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Werner Pfab

Kompetent beraten in der
Sozialen Arbeit

Bausteine für eine gute Beratungsbeziehung

Mit 9 Abbildungen und 1 Tabelle

Ernst Reinhardt Verlag München

Prof. Dr. Werner Pfab, Dipl.-Psych., Kommunikationswissenschaftler, Fulda, ist Professor i. R. für Theorie und Praxis sozialer Kommunikation.

Außerdem von Werner Pfab (geb. Nothdurft) im Ernst Reinhardt Verlag/UTB lieferbar:

Hans-Peter Langfeldt / Werner Nothdurft: Psychologie. Grundlagen und Perspektiven für die Soziale Arbeit (5., aktual. Auflage 2015, ISBN 978-3-8252-8625-5)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02941-9 (Print)

ISBN 978-3-497-61308-3 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61309-0 (EPUB)

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Satz: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1Einleitung: Beratung als Beziehungsgestaltung

2„Dafür werden Sie doch bezahlt!“ – Beratung als Arbeitsbeziehung

2.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: Der aufdringliche Klient

2.2Beratung – eine Arbeitsbeziehung

2.2.1Beratung als „Dienstleistung“ – ein machtvolles Deutungsmuster

2.2.2Dienstleistung – ein fragwürdiges Deutungsmuster für Beratung

2.3Die Arbeitsbeziehung in der Beratungssituation: interaktiv bestimmte Arbeit

2.3.1Merkmale interaktiv bestimmter Arbeit

2.3.2Aushandlung – das Muster der Zusammenarbeit

3„Das hab ich noch nie jemanden erzählt“ – Beratung als Kooperationsbeziehung

3.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt : Pokerface

3.2Beraterin und Klient – zur Kooperation verdammt

3.3Resonanz – die elementare Interaktionsebene von Beratungsgesprächen

3.3.1Interaktive Wahrnehmung: Das unmittelbare Erleben

3.3.2Das Engagement der Beteiligten

3.4Die Kooperationsbeziehung und die Haltung der Beraterin

4„Versteh ich nich“ – Beratung als Expertin-Laien-Beziehung

4.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: die missglückte Erklärung

4.2Expertin – Laie: eine asymmetrische Beziehung

4.2.1Der Status der Expertin – und der des Laien

4.2.2Merkmale einer asymmetrischen Beziehung

5„Könn Se bei mir nich ne Ausnahme machen?“ – Beratung als professionelle Beziehung

5.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: … wieder bei Null

5.2Professionalität: Spannungsfelder institutioneller Beratung und wie die Beraterin sich in ihnen positionieren kann

5.3Das Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle

5.4Das Spannungsfeld von Therapie und Recht

5.5Das Spannungsfeld von Autonomie und Bürokratie

5.5.1Institutionelle Rahmenbedingungen

5.5.2Betriebskultur

6„Sind Sie noch dran?“ – Beratung als mediale Beziehung

6.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: Verstehen im Nachhinein

6.2Einige medientheoretische Klarstellungen

6.2.1Die theoriefixierte Reduktion von Beziehung auf die Face-to-Face-Beratung und die Hilflosigkeit vor der Praxis

6.2.2Die irreführende Hervorhebung von Face-to-Face-Beratung und die Idee von „Defiziten“

6.2.3Die verfehlte Analogiebildung von Sprechen und Schreiben und ihre Sprachverwirrung

6.3Medien-Beziehungen

6.3.1Die durch Stimmen hergestellte Beziehung – Telefon-Beratung

6.3.2Die durch Texte hergestellte Beziehung – Online-Beratung

7„Sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede!“ – Beratung als kulturelle Beziehung

7.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: Der freundliche Kopierdienst

7.2Kurzschlüsse in der interkulturellen Beziehung

7.3Kommunikationsgewohnheiten

7.3.1Wie man etwas sagt

7.3.2Wie man spricht

7.3.3Wie man zuhört und versteht

7.3.4Wie man blickt

7.3.5Wie man ein Problem darstellt

7.3.6Was, wenn man etwas nicht weiß

7.3.7Wie man Lösungsvorschläge versteht

7.4Behörden- und Rollenverständnis

7.4.1Behördenwahrnehmung

7.4.2Behördenverständnis

7.4.3Rollenverständnis

7.5Kulturelle Werte

7.5.1Das Verhältnis eines Menschen zur Zeit

7.5.2Das Verhältnis eines Menschen zu seinen Mitmenschen

7.5.3Das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst

8„Sie sehen aus wie mein Vater“ – Beratung als Bindungsbeziehung

8.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: Im falschen Film

8.2Erfahrungsorganisation als Grundlage individuellen Handelns in der Beratungssituation

8.2.1Konstruktionsprinzipien der Erfahrungsorganisation

8.2.2Das Selbstkonzept als dynamisches Zentrum der Erfahrungsorganisation

8.2.3Quellen der Erfahrungsorganisation

8.3Das interaktive Zusammenspiel von Erfahrungsorganisationen: Bindung und Verstrickung in der Beratungssituation

