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Thomas Hanstein | Andreas Ken Lanig

Spirituelle Kompetenz in digitalen
Lern- und Arbeitswelten

Thomas Hanstein | Andreas Ken Lanig

Spirituelle Kompetenz in digitalen
Lern- und Arbeitswelten

Erfolgreich studieren und arbeiten mit
Spirituellem Selbstmanagement 4.0

Tectum Verlag

Die vorliegende Arbeit beschränkt sich aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die männliche Form. An den entsprechenden Stellen sind selbstverständlich alle Geschlechter gemeint.

 

 

 

 

Thomas Hanstein / Andreas Ken Lanig

Spirituelle Kompetenz in digitalen Lern- und Arbeitswelten

Erfolgreich studieren und arbeiten mit Spirituellem Selbstmanagement 4.0

 

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020

ePub 978-3-8288-7299-8

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4349-3 im Tectum Verlag erschienen.)

 

Umschlaggestaltung: Sylvia M. Ebner, Andreas K. Lanig

Wimmelbilder im Innenteil: Sylvia M. Ebner

Strichzeichnungen: Andreas K. Lanig

Korrektorat: Angelika Zink

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Besuchen Sie uns im Internet
www.tectum-verlag.de

 

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Angaben sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Aufbau

Vorwort

Einleitung

DIE WURZELN

Die Gesellschaft ist längst digital

Digitales Leben benötigt ein neues Nachdenken über Sinn

Lebenspraktischer Bezug des digitalen Lebens

Virtueller Jetlag

Kontemplation und die Rolle des Unbewussten

Reflexion und Transformation

Die Notwendigkeit fortschreitender Kompetenzentwicklung

Rituale in entgrenzten digitalen Räumen

Virtuelle Selbstsorge

Statt Religion: Spiritualität

Zwischenertrag

DER STAMM

Die Natur kennt keine Perfektion

Der Mensch: Geist-Leib-Seele-Wesen

Selbstmanagement: Handling Ihres inneren Dialogs

Murphy ist immer mit dabei

Schaffen heißt nicht machen

Reframing als kreatives Focusing

Dankbarkeit und Inspiration

Bei der Sache und im Moment sein

In die Stille gehen

Virtuelles Fasten

Gelassenheit heißt Dinge lassen

Virtuelle Melancholie

Warum heißt nicht wozu

Zwischenertrag

DIE KRONE

Praktische Ausgangslage: Ergebnisse einer Umfrage zum Thema

Virtuelle Notwendigkeiten vs. Selbstwirksamkeit

Virtuelle Verbundenheit vs. subjektive Robustheit

Virtuelle Eigenartigkeit vs. Andersartigkeit

Virtuelle Abstraktion vs. Leiblichkeit

Virtuelle Sinnsuche vs. fokussierte Sinnfindung

Virtuelle Uniformität vs. subjektive Authentizität

Virtuelle Funktionalität vs. Ästhetik

Virtuelle Irritationen vs. Ausgespanntheit

Virtuelle Omnipotenz vs. Ethos

Virtuelle Gebundenheit vs. subjektive Freiheit

Zwischenertrag: virtuelle Gleichzeitigkeiten vs. Priorisierung

SÜSSE FRÜCHTE UND DUFTENDE BLÜTEN – 11 meditative Angebote zur spirituellen Kompetenz

Virtuelle Resilienz durch spirituelle Kompetenz – (k)ein Schlusswort

Von der Notwendigkeit, über den eigenen Tellerrand (nicht nur) zu schauen

Die geistlichen Aspekte geistiger Arbeit

Anhang: Literaturverzeichnis

Anhang: Schlagwortregister

Anhang: Umfrage

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Vorwort

Die Aussage, dass der Mensch ein biopsychosoziales Wesen sei, ist wissenschaftlich unbestritten. Doch der Mensch ist noch mehr, er ist darüber hinaus auch ein spirituelles Wesen. Erst wenn wir auch diese Dimension berücksichtigen, erfassen wir die Gesamtheit des Menschen. Doch zu seiner spirituellen Dimension vermag die Wissenschaft gegenwärtig noch wenig beizutragen. Die geringsten Erfolge hat die moderne Wissenschaft nämlich im Bereich der Bewusstseinsforschung zu verzeichnen. Studien zeigen uns zwar, dass sich eine spirituelle Praxis positiv auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirkt; die Wiederentdeckung der Spiritualität, um mit einem Buchtitel von Rupert Sheldrake zu sprechen, befindet sich allerdings erst noch am Anfang.

Nachdem der Mensch in der Erforschung der äußeren Welt große Fortschritte gemacht hat, ist er nun aufgefordert, sich verstärkt seiner Innenwelterkundung zuzuwenden. Ein Treiber für diese Entwicklung ist nicht zuletzt die Digitalisierung. Wir erleben heute eine grundlegende Veränderung der Art, wie Wissen generiert und dargestellt wird. Als Digitalität verstehen wir die von digitalen Technologien geprägte Bedingung, wie wir etwas über die Welt erfahren, wie wir unsere Arbeits- und Lernprozesse gestalten und wie wir dabei mit der Welt verbunden sind. Auf diese Weise sind wir in der Lage, andere Beziehungen zu knüpfen, neue Muster zu finden und mit ihnen zu experimentieren. Die zentrale Herausforderung der Kultur der Digitalität ist dabei die Komplexitätszunahme.

