Schmutztitel
Titel

Geheimnisvoller Liebestrank

Ann-Katrin Heger

KOSMOS

Umschlagillustration von Ina Biber, Gilching

Umschlaggestaltung von Sabine Reddig

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© 2020, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50055-2

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

1 + 1 + 1 = 1

Der Oktobernebel hing schwer in den Büschen und Bäumen im Garten der Grevenbroich-Villa. Nur die gelbroten Blätter des alten Ahornbaums leuchteten als bunte Farbflecken durch die weißen Schwaden.

Marie fröstelte. Sie klemmte ihre Füße zwischen Wand und Heizkörper, wärmte sich die Hände an einer heißen Tasse Orangentee und starrte durchs Fenster auf den Kiesweg, der zur Eingangstür der Villa führte. Wo blieben Kim und Franzi? Sie hatten vor einer Stunde geschrieben, dass sie kommen würden. Marie freute sich schon, ihnen die tollen Neuigkeiten zu erzählen. Tessa, ihre Stiefmutter, die als Kamerafrau beim Film arbeitete, hatte Marie angeboten, am nächsten Wochenende zu Dreharbeiten mit ihr nach Schönburg zu kommen. Und Tessa hatte vorgeschlagen, auch Franzi und Kim zu fragen. Herrlich. So ein Freundinnenwochenende konnten sie gut gebrauchen. Kein Schulstress, keine Jungs und auch sonst niemand, der ihnen in die Quere kommen konnte. Nach so vielen gelösten Fällen hatten sie sich ein bisschen Ruhe verdient.

Marie setzte sich auf und drehte am Knauf der Heizung. Stufe 5. Warum wurde das blöde Ding nur so langsam warm? Sie mochte die alte Villa, in der sie seit ein paar Jahren mit ihrem Vater, Tessa, deren Tochter Lina und ihrem kleinen Bruder Finn lebte, wirklich gerne, aber wärmetechnisch war das alte Haus eine einzige Katastrophe. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. In diesem Moment poppte eine Nachricht auf.

Meine Fahrradkette springt mal wieder einfach so in der Gegend rum. Franzi hilft mir. Sind in zwanzig Minuten bei dir. Kim

Marie seufzte. Zwanzig Minuten? Was konnte sie in zwanzig Minuten Sinnvolles tun?

Englischvokabeln lernen? … Wäre gut.

Den Riss in ihrem Lieblingsrock flicken? Wäre besser.

Wasser in die Wanne einlaufen lassen und sich richtig aufwärmen? Wäre am besten!

Schnell lief sie ins Badezimmer, öffnete den Hahn und kippte ein wenig Badesalz der Duftnote Ruhig wie ein Bergsee hinein. Ein tiefer Atemzug. Ah. Die zwanzig Minuten würden wie im Flug vergehen.

Rrrrrriiiiiing!

Marie öffnete die Augen, schob einen Berg Schaum zur Seite und schlüpfte in ihren flauschigen Bademantel. »Ich komme!«, rief sie, sauste mit tropfenden Haaren die Treppe hinunter und öffnete die Tür.

»Hallo!«, sagte Franzi. »Sorry, dass wir so spät sind. Eine VerKETTUNG unglücklicher Umstände.« Sie kicherte.

»Du dampfst«, stellte Kim mit einem Blick auf Maries nasse Haare fest. Dann hielt sie ihre Hände hoch, die vom Öl der Fahrradkette verschmiert waren. »Ich umarme dich lieber erst, wenn ich selber in der Wanne war – oder zumindest meine Hände!«

Kim und Franzi streiften die Schuhe ab und folgten Marie in ihr Zimmer und dann ins Badezimmer.

Marie föhnte sich die langen blonden Haare, während Kim und Franzi verzweifelt versuchten, die Schmiere von ihren Händen zu rubbeln.

Marie stieg in ihren grauen Plüscheinteiler, setzte sich im Schneidersitz auf ihr rotes Sofa und rief: »Seid ihr bereit für die große Überraschung? Tada!«

Kim und Franzi blickten einander überrascht an und nickten.

»Das nächste Wochenende wird wie kein zweites werden«, fuhr Marie fort. »Denn Tessa lädt uns zu Dreharbeiten ein. Wir werden zwei ganze Tage lang Zeit zum Quatschen, zum Bummeln und Schlafen haben. Na, wie wäre das? Seid ihr dabei?« Marie strahlte übers ganze Gesicht und sah ihre Freundinnen erwartungsvoll an.

