Kliewe, Karen Letzte Spur Ostsee

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Redaktion: Sandra Lode

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Widmung

 

Dieses Buch ist Lilian und Ebby gewidmet.

Karen

Prolog

Rerik, zwölf Jahre zuvor

Minutenlang hatte er verharrt – regungslos. Er wartete auf ein verräterisches Rascheln, auf irgendein Zeichen, das verriet, dass sich sein Opfer in greifbarer Nähe befand. Seine feine Nase sagte ihm, dass es nun nicht mehr lange dauern würde. Sie war es auch, die ihm den Störenfried ankündigte. Ruckartig hob der Steinmarder den Kopf und nahm die Witterung auf. Als die nächste Windböe durch die dicht stehenden, krummen Bäume fuhr, trieb sie nicht nur das gewaltige Rauschen der Blätter vor sich her, sondern auch den penetranten Geruch menschlicher Angst. Blitzschnell machte der Marder kehrt und verschwand im Unterholz, lange bevor der Grund des Gestanks die Stelle erreicht hatte.

Das Donnern und Tosen der Brandung drang grollend die Steilklippen herauf. Als der Wind unvermittelt nachließ und sich die Wellen leise zischend zurückzogen, wehten aus der Ferne Musikfetzen herüber.

Nichts vom alldem drang zu ihr durch. Ihr Körper befand sich im Ausnahmezustand, ihr Instinkt kannte nur ein Ziel: Flucht. Große Mengen an Adrenalin schossen durch ihre Blutbahn, unterbanden jeden rationalen Gedanken. Ihr Herz raste, der Atem ging schnell und stoßweise. Ihre Hände zitterten. Die Schwäche in ihren Beinen ließ sie taumelnd vorwärts stolpern.

Nur das nicht.

Verzweifelt versuchte sie, die alles lähmende Panik zu unterdrücken. Ihre weit aufgerissenen Augen tasteten sich durch das kaum wahrnehmbare Dickicht aus Bäumen und Büschen, deren peitschende Zweige wie bedrohliche Baumgeister mit dünnen, spitzen Gliedmaßen nach ihr griffen.

Wenn es nur nicht so verdammt dunkel gewesen wäre.

Der schmale, unwegsame Pfad entlang der Steilküste war kaum zu erkennen. Sie wusste, dass nur ein Fehltritt ihr Ende bedeuten konnte.

Trotzdem musste sie weiter.

Ein Knacken hinter ihr ließ sie zusammenzucken.

Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, sie würde seinen Atem im Nacken spüren.

Jetzt nur nicht durchdrehen.

Warum war sie überhaupt hier? Jävla skit! Beschissenes Deutschland! Was in aller Welt hatte sie geritten, Ric hierher zu folgen? Sie wollte nur eins: zurück – zurück nach Schweden!

Sie versuchte, schneller zu rennen. Der dünne Ast einer verkrüppelten, kleinen Birke traf sie hart ins Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, einen Pfad auszumachen, der sie rausführen würde, raus aus diesem verflixten Wald. Hin zu den Siedlungen. Zu Leuten, die ihr helfen würden. Eigentlich müsste sie längst einen der Wege, die die Touristen aus den Feriensiedlungen zum Strand nahmen, passiert haben. Was, wenn sie schon daran vorbeigelaufen war? Die Schwärze der Nacht hatte sich wie ein schwerer, alles erdrückender Mantel über den Wald gelegt – ließ ihre Hoffnung, entkommen zu können, auf ein Minimum schrumpfen.

Sie spürte, wie sie erneut von einer Welle aus Angst und Verzweiflung erfasst wurde.

Da hörte sie seine Stimme.

»Meja, bleib stehen! Das hat doch alles keinen Zweck!«

Herregud! Das war näher, als sie gedacht hatte.

Abrupt stoppte sie, verharrte einen Moment apathisch. Das Blut rauschte dröhnend durch ihren Kopf, so laut, dass sie sich wunderte, wie seine Stimme bis zu ihr hatte durchdringen können. Sie zwang sich, die Panik beiseite zu schieben.

Was, wenn sie sich in das nächste, dichte Gebüsch hocken und verstecken würde? Er würde an ihr vorbeilaufen, und sie könnte leise und vorsichtig zurück ins Dorf.

Nein! Sie würde ihre hektischen Atemzüge nicht lang genug unterdrücken können. Und ihren laut donnernden Herzschlag würde man bis nach Schweden hören. Er würde sie entdecken.

Sie befahl ihren Beinen weiterzulaufen.

Gleichzeitig lauschte sie angestrengt.

Der Wurzel, die sie plötzlich zu Fall brachte, war sie in den Wochen zuvor mit Sicherheit mehrfach ausgewichen. Sie hätte schwören können, dass sie diesen Teil des Weges längst hinter sich gelassen hatte. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr linkes Knie. Keine Zeit auszuruhen. Sofort rappelte sie sich wieder auf und lief humpelnd weiter.

Nach weiteren, ihr endlos vorkommenden Minuten auf der Flucht blieb sie zitternd stehen und horchte in die dunkle Nacht.

Und wenn er doch aufgegeben hat?

Kapitel 1

Rerik, Anfang August

Vom Busbahnhof Rerik waren es nur noch ein paar Hundert Meter bis zu der Siedlung, in der das Haus von Rose stand. Ann nahm ihren Reisekoffer vom Fahrer entgegen, zog den Griff heraus und machte sich auf den Weg.

Sie lächelte.

Heute war ein guter Tag. Die Semesterferien lagen vor ihr, weißer Ostseesand, der unverwechselbare Geruch des Meeres und der von ihr geliebte Wind erwarteten sie. Endlich! Das alles hatte sie so vermisst. Seit sie wegen ihres Studiums nach Paderborn gezogen war, begleitete sie eine ständig gärende Unruhe. Als sei sie nur auf der Durchreise. Als müsse sie bald weiterziehen. Erst wenn die Landschaft weit wurde, die charakteristischen Wälder in Sicht kamen und sie das baltische Meer schon zu schmecken meinte, ließ diese Unruhe von ihr ab.

Sie atmete tief ein. Jetzt hieß es: auftanken. Keine Vorlesungen, keine Recherchen, keine Facharbeiten, kein nächtelanges Büffeln, kein Nebenjob – ihr Leben als angehende Journalistin konnte warten.

Am liebsten wäre sie direkt runter ans Wasser gelaufen. Doch ihr Magen hatte das Ziel schon festgelegt, er verlangte nach Roses herrlichem Butterzopf mit Hagelzucker. Keiner konnte Hefezopf so backen wie ihre Oma.

Ihr Opa war schon vor vielen Jahren verstorben. Sein Todestag war der Grund, warum auch ihre Eltern in Rerik sein würden. Sie liebte die Besuche bei Oma Rose, auch wenn sie sich im Kreis ihrer Familie manchmal wie eine Gefangene vorkam – eingesperrt in der Einöde eines ritualbehafteten Kleinbürger-Daseins. Jeder Guppy im heimischen Wohnzimmeraquarium hatte ein aufregenderes Leben.

Ann genoss den Fußmarsch durch die Leuchtturm-, über die Schillerstraße bis in die Ostseeallee.

