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Helena Brink

Der leiseste Verdacht - Schweden-Krimi

Aus dem Schwedischen von Knut Krüger

Sage

1

Mittwoch, 19. April

Jemand hämmerte unnachgiebig gegen die Tür. PM schreckte auf, blinzelte und warf einen benommenen Blick auf den Wecker. Das Zimmer war in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Er hatte vergessen, die Vorhänge vorzuziehen. Erst halb zwölf. Wer in aller Welt veranstaltete an seiner Tür ein solches Spektakel, noch dazu um diese Uhrzeit?

Sicher niemand, den er kannte. Zumindest niemand, den er gut kannte. Freunde und Bekannte waren mit seinem Tagesrhythmus vertraut und wussten um seine Kompromisslosigkeit, wenn es galt, diesen zu schützen. Er warf die Decke zur Seite, war mit einem Sprung auf den Beinen, riss den Vorhang mit einer wütenden Bewegung vor das Fenster und stürzte zurück ins Bett. Schon viel besser so. Das harte Licht hatte sich in behagliches Halbdunkel verwandelt.

Erneutes Hämmern. Der Idiot, wer auch immer es sein mochte, war wirklich beharrlich. Er lag auf dem Rücken und wartete. Eine Zeit lang blieb es ruhig, dann hörte er ein Auto starten. Na endlich. Er drehte sich auf die Seite, verbarg seinen Kopf unter dem Kissen und versuchte wieder einzuschlafen.

Vergebens.

Obwohl er zu einer bewussten Konfrontation mit dem Dasein noch nicht bereit war, erging sich seine innere Stimme in Spekulationen: Vielleicht hatte sich jemand nur seine Bilder ansehen wollen. Vielleicht wollte dieser Jemand ein Gemälde direkt beim Künstler kaufen, ohne dass ein Galerist seine Finger mit im Spiel hatte und den Preis nach oben trieb. Womöglich waren ihm ein paar tausend durch die Lappen gegangen. Warum riefen seine Kunden nicht vorher an?

Oder die Zeugen Jehovas? Die hatten ihn früher schon zu den unchristlichsten Zeiten belästigt. Aber die hätten nicht solch einen Lärm veranstaltet, sondern zaghaft angeklopft. Ein umherirrender Tourist, der verzweifelt versuchte, die Hauptstraße wiederzufinden? Möglich. Jemand vom benachbarten Bauernhof, der ein entlaufenes Schwein suchte? Wohl kaum. Ach, verdammt, er wollte schlafen. Er hob das Kissen vom Kopf und lauschte. Außer Vogelgezwitscher war nichts zu hören.

Er drehte sich um und betrachtete die andere Hälfte des breiten Bettes. Sie war ordentlich gemacht und betrüblich leer. Von Dienstag auf Mittwoch übernachtete Katharina stets bei einer Kollegin, weil sie am Mittwoch Vormittagsdienst in der städtischen Bibliothek hatte und keinen Wert darauf legte, im Morgengrauen dreißig Kilometer mit dem Auto zurückzulegen. In Ermangelung ihrer physischen Gegenwart schnüffelte er an ihrem Kopfkissen. Ein Hauch ihres Dufts war immer noch wahrnehmbar. Er fühlte sich hungrig und gab den Versuch auf, seinen Schlaf fortzusetzen. Er stand auf, schlüpfte in einen kurzen, verschlissenen Frotteebademantel und trottete barfuß in Richtung Küche. Im Flur warf er einen grimmigen Blick durch die Glasscheibe der Haustür. Von dem Ruhestörer war nichts mehr zu sehen.

Wider besseres Wissen ging er am Atelier vorbei, das heißt, er nahm einen bedeutenden Umweg in Kauf. Er wusste, dass dies vor dem Frühstück ein gewisses Risiko barg, zu Niedergeschlagenheit und schlimmstenfalls zu Anfällen von Verzweiflung führen konnte. Sollte sich die Arbeit des gestrigen Tages als unzulänglich erweisen, hatte er diesem Befund nichts entgegenzusetzen. Im Atelier herrschte um diese Zeit außerdem eine fast schmerzliche Helligkeit. Unbarmherzig und entlarvend.

Er drückte sich an der Wand entlang und vermied es sorgsam, die Leinwand anzusehen, die auf der Staffelei in der Mitte des Raumes stand. Stattdessen wanderte sein Blick über eine Reihe bekannter, wohltuend unveränderlicher Gegenstände. Durch dieses Umgehungsmanöver gelang es ihm schließlich, einen Standort einzunehmen, der es ihm erlaubte, einen Blick auf die schicksalsschwangere Leinwand zu werfen. Er riskierte ein Auge. Es hätte schlimmer kommen können. Aber zufrieden war er nicht. Er trat ein paar Schritte zurück, kniff die Augen zusammen und betrachtete das halb fertige Bild mit den immer noch feuchten Farben. Zu dunkel. Viel zu dunkel und zu wenig Kontraste. Wenn er an der Lichtgebung etwas änderte, konnte aus dem Bild noch was werden. Aber das war ein heikles Unterfangen. Er musste das richtige Gleichgewicht haben und genau wissen, was er tat. Bald würde sich zeigen, ob es der richtige Tag dafür war.

Er erblickte sein Cello, das in souveräner Lässigkeit immer noch da stand, wo er es gestern abgestellt hatte. Auf dem Notenständer lagen Bachs Solosuiten. Die Sarabande aus der zweiten Suite war aufgeschlagen. Er konnte nicht widerstehen, setzte sich hin, nahm das Cello zwischen die Beine. Er spannte den Bogen und kämpfte sich verwegen durch das gesamte Stück. Gar nicht mal so schlecht. Setzte beschwingt mit dem ersten Menuett fort, das ihm allerdings größere Schwierigkeiten bereitete. Um diese Uhrzeit durfte man nicht zu viel erwarten. Erst einmal musste er frühstücken.