»Nächstes Wochenende?«, fragte Franzi gedehnt. »Ich habe meinem Vater versprochen, ihm mit einem hoffnungslos untalentierten Ritter zu helfen, der besser reiten lernen muss.«

»Verstehe ich nicht«, antwortete Kim. »Wie soll das denn gehen?«

Franzi winkte ab. »Ach, nicht so wichtig, die Sache ist kompliziert. Allerdings bedeutet das, dass ich nicht mitkommen kann.«

Marie ließ enttäuscht die Arme sinken. »Klar, verstehe ich«, sagte sie.

Kim rutschte unruhig hin und her. »Ich kann nächstes Wochenende auch nicht«, gab sie zu. »Sebastian hat mich gebeten, einen Artikel zu schreiben. Dafür bin ich das ganze Wochenende unterwegs.«

Marie nickte. Sie hatte es sich so schön ausgemalt, mit Kim und Franzi durch Schönburg zu schlendern. Es wäre noch dazu kein normaler Stadtbesuch gewesen. Schönburg spielte an diesem Wochenende das große Hochzeitsfest von Heinrich und Ottilie nach. Mit richtigen Schauspielern und großem Mittelaltermarkt, der sich durch die ganze Stadt zog.

»Da kann man nichts machen. Überraschungen sind eben immer für eine Überraschung gut«, sagte sie und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Vielleicht können wir den Ausflug nach Schönburg nächstes Jahr zusammen machen.«

»Schönburg?«, rief Kim. »Sag das doch gleich. Da bin ich auch.«

»Du auch?« Franzi staunte.

Kim legte den Kopf schief. »Du etwa auch?«

Alle drei kicherten los.

»Also, ich bin an diesem Wochenende in Schönburg, um einen Artikel über die Hochzeit zu schreiben«, meinte Kim.

»Der hoffnungslose Ritter, dem ich aufs Pferd helfen soll, ist ebenfalls in Schönburg.« Franzi klatschte sich auf die Knie.

Marie sah ungläubig zu Kim und dann zu Franzi. »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, soll das etwa heißen …«

»Genau das heißt es. Überraschung!«, unterbrach Franzi sie. »Wir sind ALLE DREI in Schönburg. Manchmal macht eins plus eins plus eins eben eins und nicht drei!«

»Und Überraschungen sind immer für eine Überraschung gut«, rief Kim und grinste.

Leere Bäuche

Marie schob die Tür des Kleinlasters auf. Finn, ihr dreijähriger Bruder, saß freudestrahlend auf seinem Kindersitz, der auf allen Seiten von Kamerataschen und Stativen eingebaut war.

»Ritter sind noch viel cooler als Feuerwehrmänner«, quietschte er. »Lass mich schnell raus, ich will einen sehen. So einen echten. Mit Rüstung und Pferd und Pflanze!«

Marie kicherte, als sie sich einen Ritter hoch zu Ross vorstellte, der eine Primel in der Hand hatte. »Du meinst Lanze, oder?«

»Ich meine das lange Stechding«, sagte Finn und kletterte aus dem Auto. Er sah sich um. »Wo sind die denn alle? Mama hat mir versprochen, dass es hier ganz viele gibt.«

Marie nahm ihren Bruder auf den Arm und küsste ihn auf die Wange. »Die sehen wir bestimmt noch. Franzi muss sogar einem von ihnen das Reiten beibringen.«

»Echt?« Finn riss die Augen auf. »Meine Franzi?«

Marie lachte. »Ja, deine Franzi. Und ja, ich glaube, dieser Ritter hat sogar Schwierigkeiten, überhaupt aufs Pferd zu kommen.«

»Mama!«, rief Finn und rannte auf Tessa zu, die die restlichen Sachen aus dem Auto holen wollte. »Meine Franzi gibt einem Ritter Nachhilfe! Witzig, oder?«

»So könnte man das sagen, Finn.« Tessa zwinkerte Marie zu. »Komm, wir gehen mal zur Burg, mein Großer. Ich glaube, da habe ich vorhin einen Ritter gesehen.«

Marie winkte ihrer Stiefmutter und ihrem kleinen Bruder nach. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Finn war einfach so niedlich. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie lange Zeit mit ihrem Vater alleine gelebt. Sie hatte sich gefreut, als er Tessa kennengelernt hatte. Mit Tessas Tochter Lina hatte Marie sich nicht immer so gut verstanden wie jetzt. Mittlerweile, vor allem seit ihr gemeinsamer Bruder Finn auf der Welt war, fühlte es sich aber nach ganz normaler Familie an. Meistens toll, aber manchmal auch zum Wahnsinnigwerden …

»Hunger!«

Marie sah sich um. Die Stimme kannte sie doch!

