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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, August 2011
ISBN 978-3-8448-7742-7

© 2011 Leon Jacob, Thomas Schutz. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder und digitale Speichermedien, soweit es nicht §§53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt.

Coverfoto, Umschlaggestaltung, Satz und Layout: Leon Jacob.

Danksagung

Herrn Prof. Stefan Laske und Herrn Prof. Gerhard Graf sowie Herrn Joachim Czichos und den Unternehmensberatungen Capgemini und Boston Consulting Group danken wir für die freundliche Erlaubnis für den Abdruck von Grafiken.

Ferner gilt unser Dank den Interviewpartnern, welche dazu beigetragen haben, dass wir Kapitel fünf und sechs mit praxisnahen Beispielen illustrieren konnten. Insbesondere möchten wir uns bei Herrn Armin von Falkenhayn und Herrn Heiko Fischer bedanken.

Zuletzt möchten wir uns für die zahlreichen Anregungen und die konstruktive Kritik bedanken, welche wir von unseren Familien und Freunden erhalten haben und die dieses Buch maßgeblich geprägt haben.

Unser besonderer Dank gilt dabei Professor John Erpenbeck für seine aufschlussreichen und herzlichen Ratschläge.

Leon Jacob & Thomas Schutz, August 2011

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

KAPITEL 1
Einführung und Anschunkerle: Talent ist das neue „sexy“

KAPITEL 2
10 Jahre „war for talent“

Zu den Waffen: Das Buhlen um die Besten hat schon wieder begonnen!

Der globale Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts

Demographischer Wandel: „Generation Y“ übernimmt und „Gen Z“ lauert schon

Wertewandel: „Purpose“ geht über Profit

Talent Mobility: Die Besten sind überall gefragt

Der Blick in die Glaskugel oder:
„The future is coming sooner than You think“

Das Induktionsproblem und die Rache des schwarzen Schwans – zukünftige Gegenwart oder gegenwärtige Zukunft?

Ex post, ex ante? – egal. Hauptsache ex (oder billig)!

Logically, … die Erde ist doch eine Scheibe!

Das Warten auf den großen Kürbis

The dash for the cash: Talentmanagement – ewiger Trend?

KAPITEL 3
Was Werte mit Talenten verbindet

Begriffliche Klärungen

Kompetenzen als Selbstorganisationsdispositionen

Werte als Kompetenzkerne

Talente als Leistungsveranlagungen

„Talente“ als Führungskräftenachwuchs

Talente im eigentlichen Sinne und was man mit ihnen machen sollte

Talentmanagement als Kompetenzmanagement

Kompetenzmanagement als Wertemanagement

KAPITEL 4
Talent schützt nicht vor Lernen

Lernbiologische Klärungen

Eine kleine Geschichte der Gehirnentwicklung:
Amöben sind doof, Aplysia ist cool

Gestresste Gehirne lernen anders: der kürzeste Weg zur erfrischenden Lernvermeidung

Aufmerksamkeit ist der Ausschluss uninteressanter Information, doch zum Glück gibt‘s ja Ritalin

Gesprächskomatöse Wachzustände: das didaktische (Mitarbeiter-)Gespräch als inszenierter Monolog

MMM – Die Macht mentaler Muster:
Erwartung dominiert Wahrnehmung

Reden ist Schweigen, Silber ist Gold:
Es gibt nur eine Richtigkeit – die eigene

Learner-driven education: ein Paradigmenwechsel

Fakten, Fakten, Fakten:
nur Blütendiagramme können uns noch retten!