Ihr Blick folgte einer fünfköpfigen Familie, deren gut gefüllte Strandtaschen erahnen ließen, wohin sie unterwegs waren. Während der Sommermonate, besonders in der Ferienzeit, war der Ort gut besucht. Gerade Surfer und Besitzer von Segelbooten schätzten die gute Lage zwischen Salzhaff und Ostsee. Die Nähe zu Rostock und Wismar versprach Abwechslung, besonders an regnerischen Tagen.

Ideal für Spießbürger wie euch.

Ann seufzte genervt. Was würde sie dafür geben, wenn endlich Ruhe wäre in ihrem Kopf. Längst hatte sie aufgehört, sich zu fragen, warum sie diese Stimme hörte oder wann das eigentlich angefangen hatte. Sie wollte nur noch, dass ihr Kopf wieder ihr gehörte, dass ihr Tun nicht ständig von jemandem kommentiert wurde, der von keinem anderen wahrgenommen werden konnte. An manchen Tagen fraß es sie regelrecht auf, zermürbte sie, als würde sie jemand von innen aushöhlen. Erzählt hatte sie bisher niemandem davon. Warum auch?

Als sie in die Gasse ›Zur Liebesschlucht‹ einbog und Oma Roses Haus in Sicht kam, verdrängte sie die Gedanken daran.

Sie öffnete das kleine Metalltor und ging durch den liebevoll angelegten Vorgarten. Es gab Apfel-, Birn- und Pflaumenbäume. Die Farben der Blüten leuchteten im Sonnenlicht. Es war fast schon zu idyllisch.

Ekelig perfekt.

Noch bevor sie klingeln konnte, ging die alte, schwere Holztür auf, und Oma Rose begrüßte sie mit einem gespielt ärgerlichen: »Da bist du ja endlich! Dass du aber auch immer so trödeln musst!« Dann zog sie ihre Enkelin an sich und drückte sie liebevoll.

Ann seufzte erleichtert. Jedes Mal, wenn sie Rose länger nicht gesehen hatte, hatte sie Angst, dass das Alter ihrer Großmutter zwischenzeitlich die Lebenssäfte entzogen haben könnte und sie wie ein Stück Dörrobst den letzten Tagen ihrer Vertrocknung, ihrer Auflösung entgegenging.

Ann ließ ihren Koffer im Flur stehen und folgte Rose in das kleine Stübchen.

»Deine Eltern sind noch auf einer Strandwanderung, müssten aber jeden Moment zurück sein. Nun setz dich, ich habe Tee und frischen Hefezopf. Warm schmeckt der am besten. Außerdem möchte ich augenblicklich alles Neue wissen«, sagte Rose schmunzelnd.

Nachdem ihre Eltern Susanne und Jürgen zurück waren, und viele Scheiben Hefezopf später, kramte Rose eine Erinnerungskiste heraus. Ann rückte neugierig näher. Sie liebte alte Geschichten. Es war erstaunlich, wie viel Spannendes und Unerhörtes in Kellern und auf Dachböden lauerte. Auch wenn die wirklich interessanten Dinge wohl eher auf den Speichern anderer Leute zu finden waren.

Wer weiß, vielleicht überrascht uns die liebe Familie ja mit einer lang verborgenen, schrecklichen Tragödie?

Viele der Geschichtchen kannte sie in- und auswendig. Bei jeder Familienfeier wurden sie zum Besten gegeben. Interessant aber war das, was nicht erzählt wurde. Das Verhalten der Verwandten und Freunde in Ausnahmesituationen, die wahre politische und gesellschaftliche Haltung – gut versteckt hinter der penibel gepflegten Alltagsfassade. Nur selten erhaschte man einen Blick hinter die Kulissen.

Eine staubige alte Kiste, die zum Gedenken an ihren verstorbenen Großvater inspiziert wurde, war ein vielversprechender Anfang. Kam dort vielleicht etwas zum Vorschein? Etwas Echtes? Etwas, das über das hinausging, was Ann heimlich ihre persönliche ›Truman Show‹ nannte?

Sie hatte, wenn sie auf ihr Leben und das ihrer Eltern zurückblickte, häufig das Gefühl, als fehle etwas – als wären die Jahre seit ihrer Geburt nicht real. Alles eine große inszenierte Show.

Wie meinst du das, dir fehlt was? Du hast doch mich.

Ihre Eltern achteten sich, gefühlt schon immer. Ebenso verhielt es sich bei ihren Großeltern. Es gab keine Intrigen, keine Fehden, keine sozialen Abgründe. Es war immer genug Geld da. Nicht übermäßig viel, aber ausreichend.

Totale Spießer!

Ihr Vater kam jeden Tag pünktlich um halb vier aus dem Büro, trank seinen Kaffee und aß genau ein Stück Kuchen, das zuvor von seiner Frau gebacken worden war.

Jeder Tag war wie der andere. Nie passierte etwas Unvorhergesehenes. Es folgte alles einem engmaschigen Ritual. Und genau das war es, was es so unecht wirken ließ. Es gab keine Leidenschaft für, aber auch keine gegen etwas. Es wurde nicht demonstriert, man bezog keine Stellung, man war nicht politisch, man war nicht gesellschaftskritisch … man war einfach nur.

Parasiten derer, die sich für eine intakte Gesellschaft einsetzen.

Selbst als ihr Vater an Krebs erkrankte, wurde damit distanziert und vernünftig umgegangen. Als gäbe es ein Drehbuch, nach dem man sich zu richten hatte. Dabei war noch lange nicht klar, ob er ihn für immer besiegt hatte.

Was beschwerst du dich? Du bist nicht besser!

Ann fühlte sich wie in einer künstlichen Blase gefangen, immer darauf wartend, dass diese endlich platzte.

Rose öffnete die Kiste.

Ann beugte sich vor.

Ihr Inhalt: mager, ja enttäuschend.

Unter den Erinnerungsstücken waren viele Fotos und Urkunden von Opa Johann. Schwarz-Weiß-Bilder mit Oma Rose im Arm in ihrem Garten, Farbfotos mit Ann auf dem Spielplatz gleich um die Ecke und eine Auszeichnung seiner Kegelbrüder über einen besonders gelungenen Wurf.

Enttäuscht pustete Ann sich die Spitzen ihrer Ponyfransen aus den Augen und zog die Doppelseite einer zwölf Jahre alten Ausgabe der Ostsee-Zeitung aus der Schachtel. Das Datum zeigte den 14.08. Auf der ersten Seite war zu lesen: »10. Langstreckenschwimmen ›Wismarbucht‹ in Hohen Wieschendorf« und »2. Kanumehrkampf in Wismar«. Warum hatte die alte Dame so etwas aufgehoben?

Rose hatte den fragenden Blick ihrer Enkelin bemerkt. »Du musst sie umdrehen.«

Auf der Rückseite befanden sich die Todesanzeigen. Darunter auch die für Opa Johann.

›Die Bande der Liebe

werden mit dem Tod nicht durchschnitten.‹

Thomas Mann

 

Ann schaute sich die alte Ausgabe weiter an. Neben dem Sport- und Anzeigenteil gab es nicht mehr viel zu entdecken, nur einen Artikel über den Umweltschutz an der Wismarer Bucht und einen Bericht namens ›Urlaubsflirts und die Sommerliebe‹.

Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und fing an zu lesen. Neben dem Text war der Teil eines Liebesbriefs abgedruckt, in dem, der Handschrift und den rot ausgemalten Herzchen zufolge, ein Mädchen ihren Kummer darüber ausdrückte, dass es nie wieder so schön sein werde wie in jenem Sommer. Und dass sie ihren Traumtypen nie vergessen werde und sich gar nicht vorstellen könne, wie es nach den Sommerferien weitergehen solle.

Ann dachte an ihre Urlaubsbekanntschaften. Wenn es denn welche gab, hatte das Ganze stets in einem fürchterlichen Fiasko geendet.

Ihr Blick fiel auf ein Foto am Ende des Berichts. Es zeigte den Aushängekasten der Seebrücke, in dem im Allgemeinen die aktuellen Events der Umgebung angeschlagen wurden. Im Vordergrund waren noch ein wenig Dünengras und der hölzerne Aufgang zu sehen.

Der Kasten zeigte neben einem Plakat für die nächste Strandparty ein Foto: Ein junges Mädchen mit schulterlangem Haar im Teenageralter schmiegte sich an einen gut aussehenden Jungen. Beide grinsten frech und zeigten das Peace- oder Victory-Zeichen in die Kamera. Aufgeklebt war das Foto auf einem weißen Zettel, auf dem die Zeilen ›Tut mir leid. Hau nicht einfach ab! Komm zu O. Tom und lass reden. Ric‹ geschrieben standen.

Ann schaute sich das Foto genauer an, stutzte und schüttelte dann erstaunt den Kopf. »Das gibt’s doch nicht«, murmelte sie. »Das kann nicht sein. Dieses Mädchen sieht genauso aus wie ich …«

*

Färjestaden, Schweden

Åke Persson schaute seiner Frau zu, wie sie versonnen am Fenster ihres kleinen Hauses stand, sich mit der linken Hand immer wieder durch ihr dickes, mittlerweile grau-blondes Haar strich und auf die Bäume und das Meer blickte. Sie war mal eine wirklich schöne Frau gewesen. Nein, eigentlich war sie das mit ihren vierundfünfzig Jahren immer noch. Nur anders. Der Glanz fehlte. Die Augen wirkten teilnahmslos, ihre Körperhaltung verriet, wie gebrochen sie war. Ihre Bewegungen waren langsam und kraftlos. Lächelte sie doch einmal, kam es nicht bei ihren Augen an, sondern wirkte wie eine gequälte Grimasse. Wenn sie sprach, war das sehr leise und ohne jegliche Betonung. Doch das tat sie nur noch selten.

Meistens schwieg sie.

Åke wusste mittlerweile nicht mehr, was auf Dauer schlimmer war: die Zeit, in der sie zwischen heftigen Weinkrämpfen und Schreiattacken hin und her geschwankt war, oder das Dasein in dieser leblosen Hülle, in der seine Ingegerd nun seit Jahren gefangen zu sein schien.

Er liebte sie immer noch. Er wusste nur nicht, wie lange er noch durchhalten würde. Aber was war schon die Alternative? Weglaufen konnte auch er nicht vor der inneren Leere. Es gab kein Zurück. Nichts, was sie tun konnten. Nichts, was es besser machte.

Vielleicht war ein Schlussstrich doch die einzige Lösung, wenn von der Seele nichts mehr übrig war? Nur noch der Körper am Leben gehalten wurde? Von allein würde sich nichts ändern. Der Organismus des Homo Sapiens hielt den widrigsten Bedingungen stand. Da spielte es keine Rolle, ob die Seele den Körper längst verlassen hatte. Das Herz pumpte unermüdlich, Leber und Niere verrichteten zuverlässig ihren Dienst. Wofür eigentlich?

Åke drehte sich um, nahm die dünne Windjacke vom Haken und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Von ihrem Haus in der Eriksfältsgatan waren es durch den kleinen Wald nur ein paar Schritte bis zum Strand von Öland. Er gierte nach dem Wind, der die quälenden Gedanken aus seinem Kopf fegen sollte.

*

Rerik

»Ich beneide dich wirklich.« Marie versuchte, ihrer Stimme einen leicht verzweifelten Touch zu verleihen.

»Ich weiß, ich hab’s gut«, lachte Ann in ihr Handy. »Das nächste Mal kommst du mit und lässt dich hier in einem der schönen Strandcafés bedienen, statt den Ostwestfalen die dicken Torten vor die Nase zu stellen.«

Ann genoss jeden Tag. Ihre Eltern waren bereits abgereist. Sie aber hatte nicht vor, so schnell wieder zu fahren, wollte die Semesterferien voll auskosten. Sicher, sie hatte sich mit dem Journalistik-Studium einen Traum erfüllt und konnte es kaum erwarten, endlich den Abschluss in der Tasche zu haben und sich auf die großen und kleinen Geschichten dieser Welt und ihrer Bewohner zu stürzen. Trotzdem – ihre absolute Lieblingsregion waren die Küsten der Ostsee. Hier konnte jede Zelle ihres Körpers atmen.

»Und, wie geht es Rose? Hat sie den Jahrestag gut verkraftet?«, hörte sie ihre Mitbewohnerin fragen.

»Du kennst sie ja. Sie verbindet solche Zusammenkünfte immer mit amüsanten Geschichten aus der Vergangenheit. Es gab den obligatorischen Gedenkgottesdienst, danach sind wir essen gegangen.«

Sie dachte an den Abend, an die Kiste – an das Foto.

Hatte sie sich das nur eingebildet? Warum hatte keiner der anderen die Ähnlichkeit bemerkt?

»Mir ist da was echt Verrücktes passiert.«

Ann versuchte, sich an Details des Bildes zu erinnern.

Sie veränderte ihre Sitzposition in einen bequemen Schneidersitz und berichtete von der Entdeckung ihrer Doppelgängerin.

»Wie spannend! Kannst du mir ein Foto schicken? Sicher bist du im Krankenhaus vertauscht worden! Und in Wirklichkeit bist du ein Zwilling, und deine Eltern sind Multimillionäre! Oder …«

Ann verdrehte lachend die Augen. Typisch Marie. Sie konnte sie regelrecht vor sich sehen, mit ihren feuerroten, verfilzten Haaren, die vor Aufregung wippten. Ihre zierliche Gestalt mit den zu groß geratenen, blassblauen Augen und vollen Lippen – viel zu dominant für das puppenartige, runde Gesicht.

»Marie!«, unterbrach Ann. »Hast du zu viele Daily Soaps geschaut? Zufällig macht mein Zwilling Urlaub in dem Dorf, in dem sich meine Großeltern niedergelassen haben? Und die oft erwähnte Ähnlichkeit zwischen mir und meiner Mutter ist dann wohl auch Zufall?«

»Ich hab’s! Deine Mutter hat sich mit einer mächtigen Familie angelegt«, schwärmte Marie weiter. »Sie verliebte sich unsterblich in einen reichen, unheimlich gut aussehenden Unternehmersohn. Aus der kurzen, aber wilden Beziehung sind du und deine Zwillingsschwester entstanden. Der mächtige Familienclan missbilligte die Verbindung und wollte, dass deine Mama sich von euch trennte. Sie schaffte es jedoch, dass eines der Babys, nämlich du, meine liebe Ann, bei ihr bleiben durfte!«

Mehr konnte Ann nicht verstehen, da ihr vor lauter Lachen das Handy heruntergefallen war. Sie sah Maries Kopf vor sich, das feuerrote, verfilzte Lockennest, wie es durch die kleine Kammer tanzte. Während der Mund unaufhörlich Worte ausspuckte, hüpften die roten Haarsträhnen wie kleine lodernde Flammen lustig auf und ab. Mit einer Hand wischte Ann sich die Tränen aus dem Gesicht, mit der anderen fischte sie ihr Mobiltelefon zwischen den Kissen hervor.