»Kim, cool, dass du auch schon da bist!«

»Wenn ich nicht in den nächsten Minuten etwas zu essen bekomme, bin ich nicht mehr da. Dann habe ich meine letzte Kalorie verbraucht und es rafft mich dahin!« Sie ließ die Zunge heraushängen und verdrehte die Augen.

»Hey, die Rolle der Drama-Queen hab ich doch normalerweise«, sagte Marie und nahm Kim den großen Rucksack ab, den sie auf dem Rücken trug.

»Aber nicht, wenn es um Essen geht!« Kim erhob den Zeigefinger und wackelte damit vor Maries Nase herum. »Ich habe einen Zug eher genommen«, erklärte sie. »Um die Stadt in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Bevor sich die Massen durch die Straßen drängen und die Fressstände leer gegessen sind.«

»So schlimm wird es schon nicht werden«, meinte Marie. »Entschuldige noch mal, dass du extra anreisen musstest. Aber unser Kleinbus war voll bis obenhin.«

»Überhaupt kein Problem. Ich habe im Zug gleich ein paar Besucher interviewt.« Kim schwenkte ihr Notizbuch. »Allein daraus könnte ich schon einen Artikel machen.«

Die kleine Stadt Schönburg präsentierte sich von ihrer schönsten Seite. Aus den Fenstern, die zur Hauptstraße zeigten, hingen Fahnen mit dem Wappen der Burgherrenfamilie – ein Buch, davor eine dampfende Tasse Tee und als Verzierung Holunderblüten.

Überall hingen bunte Plakate, die für die Aufführung der historischen Hochzeit am Sonntag warben und auch die restlichen Programmpunkte des Wochenendes ankündigten: ein 500 Jahre altes Buch sollte überreicht werden, Gaukler führten ihre artistischen Künste vor, mittelalterliche Bands gaben zahlreiche Konzerte und nicht zuletzt sollte ein Mittelaltermarkt im Burggraben stattfinden, der alles feilbot, was es vor 500 Jahren an Kräutern, Tinkturen, Gewandung, Waffen und Nahrungsmitteln gegeben hatte.

Kim und Marie kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Das Schmuckstück der Stadt aber war die Burg aus hellem Sandstein. Sie thronte auf einem Hügel mitten in der Stadt. Der Burgfried, der höchste Turm der Burganlage, ragte hoch über alle Häuser; man konnte ihn von überallher sehen und sich an ihm orientieren.

»Die meisten mittelalterlichen Stände sind in dem ausgetrockneten Wassergraben rund um die Burg herum«, erklärte Kim. »Zumindest war das die Info, die mir Sebastian gegeben hat. Ich würde mir gerne mal einen Überblick über das Essensangebot verschaffen.«

Marie sah auf die Uhr. »Franzi müsste in zehn Minuten ankommen. Vielleicht laden wir erst einmal deinen Rucksack in der Pension ab, warten dort auf sie und gehen dann mit ihr zusammen in den Burggraben.«

Kim überlegte kurz und kramte in der Hintertasche ihrer Jeans. Sie zog ein verknautschtes, fast leeres Päckchen Studentenfutter heraus, schüttete sich den Rest auf einmal in den Mund und kaute genüsslich. »Nüsse sollen sehr gut gegen Verhungern sein«, sagte sie mit vollem Mund. »Hatte kurzzeitig vergessen, dass ich sie noch habe. Also, die Pension zuerst.«

Marie schüttelte den Kopf und lächelte. Kim und Essen. Die beiden waren einfach ein Dreamteam!

Sie mussten gar nicht mehr warten. Franzi saß in einem Ohrensessel in dem kleinen Empfangsraum der Pension und pustete in eine dampfende Tasse Tee, die sie in den Händen hielt.

Als sie Marie und Kim entdeckte, stellte sie die Tasse ab und begrüßte die beiden. »Bringt schnell eure Sachen aufs Zimmer. Ich warte hier solange und trinke Tee. Den müsst ihr probieren. Es ist der berühmte Holunderblütentee von Schönburg!«

»Sind das die beiden ausstehenden Gäste für das Triple-Zimmer?«, fragte der Mann hinter dem Tresen der Rezeption und hielt Kim und Marie jeweils einen Schlüssel entgegen. »Viel Spaß bei den Hochzeitsfeierlichkeiten!«

Marie und Kim legten die Rucksäcke in ihr Zimmer und waren nur wenige Augenblicke später wieder unten bei Franzi. Auf dem kleinen Tisch standen nun noch zwei dampfende, duftende Tassen.