„ …and then I left“ – Prof. Mitras „child-driven education“

That‘s it. Sir Ken Robinsons „Changing Education Paradigms“

Für den Lehrenden:
Comenius lebt – Didaktik UND Mathetik

Für den Lernenden:
Selbstorganisiertes Lernen – Kompetenz der Zukunft

KAPITEL 5
„Möhrchen-driven“ Talentmanagement 1.0 Angriff der Klonkrieger

Talentmanagement als Stellenbesetzungs- und Nachfolgemanagement

Der Reifegrad von Talentmanagement im deutschsprachigen Raum

Talentmanagement in der Praxis

Nachwuchsprogramme für Senior Leadership bei einem mittelständischen IT-Dienstleister

Das „Organisational Talent Review“ eines global agierenden Pharma-Konzerns

Herausforderungen für Talentmanagement 1.0

KAPITEL 6
Talentmanagement 2.0: organisch-mathetisches Talententfaltungsmanagement

Vier Faktoren für die Entfaltung von Talenten in Unternehmen

Anpassung – Ja, Assimilation – Nein: Das Borg-Paradoxon

Talente langweilen sich nicht lange – sie ziehen weiter

Talentführungs(inkompetenzkompensations)kompetenz:
Wie führt man Menschen, die nicht gemanagt werden wollen?

Alleine ein Talent – im Team ein Star

Lebenslanges Entfaltungs- und Ermöglichungsmanagement

Talententfaltungsmanagement in der Praxis

Talententfaltung bei der Deutschen Bank AG

„Resourceful Humans“ bei der Crytek GmbH

Wertebasiertes Talententfaltungsmanagement

Organisch-mathetisches Talententfaltungsmanagement als nicht-kopierbares Alleinstellungsmerkmal und Wettbewerbsvorteil der Zukunft

KAPITEL 7
Die Lernende Organisation – reloaded and refreshed

Was bislang geschah…

Theories of Action

Modell I und Modell II

Die fünf Kerndisziplinen zum Aufbau einer lernenden Organisation

Organisationskultur und die lernende Organisation

… und warum es nicht geklappt hat.

Individuelles und organisationales Lernen:
specialize in the unpredictable!

Strategieumsetzende Lernarchitekturen:
„Culture eats strategy for breakfast.“

Grundzutaten für gesunde und leckere Lernkulturen

KAPITEL 8
„Turn and burn“ – Nicht leiden, machen!

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Vorwort

„Ich glaube felsenfest, dass wir alle mit außerordentlichen natürlichen Talenten geboren werden, aber zu einem Großteil von ihnen den Kontakt verlieren, je länger wir in dieser Welt sind. […] Die Folge? Viel zu viele Menschen finden nie den Kontakt zu ihren wahren Begabungen und wissen nicht, zu welchen Leistungen sie fähig sind. Insofern wissen sie nicht, wer sie sind“
(Robinson & Aronica, 2010, S. 9)
.

Setzen wir dieses Zitat neben eines von Peter Drucker – seines Zeichens Erfinder des modernen Managements und weltweit erster Inhaber eines entsprechenden Lehrstuhls. Drucker schreibt in dem 1999 erschienenen und 2011 als einer der zehn meistgelesenen Beiträge im Harvard Business Review neu aufgelegten Artikel „Managing Oneself“ (2011, S. 53):

„To work in an organization whose value system is unacceptable or incompatible with one’s own condemns a person both to frustration and to nonperformance. […] To be effective in an organization, a person’s values must be compatible with the organization’s values. […] Otherwise, the person will not only be frustrated but also will not produce results.“

Anhand beider Zitate ist die Bedeutung der Begriffe „Talent“ und „Begabung“, „Leistung“ und „Erfolg“ sowie „Werte“ und „Kompetenzen“ für den Einzelnen sowie für jedwede gemeinsame Unternehmung zu erahnen. Schaut man aber in die multi-medialen und „highly super-sophisticated“1 Wunderwelten unseres täglichen Lebens, so wird man mit einer Unzahl von begrifflichen Unklarheiten, gewollten und nicht gewollten, bombardiert. Die auf diesen Unklarheiten aufbauenden Lern- und Arbeitssysteme vermögen, bei aller Liebe zu linearen Detaillösungen, die Herausforderungen unserer Zeit nicht zu meistern.

