu gestalten ist. Ich weiß, du bist enttäuscht. Du hättest mir mehr zugetraut an Phantasie. Natürlich könnte ich Ayshe einen Sportverein besuchen und sie dort das Armbrustschießen erlernen lassen. Schreibend hätte ich damit kein Problem. Aber das würdest du mir nicht abnehmen, eine junge Türkin, die im Sportverein das Armbrustschießen lernt, das ist weit hergeholt. Außerdem kam sie ja kaum mehr aus dem Haus. Sie war doch dazu da, ihren Pascha zu befriedigen und zu versorgen.

Ich hätte sie allerdings mit einem freundlichen, verständnisvollen Onkel oder Großvater versehen können und einer davon hätte es ihr beigebracht, im Urlaub, im Dorf in der Türkei. Das hätte ja sein können. Doch dazu kenne ich die Verhältnisse nicht gut genug. Ich kann mir denken, dass es in so einem Dorf Waffen gibt, um die wilden Tiere von den Schafen fernzuhalten, ob dies allerdings Armbrustwaffen sind?

Wie schon gesagt, ich habe mich verrannt. Diese Art der Lösung ist nichts für Ayshe. Und doch kannst du dir denken, dass sie meine volle Sympathie genießt und ich sie auf keinen Fall ein Leben lang diesen Verhältnissen aussetzen will. Eine Lösung muss gefunden werden.

Eines Nachts jedoch, als ihr Mann tief und fest schlief, nahm die junge Frau ein Küchenmesser, das schärfste, das sie hatte, und stach es ihrem Mann mitten ins Herz.

Wie findest du das? Ich weiß, das klingt wie der Schluss eines bösen Märchens. Du meinst, ich könne dann ja gleich noch anfügen: Und wenn sie nicht gestorben - fast hätte ich geschrieben: sind, nein, es muss heißen: Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute. Aber war da nicht noch ein Zusatz von Glück oder Zufriedenheit? Siehst du, das kann in unserem Fall gar nicht hier stehen. Die Wirklichkeit war so: Ayshe kam einige Jahre später aus dem Gefängnis frei. Sie hatte dort ihre Bäckerlehre abgeschlossen. Ihr ehemals junger deutscher Freund war inzwischen verheiratet, wohnte jedoch immer noch in der Nähe der Bäckereifiliale, in der Ayshe wieder eine Anstellung gefunden hatte. Seine Brötchen holte er immer alleine, doch Ayshe konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Sie hat nie wieder geheiratet.

Das gefällt dir nicht. Da kann ich nichts machen. Ich kann aufschreiben, was ich erfahre, was ich sehe, was ich denke. Aber gegen die schreckliche Wirklichkeit bin ich machtlos. Klar, ich hätte dieser jungen Frau ein wunderbares Ende erschreiben können. Ich hätte die beiden, die sich vor der erzwungenen Heirat kennen gelernt hatten, zusammenführen können. Jetzt, nach so vielen Jahren wäre das ein schönes und frohes Ende gewesen. Aber wer weiß, wir kennen den jungen Mann ja nicht. Wir wissen kaum etwas über ihn. Wir wissen, dass er gerne frische Brötchen isst oder sie doch kauft. Doch das könnte durchaus seiner damaligen Verliebtheit zugesprochen werden. Wir wissen, dass er jung war. Wir wissen, dass er in Ausbildung war wie Ayshe, aber in welcher Sparte, das wissen wir nicht. Wir wissen nicht einmal, was er denkt oder damals dachte. Ob er zärtlich war. Ob er respektvoll war. Ob er Kinder gerne mochte. Ob er Familie hatte. Wie sein Verhältnis zu seinen Geschwistern war. Ob er klug war. Ach, wir wissen eigentlich nichts über ihn.

Du meinst, ich könnte das jetzt noch nachholen. Um ehrlich zu sein, dazu habe ich im Augenblick keine Lust. Ayshe war für kurze Zeit meine Protagonistin und das mit der Armbrust ist in ihrem Fall gründlich schief gegangen. Und der Schluss einer Geschichte kann nicht immer nur glücklich sein. Aber wir werden sehen, ob sich für die Armbrust nicht doch eine Frau findet, die besser zu ihr passt. Ich will das Thema nicht einfach wechseln, das mag ich nicht. Eine andere Geschichte muss her für diese Armbrust.

 

 

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Mörderin auf Stilettos

Ich könnte mir dazu eine geldgierige junge Schönheit denken, die sich ihren Partner nur nach monetären Gesichtspunkten ausgewählt hätte. Dennoch, eine Armbrustmörderin auf Stilettos ist wenig vorstellbar, da wäre das Rattengift für den alternden Playboy doch sicherer. Und vor allem weniger blutig.

Weiß ich denn, ob sie nicht die flachen Sportschuhe getragen hat, Isabel, die schöne, die hellblond gefärbte.

Das ist ein guter Anfang, wie ich finde. Da könnte etwas daraus werden, denkst du nicht?