»Begrüßungsdrink der besonderen Art.« Der Mann hinter dem Tresen schmunzelte. »Geht natürlich auf Kosten des Hauses.«

Marie setzte sich und schnupperte. Das roch wirklich sehr gut. Vorsichtig nahm sie die Tasse und nippte. Es schmeckte toll.

»Lecker«, bestätigte Kim. »Allerdings schwemmt der Tee die Nüsse irgendwie weg und …«

Marie kicherte. »Wir gehen sofort, um dir etwas zu essen zu besorgen. Wir haben noch genug Zeit, bevor wir uns mit der Bürgermeisterin, Frau Thiese, auf der Burg treffen.«

»Hendrik, der Typ, der den Ritter spielt und dem ich das Reiten beibringen soll, wird auch da sein. Mal sehen, wie der so drauf ist. Ich mache das echt nur meinem Papa zuliebe. Der kennt Frau Thiese von früher und sie hat ihn in diesem Fall um Rat gebeten, weil er so eine unendliche Geduld hat. Und weil Papa findet, dass ich sogar noch mehr Geduld habe, habe ich jetzt den Job …«, meinte Franzi.

»Klingt ja gruselig. Warum haben sie denn nicht einfach einen anderen Ritter ausgesucht? Einen, der reiten kann«, fragte Kim.

Franzi zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber wir werden das Pferd schon schaukeln, oder wie dieses Sprichwort heißt!«

Die Stadt füllte sich allmählich mit Besuchern. Anscheinend hatten einige ein ganzes Wochenende in Schönburg eingeplant und waren jetzt auch auf der Suche nach etwas Essbarem. Die drei !!! ließen sich die Straße mit den Fachwerkhäusern entlangtreiben, bis sie zum Eingang des Burggrabens gelangten.

Der Duft von offenem Feuer und gebratenen Zwiebeln stieg Marie in die Nase.

Zielstrebig ging Kim auf einen Stand zu, der ganz aus Holz gearbeitet war. Pausenjause, stand auf dem rustikalen Schild, das auf dem Dach der Hütte montiert war. Darunter: Inhaber Günther Lamprecht. »Ich nehme einen Dinkel-Käse-Fladen«, hörte Marie Kim sagen.

Plötzlich hatte Marie auch Lust, eines der leckeren gerösteten Brote zu essen. Sie betrachtete die belegten Teigfladen und entschied sich für Sesam-Frühlingszwiebel.

Ein kräftiger Mann um die fünfzig nahm die Hände aus der großen hölzernen Knetschüssel, wusch sie und trocknete sie an einem groben Leinentuch ab. Dann reichte er Marie und Kim die warmen Brote. »Das sind Originalrezepte von 1520«, erklärte er. »Damals wurden die Fladen auch über dem offenen Feuer geröstet. Lasst es euch schmecken!«

Marie gab Franzi ein Stück ab und alle drei waren sich einig, dass sie selten so etwas Leckeres gegessen hatten.

»Das war nicht mein letzter Besuch bei der Pausenjause«, sagte Kim und wischte sich mit einem Tuch die fettigen Lippen ab.

»Aber für diesen Nachmittag schon«, sagte Marie. »Wann haben wir den Termin mit der Bürgermeisterin?«

Kim sah auf ihr Handy. »Mist. Er ist genau jetzt!«

Die Legende von Ottilie und Heinrich

Sie rannten den Burggraben entlang und die Treppen nach oben. Dann über die Brücke, die in die Burganlage führte.

Kurz nach dem Falltor war eine Schranke mit rot-weiß gestreiftem Sperrgitter heruntergelassen. Rechts und links war kein Platz mehr, sich hindurchzuquetschen.

»Haben wir uns wirklich hier mit Frau Thiese verabredet?«, fragte Marie Kim. »Sieht so aus, als dürfte da niemand rein.« Sie beugte sich über die Schranke, um besser sehen zu können. »Da ist schon alles für die Feierlichkeiten vorbereitet.«

Kim blickte ratlos auf ihr Handy. »Doch. Es stimmt alles. Frau Thiese schreibt, dass sie uns im Burghof erwartet.«

In diesem Augenblick kam eine schlanke Frau mit kurzen roten Haaren um die Ecke.