Um nicht in weitere Leidensabgesänge über unsere Beste aller Welten zu verfallen – in Deutschland wird schließlich schon genug gelitten: natürlich gemeinsam, nachhaltig und lebenslang – versuchen wir den Grund für diese Entwicklung in einem einseitigen Talent- und Kompetenzbegriff und den daraus folgenden Konsequenzen aufzuzeigen und einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma durch ein wertebasiertes organisch-mathetisches2 Talententfaltungsmanagement darzustellen. Unsere Analyse stützt sich dabei auf eine ausführliche Literaturrecherche, die Auswertung ausgewählter Studien im Personalwesen aus den vergangen 15 Jahren sowie auf unsere eigenen langjährigen Erfahrungen sowohl auf Seite des Lernenden bzw. des Talents als auch auf Seite des Lehrenden bzw. des Arbeitgebers, Mentors, Beraters, etc.. Darüber hinaus wurden persönliche Interviews auf qualitativer Basis mit Human Resource- bzw. Talentmanagement-Verantwortlichen der Crytek GmbH und der Deutschen Bank AG sowie eines mittelständischen IT-Dienstleisters und eines global agierenden Pharma-Konzerns geführt. Die Ergebnisse dieser Interviews werden in Form von Praxisbeispielen in den Kapiteln fünf und sechs verwendet. Ferner ist dieses Buch gespickt von persönlichen Anmerkungen und den Erzählungen und Erfahrungen etlicher Gesprächspartner aus allen vier Generationen, welche sich derzeit in der Arbeitswelt tummeln sowie auf der ihnen nachfolgenden.

Wir sind der Meinung, „ […], dass solche wahren Geschichten die Zuhörer mindestens ebenso sehr wie Statistiken und Expertenmeinungen davon überzeugen, dass wir zu uns und dem, was wir mit unserem Leben machen, eine andere Einstellung brauchen; dass wir die Erziehung und Ausbildung unserer Kinder überdenken müssen und ebenso die Art, wie wir unsere Firmen führen“ (Robinson & Aronica, 2010, S.10).

Außerdem blenden wir mehrere Exkurse ein, die das Beschriebene aus anderer Perspektive illust auf den Punkt bringen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um ein Arsenal an Best-Practice Beispielen, deren Herangehensweise eins zu eins auf anderweitige Problemstellungen übertragbar und im Checklisten-Format abzuarbeiten ist. Ein solches Vorgehen wäre dem Thema nicht angemessen3. Mustervorlagen für Verhaltensweisen können mitunter Mentale Modelle generieren, welche die unternehmerische Handlungslogik prägen und somit den Unternehmenserfolg maßgeblich beeinflussen. „The greatest danger in times of turbulence is not the turbulence, but acting with yesterday‘s logic“ (Drucker, 1993, S. 22).

Um ferner unsere Gedankengänge nicht zu sehr vom Thema Talententfaltung abschweifen zu lassen, seien die Leser mit tiefergehendem Interesse an individuellem Lernen auf die kommende Publikation „Lern Dich Glücklich vs. Lernen erfolgreich vermeiden“ verwiesen. Der darauf folgende Titel „Lernen kann jeder, Nicht-Lernen will gelernt sein: Lernprozesse erfolg- und sinn-frei gestalten“ widmet sich der Gestaltung von Lernarchitekturen für kollektives und organisationales4 Lernen.

„Einführung und Anschunkerle: Talent ist das neue sexy“, „Fakten, Fakten, Fakten: nur Blütendiagramme können uns noch retten!“ und „Anpassung – Ja, Assimilation – Nein: Das Borg-Paradoxon“ – einige Vorbemerkungen zur in diesem Buch verwendeten Ausdrucksweise:

Anpassung – Ja, Assimilation – Nein. Das gilt auch für die hier verwendete Sprache und Darstellung. Als Wissenschaftler stellen wir einerseits die betreffenden Sachverhalte im wissenschaftlichen Kontext entsprechend exakt und „state of the art“ dar, hegen aber andererseits keinen wissenschaftlichen Anspruch auf Vollständigkeit.