Um mit den Herausforderungen der Komplexität bei gleichzeitiger Beschleunigung von disruptiven Veränderungen in der VUKA-Welt umgehen zu können, benötigen wir auf individueller, Team- und Führungsebene real und metaphorisch Räume für neues Denken. Hierzu gehören Räume für Ruhe und Rückzug, für Konzentration, für Ideengenerierung, für selbstorganisiertes Lernen und vor allem für Reflexion. Insbesondere Lern- und Bildungsprozesse sind hierauf unabdingbar angewiesen. Damit wir uns sowohl in den realen als auch digitalen Räumen angemessen bewegen können, benötigen wir auch die entsprechenden Kompetenzen.

Nachdem wir in den vergangenen Jahrzehnten erkannt haben, dass es nicht ausreicht, lediglich die kognitiven Kompetenzen zu fördern, sondern dass es auch erforderlich ist, die emotionalen Kompetenzen zu entwickeln, steht nun ein weiterer Schritt an, nämlich die Entwicklung spiritueller Kompetenzen. Virtuelle Lebens- und Arbeitswelten sind bereits metaphysische Räume. Die Forderung nach spiritueller Kompetenz, wie sie hier im Buch vorgetragen wird, ist deshalb nur folgerichtig. Doch wie kann es praktisch gelingen, spirituelle Kompetenzen zu erproben, zu entfalten und weiter zu entwickeln? Die Antwort hierauf ist ganz einfach und zugleich auch schwierig umzusetzen. Die Herausforderung besteht darin, in jedem Moment ganz bei sich, unserem Gegenüber und zugleich auch bei der Sache zu sein, über die wir gerade verbunden sind. Die Verbundenheit als der Kern von Spiritualität hat dabei wie der Psychotherapeut Bill O’Hanlon feststellt, drei Aspekte: erstens die Connection, sich mit anderen oder etwas verbunden zu fühlen, zweitens die Compassion, mit anderen mitzufühlen, ohne Mitleid zu haben, und drittens die Contribution, etwas Gutes für andere und die Welt zu tun. Mit dieser Haltung können die Voraussetzungen und Bedingungen dafür geschaffen werden, dass Kohärenz im Kontext pluraler Mehrdeutigkeiten entstehen kann. Die Übungen in diesem Buch sollen insbesondere den Fernstudierenden helfen, Sinnhaftigkeit in ihren Lernprozessen zu erfahren, um so u.a. ihre Resilienz bezüglich des Umgangs mit digital induzierten Stressoren zu fördern. Dies geschieht indem aufgezeigt wird, wie es gelingen kann, spirituelle Techniken in den professionellen Alltag zu integrieren.

Weitgehend selbstorganisierte Lernprozesse werden damit zugleich zu Transformationsprozessen. Es geht nicht nur um den Erwerb von Kompetenzen, sondern zugleich auch um die Arbeit am Selbst. Dies ist gemeint, wenn von „spirituellem Selbstmanagement 4.0“ die Rede ist. Damit ändert sich auch die Rolle eines akademischen Lehrers, dessen didaktisches Verständnis dem eines Lernbegleiters im Sinne der Ermöglichungsdidaktik entspricht und der sich stärker darauf fokussiert, Lehr-Lern-Arrangements für selbstgesteuerte Lernprozesse zur Verfügung zu stellen, so wie dies in dem hier vorgelegten Ratgeber geschieht. Es werden allerdings keine Ratschläge im Sinne von Verhaltens- und Handlungsempfehlungen gegeben. Im Vordergrund stehen die Impulse für eigene Reflexionsprozesse; denn die Verantwortung für ihre eigenen Lernprozesse bleibt stets bei den Subjekten der Lernprozesse.

Lern- und Bildungsprozesse im Sinne der beschriebenen Transformationsprozesse erfordern Zeit, Muße, Selbstbestimmung und Metakommunikation. Auf dieser Basis entsteht die Offenheit und Bereitschaft, den Blick zu weiten, Systemgrenzen zu sprengen und sich inspirieren zu lassen von multi-, trans- und interdisziplinären Zugängen. Das Überschreiten von Grenzen eröffnet neue Perspektiven. Am Beispiel theologischer Zugänge und denen aus der Designtheorie wird dies hier eindrücklich exemplarisch vorgeführt. Auf diese Weise können produktive Irritationen entstehen, die neue Sichtweisen ermöglichen.

Wissenschaftliche Lernprozesse sind Expeditionen in eine terra incognita und ständig auch ein Wagnis, in das der ganze Mensch involviert ist. Wie die Wissenschaftstheorie aufzeigt, gibt es dabei einen Unterschied zwischen dem Entdeckungs- und dem Darstellungszusammenhang. In den meisten der wissenschaftlichen Publikationen begegnet uns leider nur der letztere; deshalb bereitet die Lektüre ihrer Erkenntnisse häufig weniger Freude. Über den Entdeckungszusammenhang etwas zu erfahren, wäre vielfach unendlich spannender, vollziehen sich hier doch die kreativen Prozesse, die später rationalisiert werden. Bereits Einstein wusste, dass es ein Wissen jenseits der Rationalität gibt. Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Geist sein treuer Diener. Das Bewusste ist klug, das Unbewusste weise. Ein spiritueller Zugang, wie hier vorgenommen, vermag beide Aspekte zusammen zu bringen. Nur so ist innovatives wissenschaftliches Denken und Handeln im Zeitalter einer Digitalität möglich, die gesellschaftliche Teilhabe und persönliches Wachstum befördert.