»Du bist wirklich nicht mehr zu retten«, schnaufte sie. »Meine Mutter als Ehebrecherin? Delikate Geheimnisse in meiner Familie? Vorher geht die Welt unter!«

Das wär doch mal was.

Das nach wie vor tänzelnde, mit kleinen Flammen umgebene Abbild Maries rollte mit den Augen und vollführte eine Drehung um sich selbst.

»Ach, Annilein! Du hast ja keine Ahnung. Das kommt in den besten Familien vor. Du glaubst gar nicht, was man in einem Café so alles mitkriegt. Ich für meinen Teil glaube ja, dass ich von jemand ganz anderem abstamme. So wie meine Eltern drauf sind, kann es gar keine genetische Übereinstimmung zwischen uns geben!«

»Johanna?«

Roses Stimme bahnte sich den Weg hinauf in das kleine Zimmer im Obergeschoss.

Ann schüttelte die fantastischen Gedankengänge ab, sah, wie sich der imaginäre Kopf ihrer Mitbewohnerin auflöste, seine Partikel in der Umgebungsluft verteilte und langsam verschwand. »Du, Marie, ich muss Schluss machen. Oma ruft zum Abendessen!«

»Und vergiss nicht, mir das Foto zu schicken«, mahnte Marie, bevor das Gespräch beendet wurde.

Brennende Köpfe, die durch dein Zimmer tanzen … du solltest echt mal über einen Besuch beim Psychiater nachdenken. Und nimm deine Mutter gleich mit. Da gibt es bestimmt so einiges aufzuarbeiten, wenn man eins seiner Kinder weggibt.

Könnte das sein? Könnte dieses Mädchen zu ihrer Familie gehören? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit?

Gleich Null, dachte Ann.

Du glaubst wirklich an einen Zufall? Du bist so naiv. Der abwertende Ton der Stimme triefte wie üblich vor Spott.

Wahrscheinlich sieht sie mir gar nicht so ähnlich, wie es auf dem Foto den Anschein hat, gab Ann zurück.

Na dann, verschwinde doch wieder in deinen Halluzinationen von rollenden, labernden Mitbewohnerköpfen und anderen Abstrusitäten.

Ann lächelte nachsichtig. Sie liebte ihre Tagträume, ihre ganz eigenen Parallelwelten. Sie sah es als harmlosen Spaß – Kopfkino als Hobby. Andere stürzten sich mit ein bisschen Ballonseide am Leib steile Klippen hinunter.

 

Unten in der kleinen Küche hatte Rose den Tisch liebevoll gedeckt. Es gab selbst gebackenes Brot, verschiedene Marmeladen von Früchten aus dem eigenen Garten, Salat und einige Käsespezialitäten. Der Tee dampfte, und überall verbreiteten Kerzen ihr sanftes Licht. Erstaunt bemerkte Ann, wie dunkel es schon war.

»Entschuldige, du wolltest bestimmt viel eher essen.«

»Tja, es ist schon erstaunlich, wie viel ihr jungen Leute euch zu erzählen habt, obwohl ihr doch zusammen wohnt«, schmunzelte Rose.

Nach dem Essen setzten sich beide, mit Jacken und Decken ausgerüstet, auf die Terrasse und schauten in den Sternenhimmel.

»Sag mal, warum wollten sie eigentlich keine weiteren Kinder … meine Eltern?« Ann schaute in Roses Richtung, konnte deren Gesichtsausdruck im Dunkeln jedoch nicht erkennen.

Glaubst du wirklich, sie lässt es zu, dass du hinter ihre perfekte Fassade blickst?

So hörte sie Rose sagen: »Da fragst du die Falsche! Wie war es denn heute am Strand?«

Bildete sie sich das ein, oder hatte die Stimme ihrer Großmutter leicht gezittert?

 

Ann wartete, bis sie sich sicher war, dass Rose schlief, schlich hinunter ins Wohnzimmer, öffnete lautlos den Schrank, zog die Kiste und dann die alte Zeitungsausgabe heraus.

Nein – sie hatte sich nicht geirrt. Dieses Mädchen sah aus wie sie selbst vor zwölf Jahren. Zumindest auf diesem, durch das Zeitungsraster undeutlichen Schnappschuss.

Da sie nur die kleine Schrankleuchte angemacht hatte, musste sie für das Foto den Blitz des Handys aktivieren.

Das ist doch lächerlich! Warum stiehlst du dich hier runter – mitten in der Nacht –, als wenn du irgendwas Illegales tun würdest? Was sollte Rose gegen dieses Foto haben?

Sie lauschte kurz und machte dann noch ein zweites vom Kopf der Zeitung, der das Datum und die Ausgabe dokumentierte.

Im Bett liegend betrachtete sie das Bild eingehend. Leider wurde in der Vergrößerung nur das Raster deutlicher. Nachdenklich legte sie das Handy zur Seite. Sie musste rauskriegen, wer dieses Mädchen war.

*

Ann wählte die Nummer des Servicecenters der OZ in Bad Doberan. Das ganze Wochenende über hatte sie sich den Kopf zermartert, wie sie es hinbekommen könnte, an das Originalfoto ihres Zwillings und dessen Verehrers zu kommen. Sie ging davon aus, dass es sich dabei um den Schreiber der Nachricht, um Ric, handelte, der sie da frech von ihrem Handybild angrinste.

»Ostsee-Zeitung, Anke Letwon am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag, mein Name ist Johanna Arnold. Ich interessiere mich für ein Foto, das vor zwölf Jahren, am 14. August, in Ihrer Zeitung veröffentlicht wurde.« Ann hatte sich dazu entschlossen, soweit es ging, bei der Wahrheit zu bleiben, erzählte von der Todesanzeige ihres Großvaters und der Zufallsentdeckung des abgedruckten Bildes. Dann mogelte sie noch ein paar Details hinzu, in der Hoffnung, dass sie so eher an ihr Ziel gelangen würde.

»Wissen Sie«, schwärmte sie, »ich war damals sooo verliebt in ihn. Im Grunde genommen war er meine erste große Liebe. Und dann haben wir uns zerstritten, unser Urlaub war vorbei, wir reisten ab, und ich habe nie wieder was von ihm gehört. Sie verstehen sicherlich mein Erstaunen, als ich nach so langer Zeit zufällig über diesen alten Artikel gestolpert bin, von dem ich gar nicht wusste, dass er existiert! Ob es wohl möglich wäre, einen Blick auf das Originalfoto zu werfen? Oder es vielleicht sogar abzufotografieren? Es wäre eine so schöne Erinnerung!«

»Da verbinde ich Sie am besten mit unserem Archiv. Der Artikel müsste digitalisiert vorliegen.«

Nachdem Ann einer netten, tiefen Männerstimme dieselbe Geschichte aufgetischt hatte, nicht ohne noch mehr Liebreiz in ihre Stimme zu legen, bekam sie das Versprechen, die besagte Seite als PDF auf ihren E-Mail-Account gesendet zu bekommen. Und obendrauf gab es sogar den Namen und die Kontaktdaten der Redakteurin des Artikels ›Urlaubsflirts und die Sommerliebe‹.