Hier verweisen wir exemplarisch auf die reichhaltige Fach- und Ratgeberliteratur, wobei diese Verweise natürlich auch nicht vollständig sein können, sondern stets eine Empfehlung der Autoren darstellen.

In der begrifflichen und lernbiologischen Klärung stellen wir zunächst die sprachliche Vielfalt und mitunter irreführende Mehrdeutigkeit von Begriffen dar. Beispielsweise hat der Begriff „Kompetenz“ in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen unterschiedliche Bedeutungen. Es gibt sogar den Begriff der „Kompetenz-Kompetenz“, welcher im Zeitalter des „FilmFilms“ eher irritiert, aber dennoch wohldefiniert ist, also kein Scherz und auch kein Schreibfehler. Ebenso erschließt sich durch Lesen der entsprechenden Kapitel, was sich beispielsweise hinter der Überschrift „Fakten, Fakten, Fakten: nur Blütendiagramme können uns noch retten!“ verbirgt oder mit „das Borg-Paradoxon“ konkret gemeint ist. Insbesondere zeitoptimierenden Schnell- und Querlesern – immer multi-medial und multi-tasking versteht sich – empfehlen wir neben einer Internetforum-Anmerkung zum Borg-Paradoxon5 die kurzen Einleitungen der Kapitel zum vollständigen Lesen. Hier haben wir uns an Henry Mintzberg – einem der bekanntesten Strategie-Experten und Management-Autoren der Welt – orientiert, der im Vorwort seines 2010 erschienenen Buches „Managen“ folgende Lese-Vorschläge macht:

„Kapitel 1: Managen – vorwärts marsch! Hier gebe ich eine Einführung und stelle meine Sicht des Managers vor. Ich schlage vor, Sie lesen es ganz.

Kapitel 5: Dieses Kapitel zu schreiben, hat mir besonders großes Vergnügen bereitet, und ich nehme an, dass es Ihnen bei der Lektüre ähnlich gehen wird […]; Manager, und insbesondere solche, die an die Existenz irgendwelcher Wundermittel glauben, sollten es aufmerksam lesen“ (Mintzberg, 2010).

Wir sind der Überzeugung, dass neben der notwendigen Wissenschaftlichkeit auch die Lesbarkeit von hoher Bedeutung ist. Aber nicht in der Form, dass illustre Kriegsrhetorik zum Einsatz kommt: Die Überschrift „Zu den Waffen: Das Buhlen um die Besten hat schon wieder begonnen!“ mag hier eine ironisch-zynische Anspielung auf Publikationen und Denkweisen sein, die wir eben nicht zur Gänze teilen, aber durchaus darstellen wollen, da sie inhaltlich bedeutsam sind. In diese Rubrik fällt auch der gemischte Gebrauch der deutschen und englischen Sprache: in beiden Teilen korrekt, in der Summe phantastisch. Viele Beispiele aus der realen Wirtschaft, wie Job- und Stellenbezeichnungen, Zitate und Anzeigen aus Tageszeitungen, englische „Fach“-Termini und weitere Schmankerl, sprechen für sich und pointieren den Frohsinn im Alltag in ihrer schlichten Schönheit.