Jena, im Januar 2020

Prof. Dr. Erich Schäfer

Ernst-Abbe-Hochschule Jena

Einleitung

Seit 20 Jahren betreibt die DIPLOMA Hochschule erfolgreich Fernstudiengänge, und dies in wachsender Zahl. Dabei wird größter Wert auf eine permanente Qualitätsentwicklung in der Lehre wie bei den Dozierenden gelegt. Seit Jahren bilden wir mit mehreren Kollegen ein methodisch-didaktisches Schulungsteam für (neue) Dozierende in der virtuellen Lehre und seit einem Jahr wurde dieses Programm um das Format Kollegiales Coaching erweitert. Neben der fachlichen und methodisch-didaktischen Weiterentwicklung ergeben sich jedoch weitere Bedarfe, wie eine aktuelle Befragung von 787 Studierenden (01.04. bis 20.09.2019) gezeigt hat, die wir an der DIPLOMA Hochschule im Sommersemester 2019 durchgeführt haben. Diese Bedarfe im speziellen Kontext der virtuellen Lehren sehen wir eingebunden in die generelle Metaebene digitaler Lern- und Arbeitswelten. Insofern reagieren wir nicht nur auf die Ergebnisse unserer Umfrage, sondern wir stellen diese Betrachtungen als zeitgeistige Schrift zur Diskussion:

Nach über 10 Jahren digitaler Revolution – sofern man die Veröffentlichung des ersten iPhones 2007 als Zäsur der mobilen Medien begreifen mag – beobachten wir Phänomene, die uns letztlich zu diesem Buch geführt haben. Denn seit Jahren fallen uns konkrete Phänomene der Sinnsuche im Digitalen auf. Das sind einerseits die zweifelsohne wichtigen Diskurse zum Glück (vgl. Schöler, 2016) als solches, aber auch Alltagshandlungen, die sich etwa in Apps zur Meditation zeigen. In diesen Handlungen und Verhaltensweisen zeigt sich eine spirituelle Sehnsucht. Und dies aus einem guten Grund: Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist in vielen Bereichen auf einem Niveau angekommen, auf dem sich qualitative Fragen der Lebensführung und damit auch spirituelle Fragen stellen. Die Menschen haben eine Sehnsucht nach Sinn und Halt.

Zeitgeistig ist dieses Phänomen deswegen, da die Digitalisierung noch immer hauptsächlich als Marktfaktor interpretiert wird. Damit wird auch verständlich, weshalb der Angstfaktor in diesem Diskurs befeuert wird: Weil die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt nicht absehbar sind und wir Menschen auf etwas nicht absehbares Neues instinktiv mit Bedenken reagieren. Dennoch ist dieses Buch ein grundlegend optimistisches, gerade weil wir eine qualitative Stufe der digitalen Gesellschaft kommen sehen, die nunmehr auf mentale und spirituelle Fragen pocht. Darauf wollen wir – unsere – Antworten geben.

Wer sind „Wir“? Dieses Buch schreiben wir aus der Perspektive von Lehrern. Ausgehend von dieser Arbeit stellen wir zeitgeistige Phänomene bei Schüler/Innen und Studierenden fest. Damit haben wir Ausgangspunkte für eine tiefergehende Betrachtung. Wir selbst verstehen uns darin nicht als Kritiker der Märkte – als Designer und Coaches ist unsere Arbeit direkt und indirekt auf die Märkte ausgerichtet –, wir stellen jedoch einen Mangel darin fest, dass die eindimensionale, marktorientierte Logik zwar Werte im Wortsinn schafft. Aber in diesem Diskurs fehlt nach unserem Verständnis die im humanistischen Sinne verstandene Wertfrage. In diesem Buch wollen wir somit dem Sinn in der Digitalisierung nachspüren. Dieses Nachspüren fächern wir interdisziplinär auf: Aus philosophisch-theologischer und ästhetischer Perspektive wollen wir eine weltanschaulich übergeordnete Definition von Spiritualität erarbeiten. Ein Buch in einer gemeinsamen Autorenschaft von einem Designlehrer und einem theologischen Coach vereint damit diese beiden Perspektiven der klassischen theologischen Fragestellung und der Begleitung künstlerischer Prozesse; beide Herangehensweisen haben die Entwicklung des Menschen im Blick und beschäftigen sich mit existenziellen Fragen. Gleichzeitig ist diesen Prozessen in virtualisierten Studiengängen und online-gestützten Coachingprozessen die prinzipielle Integration der digitalen Welt eigen. Damit wird eine sinnvolle Koexistenz der virtuell-digitalen Sphäre und der real-sinnlichen Welt gleichsam mitgesucht.

Wir denken aus der Perspektive der Wissenschaft. Gleichzeitig führen wir mit diesem Buch in den notwendigen theoretischen Diskurs ein; unser Buch will ein Ratgeber sein. Dieser theoretisch fundierte Ratgeber will konkrete Techniken im Umgang mit virtuellen Lern- und Arbeitswelten bieten. Um die Zielgruppe zum Einstieg dieses Buches zu beschreiben, möchten wir eine reale Fallschilderung voranstellen:

Die Studierende Frau D. ist 33 Jahre und hat nach ihrem beruflichen Einstieg eine Karriere im Betrieb gemacht. Das tröstet sie darüber hinweg, damals die Schule in der 11. Klasse „geschmissen“ und eine Ausbildung angefangen zu haben. Dennoch ist ihr aufgrund des fehlenden Abiturs und dem damit – damals – nicht möglichen Studium der berufliche Weg zur Designerin mit einem akademischen Grad verwehrt geblieben. In der heute sehr gewandelten Hochschullandschaft haben sich zwischenzeitlich neue Wege im Hochschulzugang ergeben. Ihr Qualifikationswunsch, aber vor allem der Wunsch nach Veränderung existenzieller Art brachte Frau D. zum nebenberuflichen, virtuellen Fernstudium. Zwar ist sie ein „Digital native“, hatte aber naturgemäß Vorbehalte gegenüber dieser hier bislang unbekannten Form der Bildung.