8.3.1Muster der Bindungsentfaltung

8.3.2Muster der Bindungsverstrickung

8.4Gestaltungsmöglichkeiten der Bindungsbeziehung durch die Beraterin

8.4.1Reflexion eigener Konstruktionen

8.4.2Zuhörhaltung: Fördernde Responsivität

9„Mir ist das so peinlich“ – Beratung als emotionale Beziehung

9.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: die bleierne Wolke

9.2Die Bedeutung von Gefühlen für die Beratungsbeziehung

9.3Das Affektprofil der Beraterin

9.3.1Unsicherheit in fachlichen Dingen

9.3.2Hilfsbereitschaft

9.3.3Überlegenheitsgefühl / Machtgefühl

9.3.4Misstrauen / Täuschungsverdacht

9.4Das Affektprofil des Klienten

9.4.1Scham

9.4.2Resignation

9.4.3Verzweiflung

9.4.4Wut / Verärgerung

10„Haben Sie überhaupt Kinder?“ – Beziehungsspiele in der Beratung

10.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: Vorgeführt

10.2Beziehungsspiele in der Beratungskommunikation

10.2.1„Spiele“?

10.2.2Die Natur von Beziehungsspielen

10.2.3Die Beraterin als Spielverderberin

10.3Vom Klienten initiierte Beziehungsspiele

10.3.1„Ja aber“ – das Einwandspiel

10.3.2Wer gibt zuerst nach? – Das Machtspiel

10.3.3„Sind Sie überhaupt …?“ – das Statusspiel

10.4Von der Beraterin initiierte Beziehungsspiele

10.4.1Der undankbare Klient – das Enttäuschungsspiel

10.4.2„Jetzt hab ich Dich, Du Schweinehund“

10.5Spiele zu Dritt: Ritterspiele

11„Was sagt denn Ihre Frau dazu?“ Beratung als konzeptionell-orientierte Beziehung

11.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: die systemische Weiterbildung und das plötzliche Ende einer Beratung

11.2Geht es auch ohne…? Die Rolle der Theorie in der Beratungspraxis

11.2.1Die Autonomie der Praxis

11.2.2Die Entdeckung „unspezifischer Faktoren“

11.3Die Funktion für die Beraterin: Sinn und Unsinn konzeptioneller Orientierung

11.4Die Beratungsbeziehung unter konzeptioneller Orientierung

11.4.1Der Status der Beziehung in verschiedenen Beratungskonzepten

11.4.2Die Beratungsbeziehung bei verschiedenen Beratungs-konzepten

12Supervision und Coaching als Reflexionsraum komplexer Beratungstätigkeit

12.1Was ist Supervision und Coaching?

12.2Themen und Funktion von Supervision

12.3Geschichtliche Entwicklung der Supervision

12.4Supervisionsformate – Arbeitsweise und Beziehungsdynamik

12.5Anforderungen an eine Supervisorin und Auswahl

12.6Institutionelle Einbindung der Supervision

12.7Ablauf einer Supervisionssitzung

12.8Was Sie sonst noch tun können…

Literatur

Sachregister

Vorwort

Der Inhalt dieses Buches beruht auf jahrzehntelanger Forschungsarbeit zu Beratungsgesprächen, auf meiner langjährigen Lehrtätigkeit zu Beratung in Studiengängen des Sozialrechts und der Sozialen Arbeit sowie auf meinen Erfahrungen in der Durchführung des Weiterbildungsstudiengangs „Professionelles Coaching und Supervision“.

Geschrieben wurde es für Beraterinnen und Berater, die im Kontext sozialer Dienste ihre anspruchsvolle Tätigkeit durchführen. Das Buch soll sie dabei unterstützen, zu einem vertieften Verständnis ihrer Beratungspraxis zu gelangen und die Beziehung zwischen sich und ihren Klienten produktiv zu gestalten und sie kompetent zu beraten. In dieser praktischen Absicht wurde das Buch geschrieben. Nun setze ich es dem Praxistest aus in der Zuversicht, dass es ihn bestehen wird.

Gewidmet ist dieses Buch meiner liebsten Beraterin, Antje Pfab, meiner Frau.

Fulda, im Herbst 2019Werner Pfab

1Einleitung: Beratung als Beziehungsgestaltung

Dieses Buch ist für Beraterinnen, die im Bereich Sozialer Dienste tätig sind, in Einrichtungen der sozialen und der sozialpädagogischen Arbeit, in sozialrechtlichen Institutionen, in der Arbeitsverwaltung, der Schuldnerberatung, der Erziehungs- und Ernährungsberatung, und anderen mehr. Es ist in jedem Fall für alle, die Beratungsarbeit leisten, die dadurch bestimmt ist, dass sie in Institutionen zwischen Fremden stattfindet mit dem Zweck, Ratsuchenden zu einer Lösung ihres Problems zu verhelfen. Informelle, freundschaftliche Beratung ist etwas anderes. Die Beratungstätigkeit in solchen Institutionen ist zum einen durch Fachkenntnisse bestimmt, auf deren Grundlage Beraterinnen professionell handeln können, d. h. ihre Klienten fachlich gut beraten. Die Tätigkeit ist zum anderen durch die Begegnung der Beraterin mit ihrem Klienten bestimmt. Um diese Begegnung geht es in diesem Buch.