Einen Überblick über die Entwicklungen, welche das Thema Talentmanagement haben aufkommen und an Bedeutung gewinnen lassen, gibt nach einer kurzen Einführung das zweite Kapitel. Kapitel drei widmet sich der Fragestellung, worin die Verknüpfung zwischen Werten und Talenten besteht, und enthält zu Beginn eine begriffliche Klärung der Kernbegriffe „Talente“, „Kompetenzen“ und „Werte“. Ferner wird es hier auch um die Herausforderungen gehen, welche sich für den Menschen im Umgang mit Zukunft und Komplexität ergeben. Die sich im vierten Kapitel anschließende lernbiologische Klärung erhellt den Zusammenhang zwischen Gehirn und Lernen, Erwartung und Wahrnehmung, realen und wünschenswert-gehirnfreundlichen Lernarchitekturen und bereitet den allgemeinen und konkreten Paradigmenwechsel hin zu einem organisch-mathetischen Talententfaltungsmanagement vor. Das folgende fünfte Kapitel widmet sich dem Reifegrad der Talentmanagement-Programme im Jahr 2010 und hinterfragt zum einen deren Wirksamkeit, zum anderen deren Sinnhaftigkeit vor dem Hintergrund der obigen Begriffsklärung. Kapitel sechs behandelt die Fragestellung, was ein auf dem Talentbegriff im eigentlichen Sinne fußendes Talentmanagement-Programm leisten muss, warum es vor dem Hintergrund der beschriebenen globalen Herausforderungen umgesetzt werden sollte und welche langfristigen Vorteile ein solches werte- und kompetenzbasiertes, organisch-mathetisches Talententfaltungsmanagement bietet. Unsere Konzeption eines wertebasierten, organisch-mathetischen Talententfaltungsmanagements diskutieren wir schließlich im siebten Kapitel im Kontext existierender Arbeiten zur lernenden Organisation.

„Was hat nun die Unternehmung davon, wenn seine Mitarbeiter lernen?“ „Jaja“, mag man denken, „die Lernende Organisation, I know, alles schon da gewesen, hat alles nicht geklappt: schön in der Theorie, aber leider nichts für die Praxis.“ Mit den besten Vorurteilen hierzu und Betonung auf die Wirtschaftlichkeit der lernenden Organisation geht Kapitel sieben über deren Wiederentdeckung in der jüngsten Vergangenheit hinaus.

Organisationale, strategieumsetzende Lernarchitekturen werden mit dem dargestellten Talententfaltungsmanagement organisch und mathetisch erfrischt und für das Unternehmen umfassend nutzbar.

Was bleibt? Kapitel acht: „Turn and burn“: Nicht leiden, machen!“6

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1 Verwandte Anglizismen und der opulente Gebrauch von Fremdwörtern greifen hier Trends und, selbstredend, Mikro-Trends auf, die hier jedoch nicht, wie sooft, die Wissenschaftlichkeit der Aussagen erhöhen, sondern im Sinne eines wahrgenommenen Live-Kabaretts den geneigten Leser beim Lesen erfreuen sollen.

2 Jawohl, es heißt „mathetisch“ und nicht „mathematisch“ und ist kein Schreibfehler; nein, kein Schreibfehler!

3 Kopiervorlagen oder Checklisten sind für den Vorlesungs- und Seminarbetrieb und bei einfachen bis hin zu komplizierten organisatorischen Abläufen ein sinnvolles Hilfsmittel. In der Praxis führen sie bei wiederholter Anwendung jedoch oft dazu, dass man nicht mehr darüber nachdenkt, ob und, wenn ja, welche Punkte überflüssig bzw. zu ergänzen sind. Prof. Dr. Peter Kruse mahnt davor, komplexe Systeme als kompliziert zu trivialisieren: Dies zerstöre vielmehr den komplexen Charakter solcher Systeme. Die Entfaltung von Talenten in Unternehmen ist dabei zweifelsohne komplex und nicht bloß kompliziert.

4 Jawohl, auch hier heißt es „organisational“ und nicht „organisatorisch“.

5 „ah I see you don’t get it, yet […] - read my posting again, slowly not hasty“ (KrazeeXXL, 2009).

6 Wer doch lieber leiden will, dem sei Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“ (Watzlawick, 2009) empfohlen, welche bereits in der 15. Auflage verfügbar ist.