Ihr bislang nur vermutetes Entwicklungspotenzial auf intellektueller und schöpferischer Ebene entwickelt sich in diesem Rahmen zusehends – auch abseits klassischer Bildungsinstitutionen. Sie kann über die Digitalisierung außerhalb von den Mauern einer Institution ihrem akademischen Entwicklungswunsch zustreben.

Entwicklungen wie diese zeigen, wie Digitalisierung im Bildungsbereich klassische humanistische Tugenden ermöglicht: Ein virtuelles Fernstudium ist in erster Linie Selbststudium, das von Selbstorganisation geprägt ist. Daraus ergibt sich fast automatisch ein hohes Maß an Selbstvertrauen.

Gleichzeitig steht diesen Entwicklungen eine ganze Reihe von Krisen gegenüber. Diese sind einerseits klassische Komplexitäts- und Progressionskrisen, wie sie in den Studieneingangsphasen auch traditioneller Präsenzstudienformen empirisch nachgewiesen werden. Diese Techniken der Bewältigung im Rahmen eines digitalisierten Alltags sind indessen Ausgangspunkte für diesen Ratgeber:

Die Studierende Frau D. gewann im Verlauf des zweiten Studienjahres immer mehr die aus der Krise entstandene Einsicht, die eigene gestalterische Entscheidung ins Zentrum ihres Handelns zu stellen. Nicht die Erwartungen anderer waren leitend, sondern ihre individuellen Wege produktiv und konstruktiv aus den Krisen hervorzugehen. Frau D. gelang es, ihren beruflichen und familiären Alltag neu zu ordnen: In ihrer Wohnung entstanden symbolische Orte des Schaffens. Es entstand einerseits eine symbiotische Beziehung zur digitalen Umwelt und gleichzeitig eine gestärkte Autarkie und Autonomie gegenüber den fallenden Raum- und Zeitgrenzen.

Beobachtungen wie diese inspirierten uns als Wissenschaftler, diese Bewältigungsstrategien genauer zu betrachten und zu beforschen. Als theoretisch unterfütterte, aber in erster Linie lebenspraktisch gedachte Empfehlungen bilden sie die Keimzelle unseres „Baumes“, der nun als Ratgeber vor Ihnen liegt.

Wir haben uns daher für einen induktiven Aufbau entschlossen: Ausgehend von dem Denken, Fühlen und Handeln unserer Studierenden ordnen wir diese Phänomene in den fachwissenschaftlichen Rahmen der Kulturtheorie ein. Darin befinden sich Philosophie und Theologie ebenso wie die Designtheorie. Dieser Bezug auf den Lebenskontext ist uns sehr wichtig. Denn wir sind der Überzeugung, dass die virtuelle Sozialisierung in unserer Hochschule ein Ausblick in zukünftige Lebens- und Arbeitswelten ist.

Wir haben diesen konzeptionellen Grundaufbau in die Metapher des Baumes gefasst: Die Wurzeln stellen die aktuell erkennbaren Lebenswelten einer virtuellen Hochschule dar. Im Stamm des Baumes wachsen diese mit den klassischen traditionellen theoretischen Bezügen der Kulturtheorie, Sozialwissenschaft und Kunstpädagogik zusammen. Daraus erwachsen in einem dritten Kapitel die Äste und Früchte, die in unserem Fall die Themen des Ratgebers sind. Die Spiritualität als solche trägt als Kernfrage eine Transzendenz in sich: Diese wollten wir „über“ unseren Baum als Krone platzieren. Im abschließenden Teil des Buches schaffen wir in einem Epilog Ausblicke in Themenbereiche, die als Mystik zu bezeichnen sind.

In diesem hierarchischen Aufbau und dem Aufstieg aus der weltlichen, konkreten Ebene hin in die Transzendenz ist es jedem/r Leser/in überlassen, wie weit wir gemeinsam den Baum erklimmen. Es ist ganz natürlich, dass der eine oder andere eine gewissen „Höhenangst“ verspürt; das ist zu respektieren. Wir glauben aber auch, dass ein jeder den „Drang nach oben“ hat.

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DIE WURZELN

Die Ausgangslage dieses Ratgebers lautet daher: Die Digitalisierung der Arbeits- und Lebenswelten verlangt neue Kompetenzen. Diese betreffen Alltagshandlungen, etwa wie wir mit digitalen Geräten umgehen und wie Daten unseren Alltag prägen. Diese explizite Ebene ist jedoch nicht Schwerpunkt dieses Beitrags. Denn diese rationale Ebene scheint im Diskurs zur Digitalisierung bereits sehr gut thematisiert zu sein. In betrieblichen und familiären Gesprächen ist die Digitalisierung eine organisatorische Herausforderung. Wir wollen stärker die implizite Ebene diskutieren – konkret: Inwiefern müssen wir als Menschen unsere Wahrnehmung gegenüber einer digitalen Welt schärfen? Wie können wir dieses Menschsein neu begreifen? Inwiefern verändern virtuelle Welten und die Digitalität – als eben dieses Phänomen der Verschränkung des Analogen und Digitalen – unser Verständnis des Menschseins bzw. stellen sie bisherige Menschenbilder und auch unser Verständnis von menschlicher Kommunikation in Frage? Und schließlich: Wie können wir die Potenziale dieser Veränderungen sinnhaft und nachhaltig spirituell nutzen, insbesondere für die eigene Rekreation des lernenden Subjekts wie aber auch für die bewusste Fokussierung von systemischen Team- und Organisationsprozessen.