„Die Beziehung zwischen BeraterInnen und KlientInnen ist die wichtigste Dimension einer jeden Beratungskonstellation. […] Der Erfolg jeglicher Beratungsbemühungen ist abhängig von der Berater-Klient-Beziehung, die im Beratungsprozess aufgebaut wird.“, so Nestmann im Handbuch der Beratung (Nestmann 2014a, 791).

Darum soll es im Folgenden gehen – um die Begegnung der Beraterin mit ihrem Klienten sowie um die unweigerlich entstehende Beraterin-Klienten-Beziehung.

BEISPIEL

Ein Klient in einer Schuldnerberatung. Das Ganze ist ihm furchtbar peinlich und er druckst mehr herum, als dass er seine Situation schildert. Die Beraterin reagiert ungeduldig und genervt, den nächsten Termin im Nacken. Demütig folgt der Klient ihren Vorschlägen zur Lösung, die er als Anweisungen versteht. Später stellt sich heraus, dass wichtige Aspekte seines Problems in dem Gespräch nicht zur Sprache gekommen sind und die Vorschläge der Beraterin daher nicht greifen konnten. Der Klient hatte sich von der Beraterin überrollt gefühlt.

Es geht um die Beziehung zwischen Beraterin und Klient in Beratungssituationen. Diese Beziehung allerdings „hat es in sich“. Der Grundgedanke dieses Buches ist, dass „die Beziehung“ in der Beratungssituation sich erst ergibt aus der Überlagerung sehr unterschiedlicher Beziehungsverhältnisse mit entsprechenden Beteiligungsweisen. Um zu verstehen, was „die Beratung“ ist, ist es zunächst erforderlich, diese unterschiedlichen Beziehungsqualitäten zu kennen.

Alle diese Beziehungen fließen in die einzelne konkrete Beratungssituation, mit der es eine Beraterin zu tun hat, in unterschiedlicher Intensität und Wichtigkeit ein.

Mit diesem Grundgedanken unterscheidet sich dieses Buch von vielen Veröffentlichungen zur Beratungsbeziehung, die diese Beziehung aus einem einzigen Konzept heraus bestimmen wollen – und ein solches Konzept dann auch noch präskriptiv vorschreiben. Dies wird der Wirklichkeit des Phänomens Beratungsbeziehung nicht gerecht. Es bedarf einer umfassenderen, kulturwissenschaftlichen Perspektive, um der Komplexität des Phänomens Beratungsbeziehung gerecht zu werden – und damit für eine Beraterin auch wirksam werden zu können.

Aus jeder der einzelnen Beziehungen ergeben sich für die Beraterin Aufgaben, Anforderungen, Paradoxien, Widersprüche, insgesamt kommunikative Herausforderungen. Dieses Buch soll Beraterinnen dabei unterstützen, die Beziehung zwischen sich und ihren Klienten soweit es geht produktiv zu gestalten (es geht nicht immer). Dies erfolgt dadurch, dass die einzelnen Beziehungen in ihrer jeweiligen Eigenlogik erläutert werden und Folgerungen für die Beratungssituation, insbesondere für das Handeln der Beraterin, daraus abgeleitet werden. Soweit es geht, werden daraus Handlungsorientierungen und -optionen für die Beraterin entwickelt.

Dass die Beziehung zwischen den Beteiligten für das Geschehen in einer Beratungssituation und das Gelingen einer Beratung von entscheidender Bedeutung ist, wird in der einschlägigen Literatur immer wieder betont. Diese Wichtigkeit ist Praktikerinnen ohnehin intuitiv klar; sie findet sich auch in evidenz-orientierten Studien bestätigt (Safran et al. 2008). Und diese Erkenntnis hat mittlerweile auch Eingang in ökonomisch orientierte Betrachtungen zu Beratung gefunden:

„Bemerkenswert ist, dass ökonomische Analysen […] im Kern die Bedingungen der Herstellung von Arbeitsbündnissen thematisieren, wenn auch unter der Perspektive von Effizienz: ,Interaktion zwischen Professionellen und Adressaten [und ein] vertrauensvolles Verhältnis [werden] als eine wesentliche (nicht ausschließliche) Grundvoraussetzung für Wirtschaftlichkeit angesehen (Langer, 2004, S. 288)‘.“ (Thole / Polutta 2011, 113).

Allerdings liegt der Literatur durchweg ein verkürzter Beziehungsbegriff zugrunde, denn „Beziehung“ wird häufig mit den Basisvariablen der Gesprächspsychotherapie gleichgesetzt, z. B. in dem Standardwerk von Belardi et al. (Belardi et al. 2011, 50). Dies wird der Komplexität der Beratungssituation in keiner Weise gerecht. Die Beratungssituationen, um die es hier geht, sind eingebunden in einen institutionellen Kontext, finden in kulturell bestimmten Rahmenverhältnissen statt, sind unmittelbare Begegnungssituationen zwischen individuellen Personen, sie sind Arbeitssituation, sie können überlagert werden von „Spiel“-Bedürfnissen der Beteiligten und ihren Bedürfnissen nach emotionaler Bindung und sie sind Kooperationsbeziehungen – und dies alles gleichzeitig.