Image KAPITEL 1

Einführung und Anschunkerle:
Talent ist das neue „sexy“

Ein Talent müsste man sein. Einmal gekrönt, geht es ab sofort steil nach oben. Diesen Eindruck könnte man dieser Tage zumindest beim Blick auf die einschlägigen Karriereportale und Jobbörsen gewinnen. Das Beste ist: So schwer ist das gar nicht! Der CEO einer der weltweit führenden Strategieberatungen begrüßte jüngst die Teilnehmer eines Recruiting-Events mit den Worten: „Sie sind alle ganz tolle Talente!“ Hm… Das ging aber jetzt doch ein bisschen sehr einfach. Bei genauerer Betrachtung gewinnt man den Eindruck, dass „Talent“ das neue „sexy“ zu sein scheint. Der nächste Modebegriff in einer Reihe von Bezeichnungen für die so hochbegehrten Arbeiter der Wissensökonomie. Obgleich keiner so genau sagen kann, wer oder was ein Talent eigentlich auszeichnet, ist zumindest eines klar: Jeder Arbeitnehmer will selbst ein Talent sein – Jeder Arbeitgeber am besten nur noch Talente beschäftigen.

In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigten sich mehrere McKinsey Partner mit dem zunehmenden Wettbewerb um hochqualifizierte Arbeitskräfte und prägten dabei den Begriff des „war for talent“ (Chambers et al., 1998, S. 44). Der Rat der Consulting-Unternehmen war damals wie heute: Talentmanagement muss zur Chefsache werden (Chambers et al., 1998, S. 48; Heidrick & Struggles, 2007, S. 9; Martin & Schmidt, 2010, S. 35). Nur wer es schafft, die besten Talente anzuwerben und an sich zu binden, wird auch in Zukunft noch erfolgreich sein. Talente wurden als kritische Ressource identifiziert, die Versorgung des Unternehmens mit Nachwuchstalenten auf die gleiche Stufe gestellt, wie die Versorgung mit Rohstoffen und Kapital: „Talent is the new oil and just like oil, demand far outstrips supply“ schrieb 2007 die internationale Beratungsfirma Heidrick & Struggles (2007, S. 2). Die Aufgabe, dieser Herausforderung entgegen zu treten, wurde von Chambers et al. 1998 als zentral für die kommenden Jahre herausgestellt. Infolgedessen entwickelten und implementierten Großkonzerne ebenso wie mittelständische Unternehmen so genannte „Talentmanagement“-Programme und zogen mehr oder minder gut gerüstet in den Krieg um die Talente.

Wirft man heute, gut zehn Jahre nach den Arbeiten von Chambers et al., einen Blick auf das Schlachtfeld des Talente-Krieges, so offenbart sich ein buntes Treiben. Firmen werben mit schier undenklichen Maßnahmen um die Gunst der Talente: Studenten konnten beispielsweise nach dem alljährlichen Skifahren mit McKinsey & Company in Kitzbühel im Januar 2011 zunächst zehn Tage im Rahmen der so genannten „Mission America“ von KPMG auf Schnitzeljagd in den USA gehen und im Anschluss mit Deloitte einige Tage in Athen über Fallstudien brüten (Mehr dazu im zweiten Kapitel).