Durch das Küchenfenster beobachtete er, wie sich zwischen den Büschen etwas regte. Eine große, gelb getigerte Katze kam hervor und promenierte gemächlich über den Rasen. Er vergewisserte sich, dass der Futternapf gefüllt war, und goss Milch in die Trinkschale. Dann öffnete er die Küchentür und wartete geduldig. Die Katze hatte keine Eile, sondern schnupperte zunächst an einigen ihrer Lieblingsstellen, bevor sie in die Küche trippelte, das Futter links liegen ließ und hingebungsvoll ihre Milch schlabberte.

Während er Kaffee kochte und Sauermilch, Käse und Brot auf den Tisch stellte, sprach er mit der Katze, die inzwischen auf die Arbeitsplatte gesprungen war, um sich mit ihm auf gleicher Höhe zu befinden und Zärtlichkeiten austauschen zu können.

Eine knappe halbe Stunde blieb er am Küehentisch sitzen und trank seinen Kaffee. Er überflog die Zeitung des gestrigen Tages; die von heute lag immer noch im Briefkasten. Die Katze saß zu seinen Füßen und leckte sich das Fell.

Abgesehen davon, dass er so rüde geweckt worden war, schien es ein schöner Tag zu werden.

Draußen fuhr ein Wagen vor. Die Katze lauschte, und PM fluchte im Stillen, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Falls es derselbe Idiot war, der ihn geweckt hatte, würde er sich durch sein Klopfen verraten. Richtig, es polterte an der Tür.

Mürrisch stand er auf und bemerkte in diesem Moment, wie unzulänglich er gekleidet war. Er zögerte einen Augenblick, zuckte mit den Schultern und ging zur Tür, bemüht, eine grimmige Miene aufzusetzen.

Draußen stand ein Fremder. Ein hoch gewachsener Kerl mit grauer Windjacke und Jeans. Etwas jünger als er selbst. Zwei hellblaue Augen lächelten ihn an.

»Guten Tag, mein Name ist Lasse Wagnhärad. Ich bin von der Polizei und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

PM schaute ihn skeptisch an. Der Text kam ihm bekannt vor. Bekannt und banal zugleich. Redeten Polizisten wirklich so? Er betrachtete das Auto, einen schwarzen Audi. Darin saß ein weiterer Mann und schaute zu ihnen herüber.

»So was kommt vor«, sagte er zerstreut.

»Wie bitte?«

»Dass man Fragen stellen möchte.« Er schloss demonstrativ die Tür hinter sich und fuhr fort: »Ich würde mir gern erst mal Ihren Dienstausweis ansehen, ich meine, man weiß ja nie ... Dann können Sie mir sagen, was Sie für Fragen haben, und ich kann mir überlegen, ob ich sie beantworte.«

Das Lächeln des Polizisten wurde breiter. Er hielt PM seinen Ausweis vors Gesicht.

»Bitte schön, hier ist mein Ausweis. Lasse Wagnhärad, Kriminalkommissar, wie Sie sehen.«

PM studierte den Ausweis in aller Seelenruhe und gab sich schließlich lächelnd der beharrlichen Freundlichkeit des Polizisten geschlagen.

»In Ordnung, Sie haben mich überzeugt. Kommen Sie doch herein, es ist ziemlich windig heute.« Er deutete auf den Wagen. »Und Ihr Kollege auch, wenn er möchte.«

Der Kommissar gab dem anderen ein Zeichen, worauf ein kleiner, gedrungener Mann mit blauem Anorak und blonden Stoppelhaaren aus dem Wagen stieg. Er gab PM die Hand und stellte sich in aller Kürze vor: »Polizeimeister Bergh.«

»Patrik der Maler«, erwiderte PM.

Er hielt den beiden Beamten die Tür auf und bat sie mit einer einladenden Geste ins Wohnzimmer.

»Wir sind vorhin schon mal da gewesen«, sagte der Großgewachsene, »aber da waren Sie nicht zu Hause.«

PM ließ den Blick rasch durchs Zimmer schweifen, um sich zu vergewissern, dass keine allzu privaten Dinge herumlagen.

»Doch, ich war zu Hause«, entgegnete er. »Aber ich öffne niemals die Haustür, wenn ich noch im Bett liege.«

»Das macht nichts. Wir hatten noch andere Besuche zu erledigen. Wir haben mit Kalle Svanberg auf der anderen Seite von Knigarp gesprochen.«

PMs Miene verfinsterte sich wieder. »Was soll das heißen, das macht nichts? Veranstalten Sie immer so einen Heidenlärm an den Haustüren fremder Leute?«

Der andere lachte versöhnlich. »Es gab keine Klingel, und man will doch schließlich sichergehen, dass man gehört wird.«

»Sie wurden gehört«, versicherte PM trocken.

Der hoch aufgeschossene Kommissar sah sich neugierig um und sagte beeindruckt: »Also ich muss schon sagen, Sie haben wirklich ein sehr schönes Haus. Haben Sie alles selbst restauriert?«

»Ja.«

Er musterte die Wände, die Decke und das Gebälk. »Da müssen Sie aber viel Arbeit gehabt haben. Eine wundervolle Arbeit, versteht sich. Wann ist das Haus gebaut worden? Ich schätze, so um die Mitte des 19. Jahrhunderts.«

PM nickte anerkennend.

Die Augen des Kommissars schimmerten entrückt. »Ach, solche Häuser haben doch viel mehr Charme als diese gleichförmigen Neubauten. Ich habe nördlich der Stadt eine Sommerhütte, viel kleiner als dieses Haus hier, aber meine Frau und ich rackern uns jedes Wochenende ab, um sie auf Vordermann zu bringen. Das grenzt an Besessenheit.«

PM lachte verständnisvoll. »Ich weiß, was Sie meinen. Wir wohnen hier seit achtzehn Jahren und werden auch niemals fertig.«

»Der Boden muss noch von früher sein. Solche breiten Dielen gibt es heute gar nicht mehr.«

»Ja, ich vermute, die sind schon immer hier gewesen.«

Polizeimeister Bergh schien gegen den Charme des Hauses immun zu sein. Er hatte schweigend in einem breiten Sessel Platz genommen, streckte den Rücken und zückte pflichtbewusst seinen Notizblock. Doch der Kommissar schien den eigentlichen Grund seines Kommens vollkommen vergessen zu haben. Nichts entging seinem Kennerblick, ja, er steckte sogar den Kopf in den offenen Kamin, um nach einer Weile zu verkünden, dass dieser nur teilweise als Original angesehen werden könne. Es bestand kein Zweifel, dass er lieber die Ärmel aufgekrempelt und mit einem Stück Sandpapier die alte Holztäfelung in Angriff genommen hätte, als seine polizeilichen Ermittlungen voranzutreiben.