Um dieser Komplexität gerecht zu werden und damit der Beraterin eine realistische, praktisch angemessene Orientierung zu geben, ist ein erweitertes und differenziertes Beziehungskonzept erforderlich. Mit der Hilfe eines solchen – erweiterten – Konzepts kann die Beraterin einordnen, welche der vielen Herausforderungen, vor die sie in ihrem beraterischen Handeln gestellt ist, in welchen spezifischen Beziehungsrahmen gehört, und die Herausforderungen dadurch besser verstehen.

Eine Beraterin ist gut beraten (!), alle Dimensionen der Beratungsbeziehung in ihrem Beratungshandeln zu berücksichtigen und ihr Handeln daran auszurichten. Dabei mögen Handlungen, die unter dem Gesichtspunkt der einen Dimension sinnvoll sind, unter dem Gesichtspunkt einer anderen Dimension überflüssig erscheinen. Die Dimensionen sind sehr unterschiedlichen Ursachen geschuldet, die z. T. nichts miteinander zu tun haben; sie bilden einen durchaus widersprüchlichen Zusammenhang. Thiersch konstatiert: Beratung ist ein „schwieriges, in sich widersprüchliches Geschäft“ (Thiersch 2014b, 122). Im konkreten Einzelfall einer Beratung werden die verschiedenen Dimensionen der Beratungsbeziehung in unterschiedlicher Ausprägung relevant sein.

Mit einem solchen mehrdimensionalen Beziehungskonzept lässt sich auch das in der Literatur immer wieder angesprochene – leidige – Problem lösen: „Wie nennen wir das beraterische Gegenüber?“ (Nußbeck 2006, 23). Handelt es sich um einen „Klienten“, einen „Kunden“, einen „Auftraggeber“, einen „Laien“, einen „Ratsuchenden“…? Dieser Bezeichnungsnotstand wird schon 1983 von Gross beklagt: „In Ermangelung anderer Begriffe werden wir […] dem üblichen Sprachgebrauch folgen und von Leistungsgeber oder Produzent einerseits, von Leistungsnehmer oder Konsument andererseits sprechen.“ (Gross 1983, 52). Legt man dagegen ein mehrdimensionales Beziehungskonzept zugrunde, löst sich dieses Problem. Je nachdem, welche der Beziehungen man betrachtet, verändert sich auch der Status der Beteiligten.

Die Menschen, die in einer Beratungssituation zusammenkommen, befinden sich zur gleichen Zeit:

in einer professionellen Beziehung zwischen einer Behördenvertreterin und einem Menschen, der eine Beratungseinrichtung aufsucht,

in einer asymmetrischen Beziehung zwischen einer Expertin und einem Laien,

in einer emotionalen Beziehung zweier Menschen mit unterschiedlichen Affektprofilen,

in einer medialen Beziehung, z. B. der einer Autorin und eines Lesers in der Online-Beratung,

in einer Beziehung zwischen zwei Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Orientierungen und anderes mehr.

Das Problem einer angemessenen Bezeichnung stellt sich auch bei der Benennung der einzelnen Beziehungsdimensionen – und zwar in besonderer Schärfe, denn mit jeder Bezeichnung ist ein Theorieprogramm verbunden, für das diese Bezeichnung steht. So ist z. B. zweifellos die Beratung auch dadurch bestimmt, dass sie für die Beraterin Arbeit ist – Arbeit für und mit dem Klienten. Ist diese Arbeitsbeziehung aber nun dadurch bestimmt, dass es sich um eine „Dienstleistung“ handelt, ist es „Gefühlsarbeit“ oder „Beziehungsarbeit“? Alle Beziehungen weisen eine politische Dimension auf. Die Festsetzung jeder Beziehung und ihrer Bezeichnung ist auch ein Akt in einem politischen Diskurs. Führe ich z. B. eine (inter-)kulturelle Beziehung an, setze ich damit das Thema „Interkulturalität“ relevant – mit dem Impuls einer Sensibilisierung für dieses Thema und dem Risiko einer kaum zu vermeidenden Stereotypisierung im Schreiben darüber. Wähle ich zur Bestimmung der Arbeitsbeziehung das Konzept der „Dienstleistung“, schließe ich mich einem bestimmten Diskurs an mit seinen spezifischen (berufs-)politischen Implikationen und Konnotationen.

Damit die Beraterin ein angemessenes Verständnis ihrer Beratungstätigkeit und darüber hinaus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung erhält, wird es daher in einigen Fällen erforderlich sein, „theoretisch auszuholen“ und in Auseinandersetzung mit gängigen, aber irreführenden Vorstellungen ein solches angemessenes Verständnis zu entwickeln. So muss z. B. im Hinblick auf die mediale Beziehung mit der irreführenden Vorstellung aufgeräumt werden, dass mediale Beratungsbeziehung durch „Defizite“ zur Face-to-Face-Beratung geprägt sei.