Doch damit nicht genug. Unternehmen beschwören auf ihren Karriere-Webseiten eine Kultur der Harmonie und der Wertschätzung und locken junge Bewerber mit Entwicklungsprogrammen und Aufstiegschancen. Doch so sehr dieses unter Personalmarketing laufende „Buhlen um die Besten“ floriert, so trist sieht danach oftmals die Realität aus. Was als „individuelles Entwicklungsprogramm mit kontinuierlichem Feedback und Coaching“ beworben wird, stellt sich in vielen Fällen als langweilig standardisiertes, lediglich der Stellenbesetzung dienendes Verfahren heraus, welches mitunter sogar dieses Ziel verfehlt: „Fast 40 Prozent der internen Stellenbesetzungen mit High Potentials erweisen sich im Nachhinein als Fehlgriffe“ (Martin & Schmidt, 2010, S. 28). Zudem ist das, was Hochschulabsolventen und Young Professionals im Zuge des Talentmanagements geboten wird, in hohem Maße austauschbar. Lineare und auf Konformität ausgelegte Entwicklungspfade stellen die Großzahl der vorhandenen Entwicklungsprogramme in Firmen dar. Dabei besteht das Ziel nicht in der Entwicklung des individuellen Mitarbeiters und der Entfaltung des mühsam angeworbenen Talents. „Talentmanagement“ ist vielmehr das Label für einen institutionalisierten „Stellenbesetzungszirkus“, bei dem die Talente der Talente allzu oft unterschätzt werden. Hier geht es um das Trainieren extern vorgegebener Fähigkeiten wie spezielle „Leadership Skills“ und das Absolvieren des jährlichen Parcours aus Mitarbeitergespräch, Performance Review, Talent Talk, Peer Reviews, et cetera. Während das Topmanagement und die HR Abteilungen alle Hände voll zu tun haben, ihren Talenten einen gewissen Mindeststandard an Förderung zu bieten, bleibt die Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal einer Karriere bei „Firma X“ in der Regel unbeantwortet. Echte Bemühungen, sich von den Talentmanagement-Programmen anderer Firmen zu differenzieren, sucht man allzu oft vergebens.

Infolgedessen bleibt ein Großteil des Potentials der eigenen Mitarbeiter ungenutzt und womöglich sogar unentdeckt. Im schlimmsten Fall lassen Firmen sogar Talente, welche sich bereits mitten in ihrer Entfaltung befinden, verkümmern. Die resultierende Situation ist für beide Seiten unbefriedigend: Die Angestellten – firmeninterner Talentstatus hin oder her – haben kaum die Möglichkeit, ihr Potential vollständig zu entdecken und zu entfalten, während die Arbeitgeber sich eine Armee von Angestellten heranzüchten, deren Potential der Firma in großem Maße unerschlossen bleibt. Das durch das System induzierte Ohnmachtsgefühl ruft bei den Mitarbeitern die Überzeugung hervor, dass die beste Chance darin läge, sich dem System zu fügen und sich von Mitarbeitergespräch zu Mitarbeitergespräch, von Talent-Pool zu Talent-Pool durchzuwurschteln. Die Entfaltung der eigentlich vorhandenen Talente erfolgt dabei nach dem Prinzip Hoffnung1. Nicht selten hängt es von der Gunst des direkten Vorgesetzten ab, ob Talente die Möglichkeit haben, sich zu entfalten, oder ob sie sich in einer Sackgasse befinden.

Diese Form von „industriellem“ Talentmanagement, bei dem am Ende eines dreijährigen Programms die Nachwuchsführungskräfte vom Fließband plumpsen, bezeichnen wir im folgenden als „Talentmanagement 1.0“ oder kurz: „TM 1.0“. Aus unserer Sicht bietet TM 1.0 vier entscheidende Nachteile, welche die Suche nach einer neuen Form von Talentmanagement erforderlich machen:

Mitarbeiter werden zunehmend zum limitierenden Faktor nahezu jeder Unternehmung. Der hohe „Verbrauch“ an Human Resources von TM 1.0 wird damit mittelfristig zum Problem. Gleichzeitig drängen Generationen – Gen Y2 und Gen Z3 – auf den Arbeitsmarkt, die sich in ihren Ansprüchen, Erwartungen und Fähigkeiten von allen vorherigen unterscheiden. Ziel muss es daher sein, die „Ausbeute“ der unternehmensinternen Entwicklungsprogramme zu erhöhen und jeden Einzelnen besser zu fördern.

Bei vorhandenen Programmen im Stile von TM 1.0 liegt der Fokus auf den zu besetzenden Stellen. Dabei wird oftmals mit einem einseitigen Talentbegriff gearbeitet. Um die darüber hinaus in der Belegschaft vorhandenen Potentiale zu nutzen, bedarf es eines umfassenden Talentbegriffs und eines breiten Verständnisses von Talenten als Leistungsveranlagungen.