Schließlich räusperte er sich und bemühte sich um eine dienstliche Miene. Er setzte sich in den anderen Sessel, worauf PM, der ahnte, dass der entscheidende Augenblick gekommen war, rasch auf dem Sofa Platz nahm.

Der Kommissar sagte: »Ihr Nachbar vom Hof Knigarp hat heute Morgen gemeldet, er habe in seiner Jauchegrube vor dem Schweinestall eine Leiche gefunden. Sie kam an die Oberfläche, als ein Teil der Jauche abgepumpt wurde, um damit die Felder zu düngen.«

PM blickte von einem ernsten Gesicht zum anderen.

»Was ...?«, sagte er.

»Die Leiche hat vermutlich längere Zeit in der Grube gelegen. Können wir nun mit unseren Fragen beginnen?«

PM breitete die Arme aus. »Schießen Sie los!«

»Können Sie sich - sagen wir, während des letzten Jahres - an irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse erinnern? Ist vielleicht eine Person aus dieser Gegend spurlos verschwunden?«

PM dachte eine Weile nach, bevor er den Kopf schüttelte. »Hier geschieht nie etwas Ungewöhnliches«, entgegnete er. »Zumindest nicht, was die Menschen betrifft. Außerordentliche Beobachtungen habe ich nur in der Natur gemacht.«

»Und die wären?«

»Ich spreche von Tieren.«

Der Polizeimeister hielt seinen Stift bereit.

PM begann zögerlich: »Ungefähr vor einem Monat hatten wir zeitweise einen Steinadler auf unserem Grundstück. Der hielt sich in der großen Eiche unten am Bach auf, aber ich nehme an, das gehört nicht hierher.« Er blickte aus dem Fenster und fuhr nachdenklich fort: »Von den Leuten in dieser Gegend kann ich nichts Ungewöhnliches berichten. Manchmal fällt mir das Leben hier schwer, weil alles so vorhersehbar ist. Obwohl man natürlich nicht vorhersehen kann, dass jemand in die Jauchegrube fällt. Das muss jemand gewesen sein, der nicht aus der Gegend kam. Jemand, der nicht wusste, dass die hiesigen Bauern die Angewohnheit haben, tonnenweise Schweinekot in ihren Gruben aufzubewahren. Andererseits sind die Jauchegruben doch eingezäunt.«

»Eben«, entgegnete Wagnhärad. »Wir glauben nicht, dass der Mann versehentlich in die Grube fiel. Es sieht eher so aus, als sei er hineingestoßen worden.«

PM streckte den Rücken. »Ein Mord also?«

»Vermutlich.«

»Das wäre in dieser Gegend ja wirklich ziemlich ungewöhnlich«, räumte PM ein.

Der Kommissar nahm einen weiteren Anlauf. »Sie haben also nichts Ungewöhnliches bemerkt, das in Verbindung mit dem Vorfall stehen könnte, den wir soeben geschildert haben?«

»Nein.«

»Kennen Sie jemanden aus dieser Gegend, der plötzlich verschwunden oder weggezogen ist?«, wiederholte Wagnhärad.

»Natürlich kommt es vor, dass Leute wegziehen. Der vorherige Besitzer von Knigarp ist vor einem halben Jahr weggezogen.«

»Das ist uns bekannt. Noch andere, die weggezogen sind?«

»Der alte Ström oben an der Kurve ist letzten Herbst ins Altersheim gezogen.«

»An welcher Kurve?«

»Wenn Sie die Straße in nordwestliche Richtung nehmen, sehen Sie oben am Waldrand ein Haus stehen, genau dort, wo die Straße einen Knick macht. Wahrscheinlich steht es jetzt leer. Ström war Witwer und nicht mehr sehr gut beieinander. Ich nehme an, sie konnten ihn schließlich davon überzeugen, dass er in einem Altersheim besser aufgehoben ist als zu Hause. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.«

»Wir werden das nachprüfen. Können Sie uns etwas über Ihren neuen Nachbarn sagen?«

»Da fällt mir nichts ein.«

»Also irgendwas werden Sie uns doch sagen können.«

PM lachte. »In diesem Fall haben Sie Pech, dass Sie ausgerechnet heute kommen. Meine Frau und meine Tochter haben eine viel bessere Wahrnehmung, was Ereignisse in der Nachbarschaft betrifft. In dieser Hinsicht gelte ich in meiner Familie als hoffnungsloser Fall.«

Wagnhärad warf einen Blick auf die Uhr. »Dann sollten wir vielleicht auch mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter sprechen. Wann kommen sie nach Hause?«

»Meine Frau kommt gegen drei Uhr, aber meine Tochter werden Sie nicht antreffen, es sei denn, Sie fahren nach Kalmar. Sie geht dort aufs Gymnasium und wohnt bei meiner Schwester.«

Wagnhärad stieß einen unwillkürlichen Seufzer aus und wirkte mit einem Mal ein wenig gehetzt. »Wir werden sehen, ob wir bis drei wieder hier sein können.«

Er sah PM forschend an, als überlege er, ob es der Mühe wert war, diesem Sonderling noch mehr Informationen aus der Nase zu ziehen. PM hingegen verspürte eine gewisse Sympathie für diesen Kriminalkommissar mit seiner Passion für alte Häuser und wollte ihm gern behilflich sein. »Über meinen neuen Nachbarn weiß ich wirklich nichts zu sagen, aber über seinen Hof kann ich Ihnen so einiges erzählen«, sagte er.