Jedes der folgenden Kapitel ist einer der Beziehungen gewidmet, die insgesamt die Beratungssituation prägen. Nach einleitenden Bemerkungen wird jede Beziehung durch eine kleine Fallvignette aus der Beratungswirklichkeit illustriert, bevor dann die jeweilige Beziehung in ihrer spezifischen Logik und Dynamik erläutert wird. Diese Erläuterungen stellen die einzelnen Beziehungen „in Reinkultur“ dar (Diese Erläuterungen greifen auf unterschiedliche Forschungsprogramme zurück, auf die im Rahmen dieses – praxisorientierten – Buches nur verwiesen werden kann.); es versteht sich, dass im konkreten Einzelfall von Beratung jede Beziehung durch das Zusammenwirken mit allen anderen Beziehungen ein „Gemisch“ bildet, das sich im Einzelfall durchaus als explosiv erweisen kann. In einigen Kapiteln müssen dabei gängige, aber irreführende Vorstellungen aus dem Weg geräumt oder zurechtgerückt werden. In jedem Kapitel werden aus der Betrachtung der Logik und Dynamik der jeweiligen Beziehung praktische Handlungsorientierungen für die Beraterin entwickelt. Hierzu gehören auch Warnungen vor Fallstricken, Empfehlungen zur Vermeidung von Verführungen, Hinweise auf Gestaltungsmöglichkeiten der Beziehung, Vorschläge zum Kontern unangemessener Zumutungen, Anregungen zum Umgang mit Paradoxien und anderes mehr.

Die aufmerksame Leserin des Inhaltsverzeichnisses mag sich fragen, warum es in diesem Buch kein Kapitel über „Machtbeziehung“ gibt. Dass Macht in Beratungssituationen eine Rolle spielt, steht außer Frage. „Macht“ spielt sogar in jeder der Beziehungen eine Rolle:

in der professionellen Beziehung in Gestalt von Kontrolle und Vollstreckung,

in der Experten-Laien-Beziehung in Gestalt von Deutungsmacht und Wissensvorsprung,

in der medialen Beziehung in Gestalt von Kontakt-Kontrolle,

in der Bindungsbeziehung in Gestalt von Verstrickungen

und in der Spiel-Beziehung in Gestalt von Machtspielen.

In jedem einzelnen Kapitel wird „Macht“ daher in Bezug auf die jeweilige Beziehungsqualität mit zum Thema gemacht – sei es Macht der Beraterin, sei es Macht des Klienten.

Es verwundert vielleicht, dass es in diesem Buch zwar ein Kapitel zu psychologischen Beratungskonzepten gibt („die konzeptionelle Beziehung“), dass dieses aber im Gegensatz zu vielen Büchern über Beratung nicht im Vordergrund der Darstellung steht, sondern ganz ans Ende der Beziehungsbetrachtungen gestellt ist. Dadurch soll die Beraterin zu einem Perspektivenwechsel angeregt werden: Die konzeptionelle Orientierung – die „Theorie“ – spielt für die Beraterin keineswegs die zentrale Rolle, die ihr in der Beratungsliteratur durchweg zugeschrieben wird. Durch die Positionierung soll deutlich gemacht werden, dass eine konzeptionelle Orientierung eine Orientierungsgröße für die Beraterin darstellt, dass sie sich jedoch einreiht in eine Vielzahl anderer Orientierungen, die im Einzelfall ein erheblich größeres Gewicht für das praktische Handeln der Beraterin haben.

Der gendersensiblen Beraterin wird schon aufgefallen sein, dass hier – und so auch im gesamten Buch – die Frage geschlechtsangemessener Bezeichnung in folgender Weise gelöst wird: Die grammatisch weibliche Sprachform ist der Beraterin vorbehalten, die männliche Form gehört dem Klienten.

Beraten ist eine verantwortungsvolle, außerordentlich anspruchsvolle, hoch komplexe Tätigkeit, die kompetente Beraterinnen fordert und diese immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Dieses Buch soll Beraterinnen darin unterstützen, ihre Tätigkeit inhaltlich produktiv und persönlich befriedigend auszuführen, d. h. kompetent zu beraten. Die Stärke eines Buches, eines Textes, über Beratung liegt darin, Sachverhalte ausführlich darstellen und erklären zu können. Dadurch kann das Verständnis einer Beraterin für ihre Situation und ihr Handeln vertieft werden, um auf dieser Grundlage handlungspraktische Orientierungen geben zu können. Auf diese Weise kann das Handlungsrepertoire einer Beraterin erweitert werden.

Jeder Text ist naturgemäß abstrakt; er kommt an seine Grenzen, wenn es um die Betrachtung der einzigartigen konkreten Begegnungssituation einer individuellen Beraterin mit ihrem jeweiligen Klienten geht. Diese zu reflektieren und dadurch zu einem vertieften Verständnis zu gelangen, kann und muss in Supervision und Coaching erfolgen. Daher wird dieses Buch mit einer Darstellung dieser reflexiven Beratungsformate abgeschlossen, die in einer noch einmal ganz anderen Weise dazu beitragen können, eine kompetente Beraterin in ihrer wichtigen Arbeit zu unterstützen.