Ein Schlüsselmoment zu diesem Buch war ein Zitat im Rahmen einer empirischen Forschung zum virtuellen Lernen. Das Gespräch drehte sich um die Frage, an welchen Situationen die Probandin einen persönlichen Entwicklungsschritt feststelle. Sie erzählte: „Ich merke das daran, dass meine eigentliche Erwerbstätigkeit im Gegensatz zu meinem Studium bedeutungslos geworden ist.“ Die anschließende Erörterung dieser starken Aussage hat gezeigt, dass das Studium einen Sinn „aufschließt“, der über eine intellektuelle, aber eben vor allem sinnliche Arbeit zugänglich wird. Das Überraschende dabei ist, dass dieser Aufschluss von Sinn keines institutionellen Rahmens und keiner Hochschule „aus Stein und Beton“ bedarf. Die geradezu – wörtlich verstandene – transzendente Erfahrung stammt aus eigenmächtig geschaffener Umwidmung von Zeit und Raum, über die die Probandin eine neue Stufe des Weltzugangs erreichte. Und dies eben ohne Beteiligung einer physischen Instanz, sondern über digitale Medien. Beobachtungen wie diese lassen uns immer wieder neu darüber nachdenken, inwiefern die digitalen Medien doch eine spirituell-transzendente Rolle einnehmen und sich diese Fragen von den physischen Institutionen lösen. Diese Beobachtung ist insofern nicht selbstverständlich, da die fachwissenschaftliche Befähigung zu beruflichen Kompetenzen im Hauptfokus der Hochschulen steht. Die argumentative Verbindung ist, dass die Ebene der Bedeutung notwendig ist, um eine thematische Aneignung der Inhalte zu bewerkstelligen. Ohne diese sich konturierende Bedeutsamkeit wäre ein Hochschulstudium – gerade im virtuellen Rahmen – kaum gelingend möglich.

Interessanterweise spielen sich diese spirituellen Fragen in einem Rahmen ab, der niemals dafür gedacht war: Nämlich in der vernetzten und hochgradig digitalisierten Lebenswelt junger Menschen. Dieser hybride Rahmen ist das Feld, auf dem sich Fragen stellen, die traditionell weltanschaulich konnotiert waren:Welche Bedeutung hat meine eigene menschliche Entwicklung, ganz unabhängig vom Nutzen meines Einsatzes und der Nutzbarkeit meines Tuns? Welche mentalen und spirituellen Techniken gibt es, die ich für diese Entwicklung einsetzen kann?“ Es sind damit keine großen philosophischen Fragen nach dem Sinn „an sich“, sondern nach dem Sinn „an und für sich“. Je vielschichtiger die Bewältigung der beruflichen und persönlichen Herausforderungen geworden ist, umso mehr lässt sich bei der sogenannten „Generation Y“ auch der Drang zur Reflexion solcher Fragen feststellen – und nicht nur die Bereitschaft dazu, sondern auch die Fähigkeit. Und wen es wundert, dass sich zwei Männer dieses Themas stellen, der sei im Besonderen aufgefordert, seine bisherigen „Erfahrungs-Schubladen“ neu zu sortieren. Impulse und auch – im wahrsten Sinn des Wortes – Irritationen liefert dieses Buch dazu hinreichend.

Ganz neu sind diese Phänomene der autonomen Bildungsprozesse freilich nicht. Auch ohne Beteiligung digitaler Medien gab es Phänomene der Selbstschulung und Selbsttherapie. In ergreifenden Biografien ist nachzulesen, wie Menschen in Krisensituationen eigenmächtig handeln und etwa über literarisches Schreiben oder andere künstlerische Ausdrucksformen die Krise wenden und in ein neues Gleichgewicht kommen. Wir behaupten aber, dass diese autonomen Bildungsprozesse über die digitalen Medien zu einem breiten gesellschaftlichen Potenzial geworden sind, über das Menschen sich eigenmächtig verändern. Und, dass diese epochale Entwicklung bislang kaum angemessen reflektiert worden ist. Diese Neudefinition des Menschseins über digitale Medien in den vielen kleinen Alltagshandlungen ist möglicherweise das, was in Zukunft mit einer neuen Stufe des Humanismus umschrieben werden könnte. Dieser Hypothese wollen wir weiter folgen.