Wagnhärad nickte zweifelnd. »Aha ...«

»Ich habe ihn schließlich seit fast zwanzig Jahren beobachten können, habe seine Veränderung und seinen Verfall erlebt.«

»Seinen Verfall?«

»Das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Als wir vor achtzehn Jahren hierher kamen, war er in Besitz meines Onkels, der den Hof vierzig Jahre lang vorbildlich bewirtschaftet hat. Er hatte Milchkühe und baute Rüben, Getreide und Kartoffeln an. Schweine hatte er auch, aber in überschaubarer Anzahl. Nicht dass der Hof früher so gewaltige Erträge abgeworfen hätte, aber heute ist er völlig runtergewirtschaftet und kann niemanden mehr ernähren. Während der letzten elf Jahre haben sich die Besitzer förmlich die Klinke in die Hand gegeben. Jeder hat versucht, alles aus dem Hof herauszuholen, um ihn dann zu einem überhöhten Preis wieder zu verkaufen. Aus irgendeinem Grund haben alle auf Schweinezucht im großen Stil gesetzt. Die wurde ständig ausgebaut, und inzwischen gibt es nichts anderes mehr als Schweine. Fast alle Anbauflächen sind verpachtet.«

»Der Hof scheint sehr alt zu sein.«

»Ist er auch. Die ältesten Gebäude stammen aus dem 17. Jahrhundert. Haben Sie das Haus gesehen, in dem der Vorarbeiter wohnt?«

Wagnhärad schüttelte den Kopf, machte aber ein interessiertes Gesicht. Bergh hatte aufgehört mitzuschreiben und starrte unbeteiligt aus dem Fenster.

»Schauen Sie sich die Gebäude nur genauer an, wenn Sie nächstes Mal dort sind. Es lohnt sich. Das Wohnhaus ist später erbaut worden, wohl um 1900 herum, aber die Architektur ist bemerkenswert. Nicht gerade das, was man sich in dieser Gegend erwarten würde.«

»Das einzige Gebäude, das ich von innen gesehen habe, ist das, in dem die Verwaltung untergebracht ist«, entgegnete Wagnhärad. »Das war offensichtlich auch einmal als Wohngebäude geplant.«

»Ja, ich glaube, dort hat früher das Gesinde gewohnt. Dann haben Sie sicher auch die monströsen Schweineställe gesehen, die sie in den letzten zehn Jahren dort hingeklotzt haben. Ein schrecklicher Anblick, und sicher noch schrecklicher, in ihnen zu hausen. Ich rede von den Schweinen. Der jetzige Eigentümer, dieser Nyström ...«

Bergh schaltete sich ein: »Bengt Nygren«, stellte er richtig.

»Es geht das Gerücht, dass er die Schweinezucht weiter ausbauen will. Ich hoffe, dass das nicht wahr ist. So langsam reicht’s mir nämlich mit dem Schweinegestank und der Überproduktion an Jauche.«

Wagnhärad wechselte das Thema. »Wer ist auf dem Hof angestellt?«

»Nur zwei Leute. Zum einen Nisse Hallman, der seit Ewigkeiten auf dem Hof arbeitet und schon da war, als wir hierher zogen. Zu ihm haben wir einen ganz guten Kontakt. Ein paar Mal im Jahr kommt er zum Kaffeetrinken bei uns vorbei. Und dann gibt es da diesen jungen Kerl, ein Schweizer, soviel ich weiß.«

»Marco Fermi«, warf Bergh ein.

»Genau. Sie wissen ja schon alles. Scheint ein tüchtiger Kerl zu sein. Ist dort Vorarbeiter. Vielleicht kann er den Hof wieder auf Vordermann bringen. Er und seine Frau sind letzten Winter, so um Neujahr herum, hierher gekommen.«

Wagnhärad sagte: »Wir haben gehört, dass Nygren und das Ehepaar Fermi auf dem Hof leben, während Nils Hallman in Äsperöd wohnt, was drei Kilometer von hier entfernt sein soll. Ist das richtig?«

»Ja, er fährt jeden Tag mit seinem Moped hierher. Ich glaube, selbst ein Schneesturm würde ihn nicht davon abhalten.«

»Was halten Sie von Nils Hallman?«

»Nisse ist in Ordnung, auch wenn er Menschen allgemein mit Skepsis begegnet. Ich glaube, den Schweinen bringt er mehr Vertrauen entgegen. Wird schon seine Gründe dafür haben.«

»Halten Sie es für möglich, dass er mit jemandem in Streit geriet, seinen Widersacher erschlug und die Leiche in der Jauchegrube verschwinden ließ?«

PM schaute die beiden Polizisten ungläubig an und schüttelte energisch den Kopf. »Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, nein, völlig unmöglich. Er ist kein Hitzkopf und geht Konflikten generell aus dem Weg. Und falls er doch jemanden erschlagen haben sollte, hätte er die Leiche nie und nimmer in die Jauchegrube geworfen.«

»Warum?«

PM lachte. »Das ist schwer zu erklären, aber er gehört zu einer aussterbenden Sorte von Bauern, die einen echten und tiefen Respekt vor der Jauche haben. Sie ist für ihn so etwas wie eine kostbare Gabe Gottes. Eine Leiche in die Jauchegrube zu werfen, wäre einfach pietätlos.«

Obwohl Wagnhärad nicht sonderlich überzeugt wirkte, wechselte er das Thema.

»Was ist mit Sandström, dem Vorbesitzer? Was halten Sie von ihm?«

»Verschonen Sie mich ...«

»Was heißt das?«

»Dass ich ihn nicht ausstehen konnte. Und ich war weiß Gott nicht der Einzige. Überheblich, geizig und dumm. Damit ist alles über ihn gesagt.«

Wagnhärad lachte. »Die Urteile über Sandström sind in der Tat einhellig.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Es heißt, er habe wiederholt Polen schwarz bei sich arbeiten lassen. Können Sie das bestätigen?«

»Das ist sicher richtig.«

»Der Ordnung halber brauchen wir noch ein paar persönliche Angaben von Ihnen. Sie heißen Patrik Andersson?«

»Ja, so steht’s in meiner Geburtsurkunde. Allgemein bin ich als Patrik der Maler bekannt, meine Freunde nennen mich PM.«

Wagnhärad ließ verstohlen den Blick über die Wände schweifen, an denen die Bilder dicht an dicht hingen.