2„Dafür werden Sie doch bezahlt!“ – Beratung als Arbeitsbeziehung

Die Beratungen, die Thema dieses Buches sind, finden in Institutionen statt. Für eine der Beratungsbeteiligten, die Beraterin, ist Beratung Teil ihrer Tätigkeit, die sie im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnisses innerhalb dieser Institution zu erbringen hat. Beraten ist ihre Arbeit. Sie wird für sie durch die Institution honoriert, durch sie ist ihre Beratungstätigkeit mit Verpflichtungen versehen, die sie gegenüber ihrem Arbeitgeber einerseits (z. B. Loyalität) und ihren Klienten andererseits (z. B. Freundlichkeit) hat. Sie erfolgt unter institutionell vorgegebenen Bedingungen, unter Einsatz von Ressourcen, auf die sie zurückgreifen kann (Gesetze, Verordnungen, Datenquellen, Geräte), und vollzieht sich in Rahmen, die ihrer Tätigkeit Grenzen stecken (z. B. Zuständigkeiten, feste Arbeitszeiten) (Abb. 1).

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Abb. 1: Die Position der Beraterin zwischen Institution und Klient

2.1Beratungsgeschichten, die das Leben schreibt: Der aufdringliche Klient

„Ich hatte da mal einen Fall, das war schon ein starkes Stück. Der Klient kam rein, ein Häufchen Elend, leise Stimme, Hundeblick, total hilflos insgesamt. Mich regt sowas schon auf; das ist doch ein Mann! Das Gespräch war dann mühsam, zu jeder Lösungsidee musste ich ihn tragen. Aber zum Schluss blieb mir die Spucke weg: „Können Sie mir nicht Ihre Handynummer geben. Wenns mir wieder schlecht geht, dass ich Sie anrufen kann. Sie sollen sich doch um mich kümmern.“ Ja wo sind wir denn hier?! Ich bin doch nicht seine Therapeutin – aber die machen das ja auch nicht. Habs natürlich abgelehnt. Der ist dann geknickt rausgeschlichen. Und ich saß da mit schlechtem Gewissen.“

2.2Beratung – eine Arbeitsbeziehung

Zwar leuchtet eine Bestimmung von Beraten als Arbeit unmittelbar ein; eine solche Bestimmung wirft allerdings gewichtige Fragen auf, wenn man von einem üblichen Verständnis von Arbeit im Sinne der Herstellung eines Gutes ausgeht. Dies sei kurz anhand der Frage der Qualität illustriert: Die Vorstellung von Produktqualität entstammt dem Bereich der industriellen Fertigung und hat sich dort in Gestalt von Qualitätsstandards, -management und -kontrolle etc. entfaltet. Überträgt man diese Vorstellung nun auf die Beratungsarbeit, stellen sich knifflige Fragen: Was genau ist das Produkt einer Beratung? Geht man von dem Verständnis von Beratung als Hilfe zur Selbsthilfe aus, wäre das „Produkt“ der Beratungsarbeit irgendwo im Inneren des Klienten angesiedelt, etwa in kognitiv-emotionalen Veränderungen in ihm. Wie aber soll die Güte solcher Veränderungen kontrolliert werden können? Ferner: In der industriellen Fertigung hat der Arbeiter weitgehend Kontrolle über den Herstellungsprozess seines Produkts. In der Beratung jedoch ist der Herstellungsprozess wesentlich vom Klienten mit beeinflusst. Ist das „Produkt“ eines Beratungsgesprächs von minderer Qualität, wenn sein Herstellungsprozess durch „störendes“ Verhalten des Klienten beeinflusst wurde? Kann die Beraterin für eine solche mangelnde Qualität zur Rechenschaft gezogen werden? Und was, wenn das Produkt eines Beratungsgesprächs, z. B. in der Schuldnerberatung die Verabredung eines zukünftig veränderten Konsumverhaltens des Klienten, „seinen Dienst versagt“ und bald darauf nicht mehr „funktioniert“ – kann der Klient dann reklamieren?

Offensichtlich bedarf es einer anderen Vorstellung von Arbeit, damit die Beraterin ein angemessenes Verständnis ihrer Tätigkeit entwickeln kann.

Eine solche Vorstellung ist das Deutungsmuster von Arbeit als „Dienstleistung“.

2.2.1Beratung als „Dienstleistung“ – ein machtvolles Deutungsmuster

Im Diskurs um Beratung im sozialen Bereich spielt der Begriff der „personenbezogenen sozialen Dienstleistung“ eine gewichtige Rolle. Der Begriff wird vielfach als selbstverständlich zur Charakterisierung der Beziehung zwischen Beraterin und Klient eingesetzt. Das ist erstaunlich, denn immerhin entstammt der Begriff der Dienstleistung der Terminologie der Volks- und Betriebswirtschaft, also nicht gerade der Kerndisziplin zur Betrachtung kommunikativer Verhältnisse. Hinzu kommt, dass der Begriff negativ definiert ist: Er ist dadurch bestimmt, was Dienstleistung nicht ist.

