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© 2018 Jürgen Meyer

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783748115069

Inhaltsverzeichnis

Alles über Ede

Ein kleiner Mann erzählt sein langes Leben im Ruhrgebiet. Ungewöhnliche Geschichten sind das. Was ist echt, was ist erfunden? Im Zeitalter von „Fake News“ darf auch der kleine Fummler Ede Maslowski etwas „Großartiges“ von sich erzählen...

Der Herr Maslowski

Die erste Begegnung mit ihm war so kraus wie der ganze Kerl. Ohne anzuklopfen wurde von außen vorsichtig die Tür geöffnet. Ein Mann mit Halbglatze und schütterem Haarkranz und nur geringfügig größer als die Höhe der Türklinke steckte den Kopf durch den Spalt. "Ich geh dann mal“, sagte er, schloss die Tür sofort wieder ganz vorsichtig und ohne Knall.

"Was war das denn für eine Nummer?" fragte ich meine Tante Carola, bei der ich in ihrem Zimmer im Altenheim St. Josef zu Besuch war. Die lachte über meine Verblüffung: "Das war Ede." Und dann: "Die Nummer, wie du es nennst, wiederholt er jeden Tag."

Alles über Ede - da waren ein paar Fragen offen. Vorrangig die: "Ist das dein kleiner Verehrer?"

Tante Carola war zwar schon etwas über 80, aber doch noch sehr gut in Schuss. Zu groß für Ede, schlank und ein bisschen schroh mit ihrem leicht hakennasigen Gesicht. Früher war sie mal, das kann man so salopp ohne weiteres sagen, früher war sie tatsächlich ein Schuss. Dass die wenigen Männer unter der Vielzahl der weiblichen Alten im Josef ihr mit einer wohl länger verschütteten Galanterie begegneten, eigentlich kein Wunder. Sie genoss es.

Hatte auch Ede ein Auge auf sie geworfen? Carola zuckte mit den Schultern. "Er hat das noch nie zu erkennen gegeben. Er kommt, sagt unvermittelt und ohne zu grüßen: Ich geh' dann mal. Das ist es schon." Dass er ein Auge auf sie geworfen hatte konnte man danach nicht unbedingt sagen. Denn wenn sie sich auf den Gängen des Heims begegneten oder auch schon mal im Speisesaal, dann senkte Ede sofort die Augen, blickte verschämt und wie ertappt weg wie ein Pennäler, der sich nicht traut, seiner ersten Angebeteten seine aufflammende Liebe zu gestehen.

Carola hatte sich bei der Heimleitung über Ede erkundigt. Nicht, weil sie sich von ihm belästigt fühlte. Eher das Gegenteil war der Grund für ihr Interesse. Im täglichen Einerlei des Altersheim-Lebens war es für Carola mittlerweile wie eine Unterbrechung der quälenden Langeweile, wenn Ede seinen Blitzbesuch machte. Carola war sogar schon öfter richtig unruhig geworden, wenn er sich bei seinen zeitlich unregelmäßigen Auftritten zu sehr verspätet hatte.

Die Heimleitung hatte sie beruhigt: "Der ist leicht dement, aber harmlos. Der tut nichts." Er tat zumindest nichts, um den Kontakt zu Carola über seine Blitzbesuche hinaus zu vertiefen.

Kontakte zu anderen im Heim pflegte er auch nicht. Nur mit Willi Bongarts saß er recht regelmäßig auf dem Bänkchen neben der Kirche, die Namengeber des Heims war. Carola über Ede: "Ich habe gehört, dass er dem Herrn Bongarts dann zumeist etwas über seine Karriere als Fußballer von Schalke erzählt. Aber der Herr Bongarts ist ja immer total weggetreten. Ich glaube nicht, dass der überhaupt etwas von dem mitkriegt, was der Ede ihm so alles von sich erzählt."

Alles über Ede und seine Karriere als Fußballer, da wollte ich mehr wissen. Carola konnte nicht weiterhelfen. Von Fußball verstand sie nichts, er interessierte sie auch nicht. Und wie gesagt war ihr verbaler Kontakt zu Ede über den einen von ihm tagtäglich wiederholten Satz ja nicht hinausgekommen.

Als Ede bei meinem nächsten Besuch bei Carola am späteren Nachmittag wieder den Kopf durch die Tür steckte, "ich geh' dann mal" sagte und blitzgeschwind verschwinden wollte, sauste ich hinter ihm her. "Entschuldigung, Herr Ede, darf ich Sie mal sprechen?" Der kleine Mann stutzte, ging leicht in Abwehrstellung. "Ich heiße nicht Herr Ede. Ich bin der Herr Maslowski."

Ich legte nach: "Man sagt, sie hätten mal für Schalke gespielt. Stimmt das?"