»Entschuldigt!«, rief sie. »Die Sicherheitsleute waren supergründlich. Ich suche den Hausmeister, damit er die Schranke öffnen kann.«

»Nicht nötig.« Franzi ging in die Knie und kroch unter dem Gitter hindurch. »Das schaffen wir schon.«

Marie warf einen letzten Blick auf ihre neue weiße Jeans. Das würde nicht schmutzfrei abgehen. Das war klar. Aber sie würde sich an die Flecken auf den Knien schon irgendwie gewöhnen. Die Alternative für den heutigen Tag wäre gewesen, zu ihrer blauen Tunika mit dem Pferdchenmuster eine schwarze Stretchhose zu tragen. Das hätte allerdings nicht halb so gut ausgesehen. Also hatte sie sich für die weiße entschieden. Auch weil sie dachte, dass sie bei einem Stadtausflug mit Kim und Franzi nicht so schmutzig werden würde wie bei einer Ermittlung. Da hatte sie sich wohl getäuscht.

Sie tauchte unter dem Gitter hindurch und versuchte, mit den Knien nicht den Boden zu berühren. Die Idee war gut – theoretisch. Denn als sie sich auf der anderen Seite nach oben schwingen wollte, glitt ihre Hand ab und sie landete auf dem Po. So schnell sie konnte, rappelte sie sich auf und klopfte den Staub ab. Mist.

Kim war ihr auf allen vieren gefolgt und stand auch schon wieder auf den Beinen.

»Prima, dass ihr so sportlich seid«, lobte Frau Thiese. »Bevor ich euch alles erzähle und zeige, möchte ich euch Anna und Hendrik vorstellen. Die beiden werden Ottilie und Heinrich spielen. Das Brautpaar der Schönburger Hochzeit, die vor genau 500 Jahren stattgefunden hat. Die beiden warten im Holundergärtchen auf uns.«

Die drei !!! folgten Frau Thiese in den Innenhof und liefen durch ein steinernes Tor in einen kleinen Garten. Die Kieswege dort waren im Kreis angeordnet, am Rand standen Bänke aus dunklem Holz, auf denen man sich niederlassen konnte. Holunderbüsche und Blumenbeete säumten die Wege. Die Holunderbeeren waren gerade geerntet worden, einige vertrocknete hingen allerdings noch an den Büschen.

In der Mitte des Rasenstücks stand ein Glaskasten mit etwas dunklem Viereckigen darin. Marie konnte es nicht so richtig erkennen. Neben dem Kasten warteten eine braunhaarige junge Frau und ein blonder Mann. Sie unterhielten sich angeregt, unterbrachen ihr Gespräch aber, als sie Frau Thiese bemerkten.

»Das sind die beiden! Hendrik und Anna!«, stellte Frau Thiese sie vor. »Und das hier sind Marie, Kim und Franzi. Maries Stiefmutter wird eine Dokumentation über unser Fest drehen. Kim schreibt einen Artikel für die Zeitung und Franzi ist dir bestimmt schon angekündigt worden, Hendrik, oder?« Frau Thiese lachte freundlich und Hendrik zog seine Augenbrauen hoch.

»Franzi, die Pferdeflüsterin?«, fragte er. »Ich bin erleichtert, dass du so nett aussiehst. Vor Pferden habe ich wirklich Bammel.«

Franzi gab Hendrik die Hand. »Keine Sorge«, sagte sie. »In deinem Fall werde ich mich dann wohl eher als Reiterflüsterin betätigen müssen. Dein Pferd ist lammfromm, ich habe es vorhin schon kennengelernt. Eine gerade Strecke im Schritt zu reiten, ich verspreche dir, das bekommen wir hin.«

»Wenn du das dem Pferd genauso sagst, bin ich einverstanden.« Hendrik sah von Franzi zu Anna, die sich allerdings gerade mit Kim unterhielt und ihm nicht zugehört hatte.

Marie merkte einen Moment der Enttäuschung auf seinem Gesicht, in der nächsten Sekunde hatte er sich jedoch schon wieder im Griff.

»Was ist denn das in dem Glaskasten?«, fragte Marie.

»Der Glaskasten ist ein ganz besonderer Tresor. Darin liegt ein uraltes Buch. Natürlich kann man es nicht herausnehmen und ansehen, denn die Temperatur und die Feuchtigkeit müssen überwacht werden. Und das kann nur der Glaskasten leisten«, erklärte Frau Thiese.

»Ist das das Buch, das morgen übergeben werden soll? Das geheime Leben der Kräuter