„In der klassischen volkswirtschaftlichen Unterscheidung der Wirtschaftsbereiche wurde zwischen einem ursprünglichen oder primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft, Viehzucht und Fischerei) und sekundärem Sektor (produzierendes und verarbeitendes Gewerbe) […] unterschieden. Der „tertiäre Sektor“ wurde als „Restkategorie“ ergänzt, in die alle übrigen bezahlten Tätigkeiten fallen […]. Man kann skeptisch sein, ob sich für den heterogenen „Restsektor“ der „Dienstleistungen“ allgemeine Gemeinsamkeiten finden lassen, durch welche sie sich als von „Sachleistungen“ eindeutig unterscheiden lassen.“ (Greif 2015, 53 ff.).

Kessl und Otto (2011) zufolge entstand die Idee, Soziale Arbeit als Dienstleistung zu begreifen, in den 1970er Jahren. Die Idee ist zu verstehen aus dem Impuls, die bis dato vorherrschende fürsorgerische Vorstellung Sozialer Arbeit als nicht mehr zeitgemäß zu kritisieren und durch ein alternatives Konzept zu ersetzen. Die Idee folgte einem „Modernisierungs- und Innovationsinteresse“ (Kessl / Otto 2011, 394) der Sozialen Arbeit. Der Impuls mobilisierte die „Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft“, die der Soziologe Peter Gross bereits in den 1980er Jahren charakterisiert hat als „[…] gesellschaftliche(n) Fortschritt, mit einer humanen Form der Erwerbstätigkeit, mit einer neuen Zwischenmenschlichkeit“ (Gross, zitiert nach Kessl / Otto 2011, 394). Der erwartete Innovationsschub käme, so die Dienstleistungsprotagonisten, zustande, wenn die Rolle der „Konsumenten“ gestärkt würde. Diese Konsumentenorientierung wurde der „zentrale Fortschritts- und Emanzipationsmarker“ (Kessl / Otto 2011, 399). Neben einem solchen Innovationsschub wurde von den Vertretern der Dienstleistungsvorstellung die Auflösung hierarchischer Verhältnisse zwischen Sozialarbeiter und Nutzer und die Umgestaltung der Beziehung zu einem Anbieter-Kunden-Verhältnis erwartet sowie eine Rückstufung sozialpädagogischer Expertise zugunsten von Klientenbedürfnissen und -interessen (Kessl / Otto 2011, 394 ff.).

Als zentrale Merkmale von Dienstleistungen wurden ausgemacht (nach Greif 2015, 56 ff.):

Körperlosigkeit des Gegenstandes,

„[d]as heisst, dass reine Dienstleistungen nicht betrachtet, berührt, festgehalten oder gelagert werden können – sie haben keine physische Erscheinung.“ (Schneider / White, zitiert nach Greif 2015, 56)

Untrennbarkeit von Herstellung und Verbrauch (uno-actu-Prinzip); die Herstellung setzt die Präsenz des Kunden voraus und erfolgt gleichsam im Inneren des Kunden

Heterogenität der Prozesse – aufgrund der Personenbezogenheit der Dienstleistung folgt aus der Unterschiedlichkeit der Personen (Konsumenten) auch eine Vielfalt der Dienstleistungsverläufe

Die Vorstellung, Soziale Arbeit als Dienstleistung zu begreifen, kann mittlerweile als etabliert gelten. Dass sie sich durchgesetzt hat, hat womöglich nicht so sehr mit der Überzeugungskraft dieses Deutungsmusters von Arbeit zu tun, sondern eher mit der Passfähigkeit zu allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen, die durch Individualisierung und Vorstellungen von Autonomie und Mitsprachansprüchen gekennzeichnet sind. Die Gängigkeit der Vorstellung ist in diesem Sinne vielleicht eher dem Zeitgeist geschuldet als der argumentativen Stichhaltigkeit oder der realen Angemessenheit, wie im Folgenden gezeigt wird.

2.2.2Dienstleistung – ein fragwürdiges Deutungsmuster für Beratung

Die politischen und professionstheoretischen Implikationen dieses Dienstleistungsdiskurses tangieren auch das professionelle Selbstverständnis der Beraterin. Sie stellt sich die Frage: „Bin ich eine Dienstleisterin?“. Für ihre Haltung zum Thema Dienstleistung sei auf folgendes hingewiesen:

Man muss dem Dienstleistungsdiskurs mit großem Nachdruck eine massive Interaktionsvergessenheit vorwerfen. Der Soziologe Peter Gross, einer der „Väter“ des Dienstleistungsdiskurses in Deutschland, hatte noch darauf hingewiesen, dass für den Begriff der Dienstleistung ursprünglich dessen prozessualer Charakter bestimmend gewesen war, dieser jedoch dadurch, dass der Begriff in die Fänge der Wirtschaftswissenschaften geriet, deren Logik entsprechend primär als „Gut“, also unter Produktgesichtspunkten behandelt wurde. „Die Dienstleistung, auch die uno-actu-Leistung, verliert mit ihrer Erhebung zum wirtschaftlichen Gut und der Gleichstellung mit materiellen Gütern sozusagen ihren interaktiven Charakter“ (Gross 1983, 46). Dies geriet bald in Vergessenheit. Der daraus folgenden Fixierung saß denn auch die Soziale Arbeit auf und schlägt sich bis heute mit den Folgeproblemen herum.