Geradezu beleidigt antwortete er: "Der Edmund Maslowski hat nicht nur bei Schalke gespielt. Der Edmund Maslowski war ein Star auf Schalke. Schließlich hat er sogar mal dem großen Toni Turek einen Elfer reingehauen."

Wann, wie, wo? Die Frage blieb vorerst unbeantwortet. "Ich muss zum Abendessen. Das mit dem Elfer und dem Turek dauert länger. Sie können ja morgen wiederkommen, wenn sie alles über den Edmund Maslowski erfahren wollen. Ich geh' dann mal."

Der Elfer

Das erste Gespräch mit Herrn Maslowski fand auf dem Bänkchen neben der Kirche statt. Willi Bongarts war auch dabei. Wie immer saß er da, wie festgetackert für Stunden und leicht weggetreten lächelnd. "Der Willi stört nicht“, sagte Ede. "Der Willi kennt meine ganze Lebensgeschichte. Der Willi kann nämlich prima zuhören."

Ob Willi auch glaubte, was Ede erzählte? Der sagte ja nichts. Sein Dauerlächeln blieb unverändert, auch wenn er schon mal von Zeit zu Zeit die Stirn runzelte.

Ich gestand Ede, dass ich Journalist sei. Dass ich aber nichts von dem, was er mir jetzt zu erzählen bereit war, journalistisch verwenden würde. Ede war da nicht beunruhigt. "Das können sie ruhig alles schreiben. Ich für meine Person habe nichts zu verbergen. Auch vor den Medien nicht. Und der Edmund Maslowski auch nicht."

"Ich für meine Person" als fortan häufig benutzter Satz auf der einen Seite, der "Edmund Maslowski" auf der anderen, da lag ja wohl eine Art Persönlichkeitsspaltung vor. Was war wahr? Was wahrscheinlich oder eher unwahrscheinlich? Schon Edes Antwort auf meine erste Frage nach seinem Alter verunsicherte mich. "Wie alt ich bin? Weiß ich doch nicht. Da müssen sie im Heim nachfragen. Wissen sie, ich vergess ja schon mal was."

Das Kurzzeit-Gedächtnis! Die Jahre, die im tagtäglichen Einerlei verstrichen, die zählte er nicht mehr. "Mein Alter? Tag für Tag wird man älter. Wie soll ich das da denn noch nachhalten können?“

Die Gegenwart erlebte er wie im Dämmerzustand. Die Vergangenheit in der Langzeit-Erinnerung, die konnte er abrufen wie katalogisiert. Wie die Geschichte mit dem Elfer, den er im Tor von Toni Turek versenkt hatte. Kein Anflug von Demenz. Ede beschrieb alles haarklein, ohne lange zu überlegen.

"Wir hatten ein Heimspiel in der Glückauf-Kampfbahn gegen Fortuna Düsseldorf. Es war eine ganz heiße Kiste. Bis zur 79. Minute. Da gab es den Elfer für uns. Wer schießt? Wie immer ja eigentlich der Paul Matzkowski. Aber der hatte einen Schlag abbekommen, humpelte schon etliche Minuten als Statist auf Linksaußen herum. Eigentlich hätte der Paul ja rausgemusst. Aber Auswechselungen gab es damals ja noch nicht. Matzkowski überlegte nicht lange: Ede, du schießt!

Anton Turek. Da stand er in seiner Kiste wie ein Fels. Noch war er nicht Toni, der Fußballgott vom WM-Endspiel 1954. Noch hatte er kein Länderspiel bestritten. Vielleicht wissen Sie es ja nicht: Erst 1950 gab es für Deutschland das erste Länderspiel nach dem Krieg gegen die Schweiz. Mit Turek im Tor.

Jetzt das Duell eins gegen eins. Vor mir der Toni, so sauber und adrett mit seinem Linksscheitel und der hochgequetschten Haartolle rechts. Sollte ich ihm mit Kawumm einen zweiten Scheitel ziehen? Kawumm - das war mehr so die Schuss-Technik von Matzkowski. Ich für meine Person war ja eher der Schnippler.

Ich legte mir die Kirsche zurecht. Der Boden um den Elfmeterpunkt war aufgewühlt. Ich trat die Huckel platt, streichelte den Ball, der schwer war wie ein Stein und auch viel zu schwer für einen kleinen Kerl wie mich, um ihn mit Kawumm reinzuhauen. Drum guckte ich den Turek aus.

Der lächelte spöttisch, ja fast hochnäsig über mich Schmachtlappen mit den Säbelbeinen. Na warte, dachte ich, dir wird das Lachen gleich vergehen! Ich lief an, stoppte leicht mit einem Zwischenschritt. Die Täuschung gelang. Turek tauchte in seine rechte Ecke. Ich tippte den Ball nur an, kullerte ihn in die andere, total leere Seite des Tores. In Zeitlupe rollte der Ball wie eine schwere Kegelkugel langsam, ganz langsam über die Torlinie.