»Wer weiß«, lachte die Männerstimme, »vielleicht schreibt sie ja einen zweiten Artikel über Sie, der da heißt: ›Auf der Suche nach der alten Sommerliebe‹.«

Kapitel 2

Rostock

Sie traf sich mit Lisa Rieckhoff im ›Törtcheneck‹, einem kleinen Café in der Großen Wasserstraße in Rostock. Der Name war innen wie außen Programm. Eingerahmt von zwei monumentalen Steinsäulen in Form zweier griechisch anmutender, leicht bekleideter Männer-Statuen, die die Last eines Erkers trugen, bildete die Ecke den Eingang des kleinen Cafés. Das Gebäude war, wie die meisten in dieser Straße, aufwendig restauriert und strahlte in den Farben Lachs, Rosé und Weiß. Die Atmosphäre im Innern war gemütlich. Es gab eine große Vielfalt kunstvoll verzierter Torten, Muffins, Cup-Cakes und Donuts. Ann entschied sich für einen Himbeer-Muffin mit Latte Macchiato.

Lisa Rieckhoff war um einiges jünger, als sie vermutet hatte. Sie stellten sich vor, und Ann berichtete von ihrem Anliegen. Dann sah sie der Frau schweigend dabei zu, wie diese ein riesiges Stück Torte in ihren Mund stopfte und zu kauen begann. Die arbeitenden Kiefermuskeln und der leicht verzerrte, sabbernde Mund entbehrten jeglicher Ästhetik. Ein Teil des Teigs schien fliehen zu wollen, schloss sich zu größeren Krümelpäckchen zusammen, stürzte sich aus dem Maul des alles verschlingenden Wesens, sprang todesmutig von der Tischplatte in den dunklen Untergrund des Café-Bodens – wo er für immer verschwand.

Könntest du dich vielleicht mal konzentrieren?

Eben noch war Ann voller Vorfreude, voller Neugier gewesen. Die Recherche – das war es, was sie an diesem Job am meisten liebte. Das Wühlen in alten Papieren und Datensätzen. Das Kennenlernen verschiedenster Persönlichkeiten. Die Erkenntnis, wenn die vielen kleinen Puzzleteilchen plötzlich einen Sinn ergaben.

Nun kam ihr die Aktion plötzlich total überflüssig vor. Was versprach sie sich von dem Treffen? Was sollte es bringen, sich mit jemandem zu unterhalten, der die beiden vom Foto nie getroffen hatte? Und dann diese Geschichte von ihr und ihrer angeblichen Jugendliebe – was für ein Nonsens!

»So, deine Großeltern leben also in Rerik? Ich komm ja aus der Nähe von Kröpelin. Ist aber auch nicht so spannend. Wollte immer weg hier. Für die großen Blätter schreiben. War aber wohl nicht gut genug. Also bediene ich sämtliche Käseblätter der Umgebung, sofern die mir meine Artikel überhaupt abkaufen. Nebenbei geh ich putzen und helfe in einer Heißmangel aus. Was hast du gesagt? Von wann ist der Artikel?«

Ann zeigte ihr das PDF der Zeitungsseite und das Handyfoto.

»Oh Mann, das war das erste Jahr, in dem ich Berichte veröffentlicht habe. Kohle bekam man da noch keine. Alles nur für die Anerkennung. Und in der Hoffnung auf zukünftige, regelmäßige Anfragen. Damals dachte ich noch, ich hätte eine tolle Karriere vor mir. Ich bestell mir noch was. Du lädst mich doch ein? Ich bin immer froh, wenn es Menschen gibt, die brotlose Schreiberlinge unterstützen. Na ja, schließlich bin ich extra für dich hergekommen. Der Sprit allein!«

Sie bestellte sich noch ein Stück Sahnetorte und einen großen Milchkaffee.

Ekelige Schmarotzer.

»Ich weiß allerdings nicht, wie ich dir helfen könnte. Ich meine, ich würde ja gern. Deine Geschichte ist schon …«, sie zögerte, »… niedlich. Aber das ist zwölf Jahre her und war nicht grade ein Meilenstein der Geschichte.« Sie lachte, gab dabei einen seltsamen Krächzlaut von sich und entblößte ihre schief stehenden Vorderzähne.

Was für ein Reinfall. Ann bezweifelte, dass die Dame eine fundierte Ausbildung besaß.

Na, gibst du schon wieder auf? Verkriech dich doch in deiner Filmkulisse. Nur nichts riskieren!

Halt den Mund, dachte Ann.

Bevor sie sich trennten, leitete sie das Handyfoto an die Hobby-Redakteurin weiter. Diese versprach, sich zu melden, sollte sie zu neuen Erkenntnissen gelangen.

*

Kröpelin

Fast eine Woche war vergangen, seit sie sich mit Johanna Arnold getroffen hatte. Lisa hatte bis mittags im Mangelstübchen gearbeitet und sich wieder wahnsinnig über das dumme Geschwätz von Gisela aufgeregt, einer nervigen Alten, die dort ihre Rente aufbesserte. Lisa brauchte dringend einen Plan, wie sie aus diesem beschissenen Leben ausbrechen konnte. Aber so sehr sie sich auch den Kopf zermarterte, ihr wollte einfach nichts Gewinnbringendes einfallen.

Die mittlere Reife hatte sie gerade so geschafft und danach keine große Lust auf eine Ausbildung oder andere lernintensive Zukunftsmodelle gehabt. Mit den Artikeln für die Regionalzeitungen war es damals ganz gut losgegangen, und irgendwie hatte sie gehofft, dass da mal was Größeres draus entstehen könnte – bis ein gut aussehender, gut verdienender Mensch käme und sie bis ans Lebensende auf Händen tragen würde.

Jetzt war sie vierunddreißig und musste feststellen, dass das wohl ein wenig naiv gedacht gewesen war. Wie immer, wenn ihre Gedankengänge in dieser Sackgasse und ihre Laune auf dem Nullpunkt angekommen waren, beschloss sie, sich etwas Gutes zu gönnen. Sie fuhr nach Rerik, kaufte ein Eis im Hörnchen, ließ sich auf den Treppenstufen des Hafens nieder und schaute aufs Salzhaff.

Die kleinen, zumeist weißen Segelboote spiegelten sich in der ruhigen, glatten Wasseroberfläche. Möwen drehten ihre Runden. Zwei steuerten direkt auf sie zu, eine kreischte laut und ungeduldig. Sie hofften auf ein paar Krumen Brot, wahlweise ein paar Stücke ihrer Eiswaffel. Die Schulferien waren fast vorbei, trotzdem flanierten etliche Gäste über die überschaubare Strandpromenade und den kleinen Platz zwischen Ostsee und Haff.

Als Lisas Blick auf ein verliebtes Teenagerpärchen fiel, kam ihr Johannas Geschichte wieder in den Sinn.