Das Verständnis Sozialer Arbeit als Dienstleistung ist dann auch im Bereich Sozialer Arbeit nicht ohne Widerspruch geblieben. Die Kritik bezieht sich auf verschiedene Punkte:

Zum einen werden Zweifel an dem erwarteten Modernisierungsschub geäußert sowie an der Passfähigkeit des Deutungsmusters für die Tätigkeitsbereiche Sozialer Arbeit. Kessl und Otto z. B. hinterfragen den Modernisierungsgehalt: „[…] der beanspruchte Innovations- und Modernisierungehalt ergibt sich keineswegs konstitutiv aus der Beteiligungsnotwendigkeit des Konsumenten in der Erbringungssituation, dem uno actu also. Dieses weist im Extremfall nur auf die Notwendigkeit der leiblichen Anwesenheit des Adressaten oder der Klientin hin, wie die Dienstleistungssituation polizeiliche Festnahme verdeutlicht“ (Kessl / Otto 2011, 399).

Zweifel an der Passfähigkeit beziehen sich darauf, dass wesentliche für Dienstleistung charakteristische Merkmale für den Bereich Sozialer Arbeit als nicht gegeben festgestellt werden bzw. unterbestimmt bleiben. Dies umfasst folgende Aspekte:

Honorar: Im Gegensatz zu anderen Dienstleistungsbereichen erfolgt keine direkte Bezahlung durch den „Konsumenten“; der „Dienstleistungserbringer“ wird vielmehr von seiner Institution bezahlt.

Bezeichnung: Lässt sich die Beraterin unter Tätigkeitsgesichtspunkten noch treffend als „Fachkraft“ bezeichnen, erweist sich die Charakterisierung ihres Gegenüber als erheblich schwieriger: „Kunde“?, „Konsument“?, „Nutzer?“ – keine dieser Bezeichnungen scheint angemessen. „Die Wahl der Akteursfigur(en) und deren jeweilige konzeptionelle Positionierung bleibt weitgehend unterbelichtet“, stellen auch Kessl und Otto fest (Kessl / Otto 2011, 394).

Zum anderen werden Bedenken geäußert (z. B. Kessl / Otto 2011, 399), ob durch die Vorstellung von Dienstleistung nicht Tendenzen zur Individualisierung Vorschub geleistet wird und damit zu einer Zuspitzung, die Vorstellungen von Solidarität und Gemeinschaft konterkariert.

Die Vorstellung, Beratung als Dienstleistung zu begreifen, führt, so hat diese kurze Betrachtung bereits gezeigt, mehr in die Irre als dass sie das Verständnis davon vertieft, wie die Arbeitsbeziehung zwischen Beraterin und Klient angemessen verstanden werden kann.

2.3Die Arbeitsbeziehung in der Beratungssituation: interaktiv bestimmte Arbeit

Ein Verständnis von Arbeit in der Beratungssituation muss berücksichtigen, dass diese Arbeit wesentlich in interaktiven Prozessen erfolgt. In der arbeitswissenschaftlichen Literatur finden sich Ansätze zu einem solchen Verständnis im Konzept der „Interaktionsarbeit“ (bereits bei Wedekind 1988, später bei Böhle / Glaser 2006, Dunkel / Voß 2004). Böhle et al. (2006) heben bei ihrer Erörterung von „Interaktionsarbeit“ drei Aspekte hervor:

Interaktionsarbeit hat wesentlich mit der emotionalen Befindlichkeit des Arbeitenden zu tun. Die Autoren greifen vor allem auf Studien der US-amerikanischen Soziologin Arlie Hochschild (Hochschild 1990) zurück, die die Rolle von Emotionen für eine angemessene Durchführung bestimmter Formen von Arbeit herausgearbeitet(!) hat, z. B. für die Arbeit von Frisören, Lehrerinnen, Gerichtsvollziehern, Flugbegleiterinnen, Geistlichen, Callcenter-Mitarbeiterinnen. In diesen und anderen Arbeitsbranchen herrschen Vorgaben des Zeigens von Gefühlen und Regeln für den Umgang mit diesen. Fragestellungen dieser Forschung umfassen das Gefühlsmanagement und die psychischen Folgen fremdbestimmter, „unauthentischer“, Gefühlsdarstellungen in Form von Burn-out und emotionaler Erschöpfung.

Interaktionsarbeit ist Arbeit an der emotionalen Befindlichkeit des Klienten. Hier beziehen sich die Autoren auf Untersuchungen einer Forschergruppe um den US-amerikanischen Soziologen Anselm Strauss (Strauss et al. 1980) in Krankenhäusern. Gefühle stellen demnach keine Begleiterscheinungen des Arbeitens dar, sondern sind Teil der Hauptarbeitslinie des Klinikpersonals:

„Die Gefühle sollen beeinflusst werden, damit die ärztliche oder pflegerische Behandlung besser gelingen oder überhaupt durchgeführt werden kann. Dies bedeutet anders gefasst: Gefühlsarbeit dient der Erreichung von Handlungszielen“ (Dunkel / Rieder 2004, 214).