»Und von Beruf sind Sie Künstler?«

»Ja, und das an der Wand sind alles meine Bilder. Gehen Sie ruhig näher heran, die beißen nicht.«

»Und Ihre Frau heißt Katharina Ekman und arbeitet in der Stadtbibliothek?«

»Stimmt. Haben die Svanbergs Ihnen das alles verraten?«

»Äh, bestätigt, könnte man sagen.«

»Ich wette, die konnten Ihnen viel mehr Informationen geben, als ich dazu in der Lage bin.«

Wagnhärad ging auf diese Bemerkung nicht ein, stand auf und sagte: »So, ich denke, das war’s fürs Erste. Wenn uns noch was einfällt, melden wir uns bei Ihnen.«

»Tun Sie das, und grüßen Sie Roffe von mir.«

»Roffe?«

»Hauptkommissar Rolf Stenberg. Wir sind alte Schulfreunde. Ab und zu spielen wir miteinander ... äh ... musizieren, wollte ich sagen. Wenn auch nicht besonders oft in den letzten Jahren. Er ist ja ein viel beschäftigter Mann.«

Über Wagnhärads Gesicht huschte ein wohlwollendes Lächeln.

»Ach so, Sie kommen aus Christiansholm? Also, das kann man wirklich nicht hören.«

»Ich habe auch hart daran gearbeitet, meinen Dialekt loszuwerden, als ich nach der Schule nach Stockholm ging. Roffe hat zwar auch mehrere Jahre in Stockholm gewohnt, aber er war ein größerer Lokalpatriot als ich und hat sich sein Schonisch bewahrt.«

»Dabei hätte ich wetten können, dass Sie aus Stockholm sind«, sagte Wagnhärad verblüfft.

Nachdem PM die Tür hinter den beiden Polizisten geschlossen hatte, suchte er seine Pfeife. Auf dem Kaminsims lag sie nicht, also versuchte er sein Glück in der Küche. Als er einen Blick aus dem Fenster warf, sah er das Auto davonrollen und fühlte sich erleichtert. Nun konnte er sich endlich seiner Arbeit widmen. Doch als der Wagen die Einfahrt an den Fichten erreicht hatte, hielt er auf einmal an und setzte zurück. Ein weißer Fiat kam ihm entgegen. Der Weg war zu schmal, als dass beide Autos hätten aneinander vorbeifahren können. PM schaute auf die Uhr. Es war erst halb drei. Katharina war heute früh dran.

Unmittelbar an der Einfahrt passierte sie den wartenden Audi und hielt hinter dem Eingangstor. Die beiden Kriminalbeamten kamen ihr rasch entgegen, Wagnhärad hatte bereits lächelnd seinen Dienstausweis gezückt.

PM runzelte die Brauen und fluchte leise vor sich hin. Jetzt würden sie wieder hereinkommen und alles noch einmal erzählen. Vermutlich würde es Abend werden, bis er endlich zum Arbeiten kam. Und tatsächlich sah er, wie Katharina die beiden Männer mit einer einladenden Geste ins Haus bat. Doch der höfliche Kommissar blickte auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Eine eindeutige Ablehnung. Offenbar meinte er, dass sich die offenen Fragen am Gartentor klären ließen.

Er trat näher ans Fenster und beobachtete gespannt das Gesicht seiner Frau. Wagnhärad erzählte ihr offenbar gerade vom Fund der Leiche. Auch gut, dann konnte er sich das sparen. Ihre Augen weiteten sich ein wenig, ihre Lippen erstarrten. Für einen Moment sah sie verwirrt aus, doch schon im nächsten hatte ihr Gesicht seine Lebendigkeit wiedergewonnen. Sie begann zu sprechen.

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Seine selbstbewusste Ehefrau schien die beiden Polizisten einem Verhör zu unterziehen. Bereitwillig beantworteten sie jede ihrer Fragen, zumindest so lange, bis sie sich daran erinnerten, wer hier eigentlich die Fragen stellen sollte.

Bergh zückte plötzlich seinen Notizblock, während Wagnhärad eine ernste Miene aufsetzte. PM hoffte schadenfroh, dass ihre Bemühungen vergeblich waren. Er war sicher, dass Katharina auch ihr eigenes Verhör dominieren würde.

Er liebte diese hartnäckige Frau, die ständig eine so unverbesserlich Effizienz an den Tag legte. Manchmal war er nahe daran, sie für naiv zu halten, doch bewunderte er ihre souveräne Selbstsicherheit und ihre Fähigkeit, auch in den kompliziertesten Situationen die Ruhe zu bewahren. Sie ging immer vom guten Kern eines jeden Menschen aus, und auf merkwürdige Weise gelang es ihr in der Regel auch, diesen sichtbar zu machen. Sein eigenes Selbstbewusstsein war labilerer Natur und kam mitunter nicht ohne eine gewisse Überheblichkeit aus.

Nun fielen sie einander ins Wort. Offenbar gab es vieles, das Katharina unbedingt loswerden wollte, und der bedächtige Bergh hatte alle Mühe mitzuschreiben.

PM trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Fensterbank. Worüber redeten sie nur die ganze Zeit? Was zum Teufel erzählte sie ihnen alles? Ihrer überschwänglichen Gestik nach zu urteilen, musste es sich um etwas äußerst Interessantes handeln. Er schaute sie fasziniert an. In seinen Augen war sie schon immer eine rätselhafte Mischung aus südländischem Temperament und schwedischem Pragmatismus gewesen.

Eine Kombination, die ihn verwirrte und anzog.