Egal, jetzt war sie schon mal hier und konnte ebenso gut ein bisschen herumfragen. Viel Zeit würde sie nicht investieren, dafür war die Story zu dürftig und die Chance, nach zwölf Jahren jemanden zu finden, der hier wahrscheinlich nur ein paar Wochen Urlaub gemacht hatte, mehr als gering. Andererseits: Vielleicht konnte sie der OZ einen kleinen romantischen Sommer-Artikel aufschwatzen. Und wenn es nur die zwölf Jahre alte Geschichte von Johanna und Ric wäre, inklusive sehnsüchtigem ›Bitte melde dich-Aufruf‹ an die alte Jugendliebe.

Sie beschloss, mit ihrer Recherche bei der Surfschule zu beginnen. Dazu schlenderte sie ein Stück am Haff entlang, auf der Suche nach dem Bulli, der, zusammen mit einem Anhänger, die Einstiegsstelle der Wassersportler markierte. Sie hatte Glück. Während eine Surflehrerin, im knietiefen Wasser stehend, ihren Schützlingen Anweisungen zurief, lag der Inhaber in einem Liegestuhl neben den zum Trocknen aufgehängten Neoprenanzügen und gönnte sich eine Pause. Lisa zeigte ihm ihren abgewetzten Presseausweis und hielt dem Surfer das Handyfoto von Ric und Johanna unter die Nase. Leider konnte der sich nicht an die beiden Teenager erinnern – was ja auch kein Wunder war, nach so langer Zeit und bei der Masse an Surfschülern.

Lisa sah das realistisch. Sie hatte nur eine Chance, wenn der Junge auf dem Foto entweder aus der Gegend stammte oder jedes Jahr hier Urlaub machte. Ein nicht unwesentliches Detail, zu dem diese Johanna ihr auch keine Informationen hatte geben können. Sehr seltsam, wo sie doch so verliebt in ihn gewesen war.

Lisas nächster Stopp war ›Die Jolle‹. Ein Restaurant mit Blick auf den Hafen. Die Bedienungen waren dummerweise ziemlich beschäftigt und wollten oder konnten ihr nicht weiterhelfen.

Ein Häuschen weiter, im Eiscafé Casa di Mare, zeigte sich ihr ein ähnliches Bild: emsig umherlaufende Kellner und viele Gäste, die auf diese warteten. Trotzdem startete Lisa einen letzten Versuch und hielt einer Servicekraft ihr Handy hin.

»Entschuldigung, ich will nicht lange stören. Mein Name ist Lisa Rieckhoff, ich komme von der Ostsee-Zeitung und recherchiere für einen Artikel.« Mit der anderen Hand griff sie in ihre Jackentasche, zog eine ziemlich verknickte Visitenkarte heraus und legte diese auf die Ecke eines in der Nähe stehenden Tischs. »Kennen Sie zufällig diesen jungen Mann? Das Foto ist allerdings zwölf Jahre alt. Er müsste heute also so um die dreißig sein.«

Die angesprochene Frau drehte sich, freundlich lächelnd, zu Lisa um. Ihr langer, dunkelbrauner Zopf fiel ihr elegant über die Schulter. Sie wirkte routiniert, ließ sich, trotz der gut besetzten Tische, den Stress nicht anmerken. Gleichzeitig signalisierte ihre Körperhaltung, dass sie für solche Dinge nun wirklich keine Zeit hatte. So schaute sie auch nur sehr flüchtig auf das Display.

»Tut mir leid, aber ich denke nicht …« Sie hielt inne und fing an zu lachen. »Darf ich das noch mal genauer sehen?« Schützend legte sie die Hand an das Telefon, um die Reflexion der Sonne abzuhalten. »Aber natürlich, das ist er doch! Das ist Federico. Mein Gott, wo haben Sie denn das Foto ausgegraben?«

Lisa konnte es kaum glauben. »Sie kennen ihn? Wissen Sie, was er heute macht? Kommt er hier aus der Gegend? Es wäre wirklich wichtig. Seine Jugendliebe, das Mädchen hier«, sie zeigte auf das Foto, »würde gern Kontakt mit ihm aufnehmen.«

»Meja sucht nach Ric? Tatsächlich? Wie süß. Na ja, sie waren schon ziemlich verliebt damals. Und dann war es – puff«, sie machte eine ausladende Bewegung, »mit einem Mal vorbei! Aber das ist bei den jungen Leuten ja nichts Ungewöhnliches. Und Temperament hatten die beiden, mamma mia

Lisa stutzte. »Was sagten Sie, wie hieß das Mädchen?«

»Meja, Meja Persson. Lustiger Name, nicht wahr? Ich konnte ihn mir nur deshalb so gut merken, weil er mich an zwei Kindheitsfiguren erinnert hat. Meja verband ich mit Maja, also der Biene Maja.« Sie lachte. »Und Persson mit Pettersson, von Pettersson und Findus. Das hat man davon, wenn man so früh Kinder bekommt. Das Mädchen kam wohl aus Dänemark, oder war’s Schweden? Ich weiß nicht mehr. Irgendwo aus Skandinavien. Sie sprach kaum Deutsch und Italienisch gar nicht. Jedenfalls hab ich sie nie Italienisch reden hören.« Sie wandte sich ab.

»Und Federico? Kommt der aus Rerik?« Lisa schaute von ihrem Block hoch, in dem sie sich schnell ein paar Notizen gemacht hatte.

»Nein, der hat hier nur einen Sommer lang gearbeitet. Das war ein Guter. Fleißig, schnell und zuverlässig. Die Mädchen standen auf ihn. Und was im schönen Köpfchen hatte er auch. Der wird bestimmt was aus sich gemacht haben. Ich weiß aber nicht, wo es ihn hinverschlagen hat.« Die Bedienung griff nach der Visitenkarte, steckte sie ein und machte ein paar Schritte in Richtung Eingang.

Lisa lief neben ihr her. »Und der Nachname? Federicos Nachname? Erinnern Sie sich noch an den?«

»Aber sicher! Chessa. Federico heißt Chessa mit Nachnamen. Schließlich ist er Signor Mancinis Neffe.«

Zwei Tische weiter hob ein älterer Herr die Hand. »Entschuldigung? Ich würde gern zahlen.«

»Es tut mir leid, aber Sie sehen ja. Grüßen Sie Meja von mir und viel Glück bei Ihrem Unterfangen«, sagte die nette Dame. Dann hielt sie doch noch einmal inne.

»Da fällt mir ein. Sie könnten auch Florian fragen. Florian Lehmann. Der wohnt noch hier in Rerik. Er war damals häufig mit Meja und Ric zusammen.«

Dann eilte sie zum nächsten Tisch und ließ eine völlig verdutzte Lisa Rieckhoff stehen.

Langsam ging diese zurück zum Parkplatz. Sie musste die soeben erhaltenen Informationen erst einmal ordnen.

Also: Sie wusste jetzt, dass Ric, also der Junge von dem Foto, eigentlich Federico Chessa hieß und für einen Sommer vor zwölf Jahren im Casa di Mare als Servicekraft gearbeitet hatte. So weit, so gut.

Aber jetzt wurde es seltsam: Das Mädchen auf dem Bild war, laut Bedienung, nicht Johanna Arnold, sondern eine Meja Persson aus Skandinavien. Wenn das stimmte, und davon ging Lisa aufgrund der glaubwürdigen Erläuterungen aus, warum log die Arnold sie dann an? Was bezweckte sie damit? Warum suchte sie Federico Chessa wirklich?

Bevor sie ihre Auftraggeberin damit konfrontieren würde, wollte Lisa sich ein genaueres Bild verschaffen.