Die Digitalisierung und die intensive Verdichtung der beruflichen wie privaten Kommunikation bewirkt eine tatsächliche Gleichzeitigkeit von Vorgängen. Das damit einhergehende „Multitasking“ ist damit ein Stressfaktor, der stark auf die Konzentration wirkt. Das führt vor allem zu dem Gefühl, etwas zu verpassen oder dieser Gleichzeitigkeit nicht gerecht zu werden. Durch die verschiedenen Zeitrahmen ist es schlicht nicht möglich, angemessen und aus dem jeweiligen Kontext rechtzeitig zu reagieren: Eine moderne, dezentrale Institution hat jederzeit Kommunikationsanlässe, die kaum abgestimmt zu strukturieren sind. Das ist eine Herausforderung, das ist nicht unmöglich; dafür gibt es Beispiele (z.B. agile Arbeitsformen) globaler Unternehmen, die funktionsübergreifend Abstimmung und räumliche Trennung überwinden können und müssen. Nun ist dieser Zusammenhang aber nicht direkt auf die digitalen Medien an sich zu beziehen. Denn im ersten Studienjahr eines virtuellen Studiums schaffen sich die Studierenden Zeiträume, die sie für ihr Studium umwidmen. Diese Umwidmung geschieht über die existenzielle Bedeutung, die dieses Lernen für die Studierenden hat. Nur dann macht es „Sinn“, sich auf eine digitales Lern- und Lebenswelt und deren Herausforderungen einzulassen. Das kommt in diesem Zitat zur Geltung: „Das war (…) geschehen, weil privates, also soziales Leben, Hochschulleben und 40 Stunden Arbeit – das war zu viel. Dann erfüllt man gar keine Erwartungen mehr. Ich nehme mich so weit zurück, dass ich eigentlich (…) gar keine Erwartungen erfüllen außer die Erwartungen, die ich an mich selbst stelle. (…) Einfach dahingehend, diese Freiheit auch bewusst zu genießen (…).“ (Lanig, 2019, Anhangsband 3, S. 132) In dieser Entscheidung wird deutlich, wie das Bildungsprojekt des virtuellen Studiums eine Bedeutsamkeit gewonnen hat und deswegen das Leben neu organisiert.

Gleichzeitig ist es in den meisten Fällen auch nicht notwendig, direkt zu reagieren – oft wäre Kommunikation qualitativer, wenn die Akteure vor ihrer Reaktion eine Zeit der spirituellen Nichtreaktion einplanen würden. Denn Stille nicht als Nichtstun zu empfinden, sondern als aktiven Prozess der Verdichtung und Sammlung, wäre bereits eine konkrete spirituelle Lernaufgabe, die wir sehen. Im Zeitfaktor liegt im Lichte der Frage dieses Buches nach der spirituellen Kompetenz ein zentraler Zusammenhang. Die Gleichzeitigkeit – eben gerade als eine empfundene Unzulänglichkeit, rechtzeitig reagieren zu können – erzeugt eine Zerstreutheit, eine mentale Zerfaserung, die dann als Di-Stress empfunden wird. Daher ist ein Nachdenken über den Umgang mit der Zeit aus unserer Sicht – als erster Schritt – zentral wichtig.

„Unsere“ Studierenden müssen sich nolens volens für die „VUCA“-Generation rüsten, sind sie vielmehr bereits in diese hineingeworfen“ worden. Hier gilt vor allem eine Neo-Tugend, A: agil zu sein. Diese allseits erwartete Fähigkeit beginnt damit, V: zu jeder Zeit eine Vision zu haben, U: Understanding an den Tag zu legen, C: sich durch Clarity auszuzeichnen – und das alles natürlich blitzschnell. Die Digitalisierung hat diese Forderung zusehends und auf atemberaubende Art und Weise beschleunigt, mit entsprechenden Reaktionen auf diese Phänomene. Da ist der Vater, der am Morgen noch am Esstisch saß, seine Kinder in die Schule verabschiedete und ihnen am Abend – jedoch in einer anderen Zeitzone – über Skype einen „virtuellen Gute-Nacht-Kuss“ gibt. Da sind die Kinder, die die Reise ihres Vaters über ihren Schultag bereits vergessen haben und sich nur wundern, wieso er seiner Arbeit von so weit weg aus nachgehen muss. Diese Eindrücke der beschleunigten Informationsverarbeitung hinterlassen Spuren. So hat der Philosoph Byung-Chul Han bereits vor 10 Jahren die „Müdigkeitsgesellschaft“ als Folge der (post-)modernen Leistungsgesellschaft prognostiziert. So wird die Bezeichnung dieser Turbo-Generation heute bereits kritisch umgedeutet, als: Volatile – Uncertain – Complex und – Ambigious (vgl. Erlinghagen/Witzel, 2019).