Unter ihren Vorfahren war einst ein italienischer Immigrant gewesen, dessen Gene, wenn auch quasi in abgeschwächter Form, sowohl ihr Aussehen als auch ihren Charakter vorteilhaft beeinflussten. Ihm hatte sie die aristokratische Krümmung ihrer vielleicht eine Spur zu großen Nase zu verdanken, ebenso ihre dunklen, bernsteinfarbenen Augen sowie ihr dichtes, schwarzes Haar, das sie in einem langen, geflochtenen Zopf auf dem Rücken trug. Der feine olivfarbene Teint ihrer Haut vervollständigte den Eindruck, dass ihre Wurzeln am Mittelmeer lagen. Ihre Schönheit hatte einen zutiefst individuellen Charakter, und er wurde niemals müde, sie zu zeichnen. Er war davon überzeugt, dass sich alle Männer von ihr angezogen fühlten, und hätte ihre schwedische Nüchternheit in der Ehe nicht die Oberhand gewonnen, wäre er vor Eifersucht noch verrückt geworden.

Endlich löste sich die Gruppe an der Hofeinfahrt auf. Katharina ging dem Haus entgegen, während die Polizisten in ihr Auto stiegen. PM entdeckte seine Pfeife, die er vorhin auf den Herd gelegt haben musste, um den beiden Beamten die Tür zu öffnen. Er ließ sie liegen und eilte in die Diele, um seine Frau zu begrüßen.

2

Dagens Nyheter, Donnerstag, 20. April

Rätselhafter Leichenfund in Jauchegrube

Auf einem unweit von Christiansholm gelegenen Bauernhof machte ein Landwirt gestern eine grausige Entdeckung, als er beim Abpumpen der Gülle auf eine stark verweste und zersetzte männliche Leiche stieß. Die Polizei hält es für unwahrscheinlich, dass es sich um ein Unglück handelt, und geht bis auf weiteres von einem Verbrechen aus. Wie lange der Körper, der bislang nicht identifiziert werden konnte, in der ätzenden Flüssigkeit gelegen hat, ist schwer zu beurteilen. Die Polizei bittet die Bevölkerung um ihre Mithilfe und ist besonders an Hinweisen über Personen interessiert, die seit vier bis acht Monaten als vermisst gelten.

3

Donnerstag, 20. April

Katharina legte die Zeitung beiseite und sah ihren Mann nachdenklich an, während sie ihren heißen Kaffee schlürfte. Er war tief in seine Morgenlektüre versunken, eine Gebrauchsanweisung für einen Kaminofen, der mittelfristig dazu beitragen sollte, ihre Heizkosten zu senken. Er kaute abwesend an seinem Butterbrot mit gekochtem Ei und Kaviarcreme und war sich der Aufmerksamkeit seiner Frau nicht bewusst.

»Weißt du, was ich glaube?«, fragte sie.

Er war weiter in seine Broschüre vertieft. »Mmm?«

»Ich glaube, sie haben seinen Geliebten aus der Grube gefischt.«

PM schaute auf. »Wessen Geliebten?«

»Na, den des so genannten Bauern.«

»Wovon redest du?«

Katharina reichte ihm die Zeitung und deutete auf eine Notiz. »Ich rede von dem schrecklichen Gewaltverbrechen, das unsere beschauliche Provinz erschüttert.«

Er überflog die Zeilen. »Was hast du von einem Geliebten gesagt?«

»Ich habe den Gedanken geäußert, dass es der Geliebte des angeblichen Bauern gewesen sein könnte, den sie aus der Jauchegrube gefischt haben.«

»Geht jetzt deine Fantasie mit dir durch?«

»Was ist dagegen einzuwenden, wir sind doch unter uns.«

»Wieso nimmst du an, dass er schwul ist?«

»Ach, ich habe keine Ahnung von seinen Neigungen. War doch nur so eine Idee. Gibt’s noch Kaffee?«

Er schenkte ihnen beiden nach. »Warum sagst du ›angeblicher‹ Bauer?«

»Auch nur so eine Idee.«

Er legte die Broschüre weg, lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Nacken.

»Du machst mich neugierig«, sagte er. »Erzähl!«

Katharina rührte in ihrer Tasse und sah aus dem Fenster. Draußen hatte es begonnen zu schütten. Es sah aus wie ein grauer Vorhang.

»Oh je, ich hoffe, es hört auf, bis ich fahre«, sagte sie. »Wir haben zwar Regen gebraucht, aber jetzt reicht es langsam.« Sie gähnte und zog ihren Bademantel enger um sich. »Ich habe doch schon früher gesagt, dass er als Bauer keine überzeugende Figur abgibt.«

»Hast du irgendwas Bestimmtes gegen ihn?«

»Nein, eigentlich nicht ...« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich würde ihm vielleicht nicht gerade meine Topfpflanzen anvertrauen, aber einen Gebrauchtwagen würde ich ihm glatt abkaufen. Es ist schwer zu erklären, doch immer wenn ich ihn sehe, habe ich das Gefühl, dass er sich verkleidet hat. Dass er nur vorgibt, ein Bauer zu sein. Manche Menschen machen den Eindruck, als spielten sie eine Rolle. Findest du nicht?«

»Doch, ich weiß, was du meinst. Aber ich habe nie gefunden, dass Bauern alle vom gleichen Schlag sind. Lässt man die letzten Jahre Revue passieren, dann haben wir auf dem Hof doch die unterschiedlichsten Typen erlebt. Und da passt Nygren eigentlich ganz gut rein.«

»So meine ich das auch nicht. Rein äußerlich mag er ja als waschechter Schweinezüchter durchgehen. Er hat nie etwas gesagt oder getan, was unser Misstrauen hätte erregen können. Aber immer wenn ich ihn in dem schmutzigen Overall und mit seiner Schirmmütze sehe, habe ich so merkwürdige Assoziationen.«

»Wirklich?«

»Ja, ich finde, ein Smoking oder ein Nadelstreifenanzug würde ihm viel besser stehen. Er sieht so verloren aus zwischen den Schweineställen und Traktoren, und der Jauchegeruch passt einfach nicht zu ihm. Findest du nicht, dass er in einem anderen Milieu viel überzeugender wäre, zum Beispiel in einem Nachtclub oder in einem Wirtschaftsunternehmen?«