 

Zu Hause setzte sie sich an ihren Rechner und tippte ›Johanna Arnold‹ in die Suchmaschine. Das Ergebnis: eine Physiotherapeutin aus Stuttgart und einige Bilder mit Personen, von denen jedoch keine ihrer Auftraggeberin ähnelte. Mist! Lisa wusste leider nicht, aus welcher Gegend Deutschlands Johanna stammte. Nur, dass ihre Großeltern angeblich hierher gezogen waren. So kam sie nicht weiter.

Es folgte ›Federico Chessa‹.

Natürlich. Sie landete zumeist auf italienischsprachigen Seiten. Im Zusammenhang mit ›Rerik‹ oder ›Deutschland‹ gab es nichts Verwertbares. Entweder war er längst nach Italien zurückgegangen, sofern er überhaupt je von dort gekommen war, oder er war kein Freund von Social Media.

Was hatte die Bedienung gesagt?

›Schließlich ist er Signor Mancinis Neffe.‹

Während der Sommersaison holten viele italienische Gastronomen ihre Familien nach Deutschland, damit sie hier arbeiten konnten. In den Wintermonaten waren die meisten Eiscafés geschlossen, die Saisonarbeiter kehrten in die Heimat zurück.

Lisa gab ›Casa di Mare Rerik Inhaber Mancini‹ als Suchbegriff ein. Treffer! Signor Mancini war also tatsächlich der Besitzer des Casa di Mare, der damalige Arbeitgeber von Federico Chessa und gleichzeitig dessen Onkel. Schade, dass ihr die Idee nicht vor Ort gekommen war. Dann hätte sie Herrn Mancini gleich nach dem Aufenthaltsort seines Neffen fragen können.

Sie suchte die Telefonnummer des Casa di Mare heraus, wartete, bis sich jemand meldete und verlangte nach Signor Mancini.

Um was es denn gehe?

Nein, Signor Mancini sei momentan nicht abkömmlich. Sie möge es ein anderes Mal versuchen.

Grazie!

Gut, dann eben später.

Als Letztes gab sie den Namen ›Meja Persson‹ ins Suchfenster ein.

»Ach du Scheiße!«, hauchte Lisa und klickte sich langsam durch die unzähligen Treffer. Es waren ausschließlich schwedische Seiten. Das meiste von dem, was dort geschrieben stand, verstand sie nicht.

Doch wenn es das war, wofür sie es hielt, dann …

Die Einträge waren alt. Sie musste unbedingt an neueres Material kommen. An das, was nicht im Netz stand.

Sie wischte sich die verschwitzten Hände an ihrer Hose ab, stand auf und lief vor ihrem Rechner hin und her.

Was jetzt? Sie musste an die Informationen kommen, ohne dass man auf sie aufmerksam wurde. Wenn die Welle erst einmal losgetreten wäre, würden ganz schnell andere Journalisten auftauchen, professioneller und abgebrühter als sie, mit anderem Background, und futsch wären die Exklusivrechte.

Sie ging in die Küche. Mit zitternden Händen goss sie Wasser in die Kaffeemaschine, steckte eine Tüte in den Filter und füllte Pulver hinein.

Jetzt noch Kaffee?

Nein, vielleicht doch lieber nicht. Sie musste runterkommen. In dem kleinen Schrank im Wohnzimmer fand sie eine angefangene Flasche Johannisbeerschnaps. Nach dem zweiten Gläschen wurde sie ruhiger.

Sie setzte sich wieder an den Rechner. Die Telefonnummer der Polizei von Öland war schnell gefunden. Sie kramte ihre kläglichen Englischkenntnisse heraus und versuchte, an die fehlenden Teile zu kommen, ohne viel von sich preiszugeben. Leider waren die zuständigen Behörden nicht gerade auskunftsfreudig. Nicht einmal die Kontaktdaten der Familie Persson wurden an sie weitergegeben.

Im Internet hatte Lisa nur eine alte Nummer gefunden. Als sie dort anrief, wurde eine schwedische Ansage abgespielt. Nach mühevoller Übersetzung mithilfe eines Internet-Programms war das Ergebnis lediglich, dass die Nummer nicht mehr vergeben war.

Lisa lehnte sich zurück. Ihr alter Bürostuhl gab einen seufzenden Ton von sich. Es half nichts: Morgen würde sie erneut zum Casa di Mare fahren und Herrn Mancini persönlich einen Besuch abstatten. Er sollte wissen, wo sich sein Neffe aufhielt und mehr über Meja erzählen können. Danach würde sie Federico Chessa befragen, der die Aussicht auf eine ganz große Story hoffentlich untermauern konnte. Unter Umständen würde sie es über Florian Lehmann versuchen. Je nachdem, an wen sie besser herankäme.

Und: Sie musste herausbekommen, welche Rolle die Arnold spielte. Hatte sie einen falschen Namen benutzt? War sie in Wirklichkeit Meja Persson? In zwölf Jahren wäre das Erlernen von akzentfreiem Deutsch sicher machbar. Andererseits: Johanna hätte wissen müssen, dass die falsche Identität rauskommen würde, wenn Lisa das Foto überall herumzeigte. Außerdem: Wenn sie Federico aus der Reriker Zeit kennen würde, hätte sie auch gewusst, dass er im Casa di Mare gekellnert hatte. Sie hätte gleich dort nachfragen können, statt den umständlichen Weg über Lisa zu gehen.

*

Rerik

Sie war stolz auf sich. Gut, es war keine Story, für die sie den Pulitzerpreis bekommen würde, aber sie war an Informationen gelangt, mit denen einige große Zeitungen ihr Sommerloch stopfen konnten. Nach Auswertung aller Fakten würde Lisa auf die ganz großen Boulevard-Blätter zugehen. Dann würde sich zeigen, wie viel die Sache wert war. Der Meistbietende bekäme den Zuschlag!

Sie lehnte sich zufrieden zurück und lenkte ihren alten Twingo aus Rerik hinaus. Mittlerweile war es dunkel geworden, der Himmel zudem bedeckt. Die Welt um sie herum verschwand im Nichts. Die beschlagenen Scheinwerfer erhellten gerade einmal ein paar Meter des Asphalts, ließen ab und zu Bäume und Sträucher aufblitzen. Die L 122 Richtung Kröpelin war menschenleer. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 22:42.

Sie hatte eigentlich schon längst zu Hause sein wollen.

Andererseits – was trieb sie denn? Es gab da niemanden, der auf sie wartete. Es war Samstag, die Wäscherei morgen geschlossen, und redaktionell sah die Auftragslage auch nicht gerade rosig aus.

So hatte sie sich ein zweites Glas des billigsten Weins auf der Karte gegönnt und war nach dem Gespräch mit Herrn Mancini noch einige Zeit im Casa di Mare geblieben.

Jetzt saß sie, vom Wein beflügelt, lächelnd in ihrem Kleinwagen und drehte ›Atemlos durch die Nacht‹ ein bisschen lauter. Ein Glas mehr, und sie hätte mitgesungen.