Was ist vor diesem Hintergrund der Nutzen dieses Buches? Effizienz? Ja, diese vermeintlich widersprüchliche zweckrationale Logik geben wir unumwunden zu, um klare Kante zu zeigen gegen alle Formen von „Wellness-Pädagogik“ und „Business-Mystik“. Allerdings eine Effizienz, die an die Komponenten Sinn und Selbst gebunden ist. Durch eine spirituelle Kompetenz schaffen wir über Sinnfragen einen Fokus, über den wir die Endlichkeit unserer Existenz würdigen. Und damit all jene Dimensionen, die zur Endlichkeit gehören. Wir alle haben nicht unendlich Zeit: In der seelsorglichen Arbeit ist die Zeitwahrnehmung von Sterbenden immer wieder auf neue Weise beeindruckend. Ohne jede theoretische Reflexion wird die eigene Endlichkeit im Bewusstsein des nahenden Todes mit einem glasklaren Fokus gewürdigt. Was zu sagen ist, wird gesagt. Nichts lenkt ab. Nicht der Schmerz, nicht die Trauer der Angehörigen und schon gar keine Unterhaltungssendung von den wirklich dringenden Fragen. Beachtlich ist, dass in diesen Momenten auch soziale Etikette fallen, schlichtweg eine nachgeordnete Bedeutung bekommen. Ebenso verhält es sich mit dem Schamgefühl, es z.B. unangenehm zu empfinden, in „diesem Zustand“ von anderen gesehen zu werden. Vielmehr ist es dann so, dass durch diese – mitunter auch neu aufkommende Klarheit – des Sterbenden den Angehörigen die Organisation der anstehenden Beerdigung erst ermöglicht wird. Dieses Beispiel mag drastisch sein, zumal wir hier dem Gedanken der Effizienz nachgehen, es verdeutlicht aber, um was es uns geht: Einen effizienten Fokus auf das, was bedeutsam ist. Auf das was das Leben reich und intensiv macht. Ein Fokus, der alles ausblendet, was nicht wesentlich ist, was keine oder nur eine geringe Bedeutsamkeit genießt. Beispiele für eine derart effiziente Fokussierung kann die Seelsorge reichlich bieten. Im Übrigen war der „focus“ der alten Römer die Feuerstelle eines Hauses. Hier geht es also darum, was – auf der persönlichen Ebene – innerlich „brennt“ und – auf der sozialen – wozu man zusammenfindet. Seinen eigenen Fokus zu finden, wieder zu entdecken und sich darauf zu konzentrieren, kann folglich auch für beide Dimensionen öffnen.

In der gesellschaftlichen Zeitwahrnehmung ist festzustellen, dass die archaische Gleichzeitigkeit von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang längst abgelöst ist durch eine asynchrone Überlagerung der unterschiedlichen Zeitsysteme und Zeitlogiken. Daher schließt dieses Buch indirekt an die Diskussion zur gesellschaftlichen Zeitwahrnehmung an. Denn die Digitalisierung schafft zum einen zwar eine Zeitersparnis. Aber gleichzeitig auch ein Übermaß an Informationen, die – auf Kosten der Zeit – erarbeitet sein wollen. Damit geht paradoxerweise Zeitknappheit einher. Da mutet es unverständlich an, dass diese entstehende „Zeitersparnis“ durch einen massiven Boom der Unterhaltungsmedien es notwendig macht, sich diese Zeit „zu vertreiben“. Durch die Inhalte von Filmen wie „Matrix“ kann man die Einschätzung gewinnen, in diesem Zeitvertreib liegt selbst eine Suche nach Sinn. Die sinnvoll erfahrene Zeit ist also Dreh- und Angelpunkt dieses Buches.

Die Strukturierung der Zeit selbst ist als eine gesellschaftliche Kraft zu lesen, die auf die Identität des Einzelnen wirkt. So ist der Bezug auf einen gemeinsamen Tagesstart, die Mittagspause und weitere zeitliche Fixpunkte ein Mittel, um Gruppen organisieren. Das „Stundengebet“, das das Klosterleben im Abendland seit nahezu 2000 Jahren praktiziert, ist nur eine kulturell gewachsene konkrete Antwort darauf. Es verbindet Menschen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten, gibt dem Einzelnen – in der klösterlichen Gemeinschaft wie als Eremit – Sicherheit und verbindet zusätzlich mit Transzendenz. In buddhistischen Klöstern zum Beispiel gibt es eine Räucherspirale, die den Tag über abbrennt und über den Tagesverlauf verteilt verschiedene Düfte entwickelt. Mit diesem „Duft der Zeit“ werden unter Mönchen unterschiedliche spirituelle Übungen, aber auch alltägliche Verrichtungen organisiert. Byung-Chul Han konstatiert: „Die heutige Zeitkrise hängt nicht zuletzt mit der Verabsolutierung der vita activa zusammen. Sie führt zu einem Imperativ der Arbeit, der den Menschen zu einem arbeitenden Tier (animal laborans) degradiert. Die Hyperaktivität des Alltags nimmt dem menschlichen Leben jegliche Kraft zum Verweilen und zur Kontemplation. Dadurch wird die Erfahrung erfüllter Zeit unmöglich. Notwendig für die Überwindung der heutigen Zeitkrise sind die Revitalisierung der vita contemplativa und das Wiedererlernen der Kunst des Verweilens.“ (Han, 2014, S. 15) Doch für den Großteil der modernen Bevölkerung scheinen derartige Formen der „vita contemplativa“ nicht (mehr) lebbar. Insofern ist es aus unserer Sicht nur sachlogisch, eine Zeitstruktur zu thematisieren, die immer stärker atomisiert ist und im Extremfall nur noch für eine einzelne Person relevant ist. Der Blick in vergangene Zeiten wie in aktuell auch noch gelegten Ritualen der Zeit kann aufzeigen, dass eine thematische Widmung der jeweiligen Zeiträume ein organisatorisches Instrument ist, den Tag zu ordnen und zu strukturieren. Es liegt auf der Hand, dass eine analoge Gleichzeitigkeit von virtuell verbundenen Personen völlig unmöglich ist. Das Prinzip der zeitlichen Widmung zeigt aber auch, dass es eine zentrale Praktik der Zeitorganisation ist, die eine Einheit von alltäglicher Arbeit und spiritueller Praxis sucht. Aus diesem Grund sind viele Beispiele in diesem Buch ganz eng an einen zeitlichen Tagesablauf gebunden.