PM lachte. »Ein verzauberter Schweinezüchter.«

Auch Katharina schmunzelte. »Ja, warum nicht.«

»Ich frage mich, ob du den Kerl mit so viel Skepsis betrachtest, weil er nicht verheiratet ist.«

»Unsinn, die Welt ist voller Junggesellen, die kein bisschen rätselhaft sind. Es ist etwas anderes ... Außerdem hat man eine Leiche in seiner Jauchegrube gefunden. Gib zu, dass ihn das ein wenig interessant macht.«

»Einverstanden, aber wenn du findest, dass ihn das verdächtig macht, darf ich dich daran erinnern, dass er selbst es war, der die Leiche gefunden und die Polizei verständigt hat.«

»Ja, und wenn er den Mann eigenhändig in die Grube geworfen hat, konnte er sich ausrechnen, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis die Leiche an die Oberfläche käme. Für eine Identifizierung des Toten ist es jetzt bestimmt zu spät, also wird sich auch nichts mehr beweisen lassen. Eine Jauchegrube ist doch der perfekte Ort, um jemanden verschwinden zu lassen. Kein Leichengeruch der Welt kommt gegen diesen Gestank an.«

PM blickte seine Frau herausfordernd an. »Ihr Scharfsinn ist verblüffend, Miss Marple.«

Katharina schlug einen sanfteren Ton an. »Solche Spekulationen am Frühstückstisch regen das Gehirn an.«

»Und die Zähne?«, fragte er.

»Welche Zähne?«

»Man kann eine Leiche anhand der Zähne identifizieren. Das scheint dein diabolischer Schweinezüchter nicht bedacht zu haben.«

Katharina schüttelte sachte den Kopf. »Tut mir Leid, aber eine Identifikation anhand der Zähne ist nur möglich, wenn man den Zahnarzt des Toten findet. Und wie sollte das möglich sein, da man nicht einmal weiß, ob der Mann aus Schweden kam.«

PM schien eine Weile seinen Gedanken nachzuhängen. Katharina stand auf und deckte den Tisch ab. Er sah ihr dabei zu, und nach einer Weile sagte er: »Weißt du eigentlich, was aus Sandbergs geworden ist?«

»Wer ist das?«

»Die Vorbesitzer.«

»Die hießen Sandström. Nein, ich habe keine Ahnung, wo sie hingezogen sind. Ich hatte ja nur sporadischen Kontakt mit ihnen. Du meinst, bei der Leiche könnte es sich um Sandström handeln?«

»Das ist ebenso gut möglich wie vieles andere. Es ist doch erst ein gutes halbes Jahr her, seit sie weggezogen sind.«

»Märta Sandström hätte doch sicher Alarm geschlagen, wenn ihr Mann verschwunden wäre.«

»Nicht, wenn sie ihn selbst aus dem Weg geräumt hätte.«

»Ich frage mich, wer von uns hier ein Opfer seiner blühenden Fantasie ist.«

»Du hast schließlich das Recht auf verwegene Theorien nicht für dich allein gepachtet.«

Katharina setzte sich wieder hin, stützte das Kinn auf die Hände und sah ihren Mann zustimmend an.

»Die Idee ist gar nicht mal so schlecht. Wäre ich an Märta Sandströms Stelle, könnte ich der Versuchung kaum widerstehen. Die Frage ist, ob sie ihn erwürgte, bevor sie ihn in die Grube stieß. In diesem Fall wünsche ich ihr, dass sie mit dem Geld, das sie für den Hof bekommen hat, nach Australien durchgebrannt ist, um sich eine Schaffarm und einen attraktiven jungen Liebhaber zuzulegen.«

PM tat schockiert. »So viel wird der Hof kaum abgeworfen haben. Für eine Schaffarm könnte es vielleicht reichen, aber sie müsste schon ein Vermögen hinblättern, damit sich ein junger, attraktiver Mann mit ihr einlässt.«

»Du scheinst sie ja nicht besonders anziehend zu finden.«

»Ich bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie mich angesprochen hat.«

»Also, ich fand den Alten unausstehlich. Der hat uns doch ständig das Gefühl gegeben, wir dürften nur dank seiner großen Gnade hier wohnen. Er glaubte bestimmt, dass das Haus immer noch zum Hof gehört. Außerdem hat er mich ständig mit seinen Blicken ausgezogen.«

»Ist das wahr? Dann hoffe ich wirklich, dass er in der Jauchegrube gelandet ist.«

Katharina schien des Themas plötzlich überdrüssig zu sein, zwinkerte demonstrativ und seufzte unüberhörbar. PM strich mit seinem Zeigefinger über ihren Nasenrücken. Eine Geste, die andeutete, dass er um ihre Gemütslage besorgt war.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte er sanft.

Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Die Sache scheint dich doch sehr mitgenommen zu haben. War ich zu schroff, als ich darüber geredet habe?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ach, nein, ich war doch nicht anders. Mir ist die ganze Angelegenheit einfach unheimlich. Dir geht es doch sicher genauso.«

Er dachte nach. »Eigentlich geht mich die Sache ebenso wenig an, als wäre sie in Lappland passiert. Was mich eher beunruhigt, ist die Tatsache, dass wir im Moment zu einer Art Wallfahrtsort werden. Die Leute kommen von überall her, um sich den Tatort mit eigenen Augen anzusehen.«

»Heute Nacht habe ich davon geträumt.«

»Von den Schaulustigen?«

»Nein. Ich träumte ... Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber es ging um den Fund der Leiche. Irgendwie hatten wir damit zu tun. Das hat einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen.«

Das Geräusch eines Automotors drang durch das eintönige Plätschern des Regens. Als sie eine Autotür schlagen hörten, zuckte sie zusammen und starrte aus dem Fenster. PM stand auf.