Morgen wollte sie Kontakt zu dem Herzensbrecher Federico aufnehmen. Mal schauen, was der zu all dem zu sagen hatte. Sie freute sich schon auf sein Gesicht, wenn er merkte, dass ihn die Vergangenheit eingeholt hatte. Nach diesem Gespräch, dem wichtigsten von allen, musste sie sich einen genauen Plan machen, welche Informationen sie der Klatschpresse als Köder vor die Füße werfen wollte und wie die Verhandlungen laufen sollten. Sie musste das jetzt sehr geschickt anstellen – vor allen Dingen bezogen auf das Honorar. So eine Chance ergab sich für sie nur einmal im Leben. Und sie hatte nicht vor, sich unter Wert zu verkaufen. Natürlich hätte sie zur Polizei gehen können. Die hätten sicher reges Interesse an ihren Rechercheergebnissen. Das allerdings gäbe kein Geld. Also konnte sie damit auch bis nach der Veröffentlichung warten.

Eines jedoch passte so gar nicht ins Bild: Warum hatte Johanna Arnold gelogen? Was hatte sie mit all dem zu tun? Sie würde sie fragen und versuchen, an weitere Informationen zu kommen. Vielleicht ließe sich noch mehr Kapital rausschlagen.

Lisa Rieckhoff lächelte und fing an, leise mit zu summen.

Im Rückspiegel sah sie Scheinwerfer, die sich schnell näherten. Jede Wette war der Wagen voller junger Leute, die auf dem Weg ins ›Sharks‹ nach Bad Doberan waren.

Wie erwartet, überholte sie das Auto und fuhr mit hohem Tempo davon.

Sollten sie ruhig, das interessierte sie nicht. Sie wollte auf keinen Fall mit zwei Gläsern Wein im Blut in einen Unfall verwickelt werden.

Sie hatte nicht erkennen können, wer oder wie viele in dem Wagen gesessen hatten. Nur, dass es ein monströser SUV gewesen war, weiß mit modernen Lampen. Sie schnaubte verächtlich. Hochnäsige Bonzen.

Frauen wie Lisa bekamen zu diesen Kreisen keinen Zugang. Wenn sie Glück hatten, wurden sie einfach übersehen, andernfalls verspottet und gedemütigt.

Sie erinnerte sich an das bittere Gefühl, an die verächtlichen Blicke und die tiefe Resignation, an dem Tag, als sie gemerkt hatte, dass die Grenze zwischen ihrer farblosen, tristen Welt und der der sorgenfreien Oberschicht für jemanden wie sie unüberwindbar war.

Toll – ihre gute Laune war wie weggeblasen.

In der Zwischenzeit näherte sie sich Kröpelin. Jetzt hatte sie nur noch den kurvigen Teil durch die Allee vor sich, dann käme schon das Wasserwerk in Sicht.

Lisa lenkte ihren Twingo durch die nächste Kehre.

Der Wagen, der ihr entgegenkam, war schnell, wechselte urplötzlich auf ihre Seite und schaltete das Fernlicht an.

»Spinnst du?«, rief sie. »Was soll das denn?«

Sie riss die linke Hand hoch, um ihre Augen zu schützen, um irgendetwas sehen zu können.

Die zwei Sekunden, die ihr Körper in eine Schockstarre verfiel, kamen ihr vor wie Minuten. Zum Denken war ihr Gehirn trotzdem nicht fähig.

Scheiße! Scheiße, oh Gott, war das Einzige, was ihr durch den Kopf schoss, bevor sie das Lenkrad hart nach links herumriss.

Von dem Aufprall selbst bekam sie nichts mit.

Seltsamerweise verspürte sie auch keine Schmerzen.

Sie wollte so gern die Augen öffnen, aber irgendwie schienen ihre Lidmuskeln nicht zu gehorchen. Sie spürte ihre Gliedmaßen nicht – konnte sich nicht bewegen.

In all der Dunkelheit nahm sie einen verschwommenen Schimmer wahr. Waren ihre Augen doch offen?

Warum spürte sie nichts?

Sie wollte schreien. Doch während die Hilferufe in ihrem Gehirn in schmerzhafter Lautstärke dröhnten, konnte ihr Mund kein einziges Wort formen.

War sie das, die da gestöhnt hatte?

Der Schimmer wurde heller und dann zu einem gleißenden Licht, das schmerzhaft grell auf ihrer Netzhaut brannte. Sie meinte, einen dumpfen Schlag zu hören.

Dann war es, als ob jemand mit ihr spräche, weit entfernt und kaum zu verstehen.

»Du hättest einfach nicht rumschnüffeln sollen.«

Kapitel 3

Es kam nicht mehr so oft vor. Aber manchmal gab es sie noch, diese Nächte, in denen er keine Ruhe fand, schweißgebadet aufwachte und viele der Szenen von damals noch einmal durchlebte.

Er stemmte sich aus dem Bett und rollte ins Bad. Es war erst vier Uhr morgens, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Seit dem Tag, der alles verändert hatte, dem Tag im letzten November, an dem ihn das Geschoss traf, die Nervenbahnen seines Rückgrats zerfetzte und alles außer Kraft setzte, was bislang von Bedeutung war.

Er hatte auf der Karriereleiter ganz nach oben gewollt. Erst hatte er das Studium an der HWR in Berlin absolviert, dann war er als Polizeikommissar zur Anstellung nach Rostock gegangen. Dort hatte er ein paar Jahre Erfahrungen sammeln, sich hocharbeiten, einen guten Eindruck hinterlassen wollen.

Dann vielleicht den Masterstudiengang angehen, um sich für die leitenden Positionen zu qualifizieren.

Das war sein Weg gewesen – der einzig für ihn denkbare.

Nun hockte er hier, in seiner behindertengerechten Zwei-Zimmer-Wohnung im kleinen Rerik, und suchte verzweifelt nach einem neuen Masterplan für sein Leben. Dabei konnte er froh sein, dass ihn sowohl seine Eltern als auch die Schwester wo es ging unterstützten. Als Beamter auf Probe bekam er ein sogenanntes Ruhegeld. Man hätte ihn zwar für den Innendienst einteilen können, konnte ihm aber bislang keine geeignete, freie Stelle bieten. Das Verfahren zur Prüfung auf begrenzte Dienstfähigkeit lief. Sollte dabei herauskommen, dass er auch für die Teildiensttätigkeit nicht mehr zu gebrauchen war, würde man ihn in den Ruhestand versetzen – und damit in die lebenslange Abhängigkeit seiner Familie entlassen. Keine rosigen Aussichten.

Er tauschte den Rollstuhl gegen sein Handbike. War er erst lang genug unterwegs, würde die körperliche Anstrengung die belastenden Bilder aus seinem Kopf vertreiben.

Die Sonne ging gerade auf. Es war trocken, dabei noch ziemlich frisch. Die Luft roch nach Gräsern, angereichert mit einer feinen Note Meersalz. Das richtige Wetter für eine zweistündige Trainingsfahrt.

Bevor er den Nachhauseweg antrat, würde er noch bei Christian und Fredde vorbeischauen. Sie saßen sicherlich schon beim ersten Kaffee und besprachen die Dinge, die heute auf der Wache von Rerik anstanden.

Fredde kannte er von früher, sie waren auf dieselbe Schule gegangen. Danach hatten sich beide für eine Laufbahn bei der Polizei entschieden. Genug Gesprächsstoff also für die Treffen zu Weihnachten oder anderen Anlässen, wenn es Zeit wurde, die Familie zu besuchen, und man unweigerlich aufeinanderstieß.

Bis zu der Sache in Rostock.