Was in der christlichen Tradition zum Beispiel als Harmonie zwischen „vita activa“ und „vita contemplativa“ – einer Lebenszeit der Arbeit und einer der kontemplativen Sammlung – von allen geistlichen Gemeinschaften und Vordenkern gepflegt worden ist, hat in der Moderne und Postmoderne weitestgehend an Plausibilität verloren. Aus unserer Sicht jedoch nicht an Notwendigkeit, ganz im Gegenteil. Die – berufliche wie private – Welt ist schnelllebiger denn je. Virtuelle Räume und Prozesse führen zu zusätzlichen Verdichtungsphänomenen, die diese Dynamiken nochmals verstärken. Die mit den virtuellen Lern- und Arbeitsräumen einhergehende Entgrenzung der Zeit macht es zusätzlich schwer, die traditionell als Kon-Templation bezeichnete Grenzziehung zu praktizieren. In der Kunstpädagogik verläuft diese Grenze zwischen einem hoch individuellen, intimen Können und dem (noch nicht) Können. Im Konzept dieses Lernens ist das sich Zurückziehen hinter diese Grenze ein klassisches Konzept. In anderen Lernbereichen scheint es im Zuge der Bemühungen nach Optimierung verloren gegangen zu sein. Insofern besteht in den vorfindbaren Wegen und Tools der Entschleunigung eine Basis, die es gilt, auf heutige Realitäten und Ansprüche hin zu prüfen, auf die virtuelle Dimension hin zu adaptieren und auch ganz neu zu entwickeln. Darin besteht der praktische Anspruch unseres Buches.

Transzendenzerfahrungen verstehen wir dabei nicht als (rein) religiöse Phänomene. Wir alle kennen Erfahrungen des Glücks, tief im Inneren spürbarer Sinnhaftigkeit, wenn wir ganz und gar ergriffen sind, wenn alles stimmig ist. Immer dann erfahren – oder zumindest erahnen – wir Transzendenz: wir übersteigen (lat.: trans-cendere) Raum und Zeit, wir spüren gewissermaßen „mehr als alles“. Wir sehen die heutige gesamtgesellschaftliche Herausforderung darin, dass dieses „Mehr“ in aller Regel als quantitatives Mehr gesehen, angepriesen, vermarktet wird. Doch führt dieser Weg – darin dürften sich die meisten ökonomischen Wachstumsgurus im Jahr 2020 mittlerweile einig sein – nicht weiter. Er führt auch nicht ins Glück, schon gar nicht in die Transzendenz. Rausch und Sucht sind – an dieser Stelle nebenbei vermerkt – übrigens ebenso Indikatoren für die Suche nach Erfahrungen des Überstiegs. Gefahren, die in einer digitalisierten Gesellschaft nicht geringer geworden sind.

Den Zusammenhang zwischen Phasen der An- und Entspannung haben viele – namhafte – Unternehmen durch Gesundheitstage, mentale Trainingsseminare, Meditationsräume und ähnliche Angebote und Präventionsmaßnahmen schon seit geraumer Zeit erkannt. In Führungskursen wird dies als salutogenetische Führung angeboten und die verbindenden Linien zwischen Leadership und dem, was hier Spiritualität genannt wird, scheinen in Führungsetagen mehr und mehr wahrgenommen zu werden. Denn längst genügt in „Zeiten wie diesen“ Selbstmanagement mit dem Fokus auf Zeit und Organisation nicht mehr. Das dahinter liegende Bedürfnis, seine wenige Zeit effizient zu organisieren, bedeutet nämlich noch nicht, dies auf der Ebene von Zeit, Raum und – äußerer – Struktur bewältigt zu bekommen. Sondern die Digitalisierung 4.0 benötigt ein spirituelles Selbstmanagement 4.0, das die Stabilität des eigenen Selbst und des eigenen „inneren Teams“ (Schulz-von Thun) nachhaltig garantiert. Denn ohne Selbstbezug keine Vision, ohne Sinn keine Leistung, ohne Selbstgespür keine Identität, ohne Selbstbestimmung keine Freiheit, und ohne innere Freiheit kein autonomes Handeln. Das Selbst zu spüren und im Kontakt mit dem eigenen Selbst zu bleiben, funktioniert jedoch (noch) nicht digital. Diese Beobachtung erklärt, warum Phänomene der Entfremdung im digitalen Zeitalter so selbstverständlich wie speziell sind. Eine digital beförderte Agilität kann Bedürfnisse überspielen, die tief im Menschen verwurzelt sind. Insofern ist ein erster Schritt die Bewusstmachung.

state- bewertet eine (Lern-)Situation als bedrohlich und evoziert umgehend die Erregung des vegetativen Nervensystems, mit den bekannten psychischen und physischen Reaktionen. Der wesentliche Faktor dabei besteht in „the fear for failure“, denn diese stellt eine Gefahr für das fach- und aufgabenbezogene Selbstkonzept und damit letztlich den Selbstwert dar. Hierin besteht die zeitstabile Seite der Emotion Angst (vgl. Heckhausen/Heckhausen, 2010). Während nun das primäre Appraisal die Situation hinsichtlich der persönlichen Bedeutung für das Subjekt bewertet, fragt – im Fall, dass es sich rein um eine „state“-Angst und nicht um eine „traite“-Situation (die den Konnex mit Persönlichkeitsmerkmalen herstellen würde) handelt – das sekundäre Appraisal, ob vorhanden sind und der Rückgriff auf möglich ist. Das Gespür für diese Innenwelt ist ein wesentlicher Aspekt spiritueller Kompetenz.