»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte er. »Ist nur Kalle Svanberg, der mir bei der Installation des Kaminofens helfen will. Lass den Abwasch einfach stehen, den mache ich später.«

Als er an ihr vorbeiging, um die Haustür zu öffnen, beugte er sich zu ihr hinunter, hob ihren schweren Zopf an und küsste sie in den Nacken. Sie beantwortete den Kuss mit einer flüchtigen, zärtlichen Geste, schien jedoch ganz in Gedanken versunken.

Es war noch eine knappe Stunde Zeit, bis sie zu ihrem Arbeitsplatz aufbrechen musste, doch obwohl sie noch jede Menge zu tun hatte, blieb sie unschlüssig sitzen und verfolgte die unberechenbare Spur der Tropfen, die über die Scheibe liefen. Aus der Diele drangen Kalles breites Schonisch und Patriks polterndes Lachen. Nach einer Weile kamen sie in die Küche. Patrik kramte in einer der Schubladen, während Katharina und Kalle sich über den Frühling unterhielten, der sich bisher von seiner besten Seite gezeigt hatte, auch wenn zurzeit wenig von ihm zu spüren war. Katharina war froh, dass er kein Wort über die Leiche in der Jauchegrube verlor. Kalle hatte einen ausgeprägten Sinn für die Erfordernisse des Alltags. Warum sollte er sich also noch mit Geschehnissen von gestern beschäftigen? Seit dem gestrigen Polizeibesuch und dem heutigen Vormittag waren in seiner Welt sicher eine Menge wichtiger Dinge geschehen, und Katharina widerstand der Versuchung, das Thema von sich aus zur Sprache zu bringen. Die beiden Männer verschwanden fröhlich plaudernd in Richtung Atelier, und Katharina wunderte sich, dass sie weiterhin so bedrückt war. Abgesehen von dem schrecklichen Vorfall auf dem Nachbarhof war doch alles wie immer. Er sollte sie nicht länger belasten.

Eigentlich kannte sie den Grund ihrer Unruhe sehr genau, doch sie scheute sich, Patrik damit zu behelligen. Denn sie hatte nichts Konkretes in der Hand, nur düstere Vorahnungen eines bevorstehenden Unglücks. Sie kam sich albern und überspannt vor. Vermutlich hatte es mit ihrem Traum zu tun, aber nicht nur damit. Die Vorahnungen hatten sie schon gestern Abend beschlichen. Etwas Bedrohliches schien sich anzubahnen.

Aber das konnte sie Patrik nicht sagen. Der hatte von ihren bösen Ahnungen sicher genug. Nicht dass sie ständig welche hätte, aber das Thema war heikel. Schon einmal hatte sie so ein komisches Gefühl gehabt, und Patrik hatte davon nichts wissen wollen, was an und für sich verständlich gewesen war. Später hatte sie sich davor gehütet, »Ich hab’s doch gewusst!« auszurufen, obwohl ihr die Worte auf der Zunge gelegen hatten. Aber damals hatte es sich um etwas gehandelt, das sie beide im höchsten Grad persönlich betraf. Jetzt gab es für ihre Unruhe keinen vernünftigen Grund. Was war geschehen? Eine Leiche war auf dem Nachbargrundstück gefunden worden. Und weiter? Patrik hatte Recht, die Sache ging sie nichts an. Nicht mehr zumindest als jeder andere Mord, und Morde waren auf dieser Welt an der Tagesordnung. Natürlich war dieser ganz in ihrer Nähe geschehen. Sie war an der Jauchegrube doch ständig vorbeigegangen, manchmal ihren Gestank verfluchend, ohne zu ahnen, dass dort seit Monaten eine Leiche vor sich hin moderte.

Warum musste dies nur ausgerechnet zu einem Zeitpunkt geschehen, an dem sie eine ihrer schwersten Ehekrisen der vergangenen achtzehn Jahre endlich überwunden zu haben glaubten? Sie blickten wieder hoffnungsvoller in die Zukunft. Patrik, dessen Schwermut nicht völlig verschwunden, aber doch bedeutend abgeschwächt war, hatte seine Arbeitsfreude wiedergefunden. Die lange vermisste Leichtigkeit des Daseins schien zurückzukehren ...

Sie streckte sich gähnend und schlug entschlossen mit der Hand auf die Tischplatte. Warum den Teufel an die Wand malen? Es war mitten am Vormittag, gleich würde sie zur Arbeit fahren. Noch gestern war sie voller Optimismus gewesen. Warum zog sie sich nicht endlich an, statt unentwegt den ewigen Regen anzustarren? Ihr bisheriges Leben mit PM unter akzeptablen Umständen weiterzuführen, war alles, was sie wollte. Und sie konnten jetzt keine störenden Einflüsse von außen gebrauchen.

Sein Lachen drang aus dem Atelier durch mehrere Wände zu ihr. Sie liebte dieses ungehemmte Lachen, hatte es immer getan ...

Plötzlich musste sie lächeln. Nächsten Sommer konnten sie ein großes Jubiläum feiern. Vor genau zwanzig Jahren hatten sie sich bei einer Mittsommernachtsfeier kennen gelernt. Obwohl es, was die Details betraf, unterschiedliche Meinungen gab. Sie hatten sich nie darauf einigen können, wann sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Beide erklärten mit Nachdruck, der andere würde sich irren. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich inmitten einer riesigen Menschenmenge befunden hatten, war diese Uneinigkeit vielleicht auch nicht so verwunderlich.

Zumindest wusste sie mit Sicherheit, dass sie sich 1975 während des legendären Mittsommerfests auf der Insel Djurö erstmals begegnet waren. Ein Fest unter freiem Himmel, das am Vormittag begonnen und am nächsten Vormittag geendet hatte. Es war eine dieser Massenveranstaltungen gewesen, bei denen man immer nur einen Bruchteil der Gäste kennt. Speisen und Getränke waren von behandschuhten Kellnern serviert worden, die im Stil der Jahrhundertwende gekleidet waren. Es war ein verschwenderisches Fest mit einer Reihe prominenter Gäste gewesen. Vor Katharinas unerfahrenen und naiven Augen hatte sich die Elite des schwedischen Kulturlebens um die luxuriösen Tafeln versammelt.