TM 1.0 orientiert sich bei der Besetzung von Stellen allzu oft an den gegenwärtigen Schlüsselpositionen im Unternehmen und den dafür benötigten Kompetenzen. Ein solches Personalbestands-orientiertes Talentmanagement hinkt der Realität zwangsläufig immer mindestens einen, öfter auch zwei Schritte hinterher. In einer Umgebung, in der es unmöglich ist zu sagen, wie die Wirtschaft von morgen aussehen wird, ist dies nicht gut genug. Zukunftsorientiertes Talentmanagement muss daher das Lernen in Organisationen umfangreich und allumfassend fördern. Es muss möglich sein, heute Kompetenzen zu trainieren, von denen das Unternehmen morgen abhängig sein wird, ohne heute zu wissen, welche das morgen genau sind.

Bei der Frage, wie man die einmal gefundenen Talente an das eigene Unternehmen bindet, verlassen sich viele Unternehmen auf so genannte „Hygienefaktoren“ wie Gehaltserhöhungen, Dienstwagen, Bonuszahlungen oder Weiterbildungen in 5-Sterne-Ressorts. Ein solches Vorgehen macht die Firma jedoch im hohem Maße austauschbar: Wer den 7er BMW bezahlt, kann dem Talent ja im Prinzip egal sein. Echte Loyalität baut hingegen auf gemeinsamen Werten und einer geteilten Vision auf. Talentmanagement sollte daher auf den Unternehmenswerten basieren und die Identifikation mit Mission und Kultur der Organisation fördern.

In Anbetracht dieser Beobachtungen ist klar, dass sich etwas ändern muss im Talentmanagement. Die Ursache für die hier angemerkten Nachteile von TM 1.0 liegt dabei nicht in der mangelhaften Umsetzung der Grundidee von Talentmanagement. Im Gegenteil: Viele Firmen haben ihre Talentmanagement-Programme sukzessive optimiert und sind heute außerordentlich leistungsfähig in der internen Nachfolgeplanung. Was es bedarf, ist keine weitere Optimierung der bestehenden Systeme als vielmehr ein Paradigmenwechsel in der zugrunde liegenden Talentmentalität.

Wir möchten in diesem Buch eine neue Form von Talentmanagement vorstellen: ein wertebasiertes, organisch-mathetisches Talententfaltungsmanagement. Unser Ziel ist es zu zeigen, was sich hinter dieser Bezeichnung genau verbirgt, welche Vorteile ein solches „Talentmanagement 2.0“ bietet und wie man es konkret umsetzen kann. Es geht uns ausdrücklich nicht darum, ein Unterhaltungsprogramm für die besten1 bis 2% zu entwerfen. In Gegenteil: Erfolgreiches Talententfaltungsmanagement erstreckt sich über die gesamte Organisation und zielt auf die Förderung der Lern- und Leistungsfähigkeit des Unternehmens als Ganzes ab. Es muss dabei aus der Unternehmenskultur entwachsen und eng verwoben sein mit der unternehmerischen Gesamtstrategie.

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1 siehe John Erpenbeck und Lutz von Rosenstiel: „Talent – das ist das Prinzip Hoffnung im Personalwesen“ (Steinweg, 2009, S. IX).

2 „Gen Y“ steht für Generation Y, manchmal auch „Millennials“ oder „Net-Generation“ genannt und umfasst die Geburtenjahrgänge von ca. 1980 bis ca. 1993 (Hewlett et al., S.73). Mehr zu Generation Y findet sich in Kapitel 2.

3 „Gen Z“ steht für Generation Z, die Geburtenjahrgänge von ca. 1993 bis ca. 2006 (Hewlett et al., S.73). Mehr dazu in Kapitel 2.

Image KAPITEL 2

10 Jahre „war for talent“

Das vorliegende Kapitel dient als Überblick über den „war for talent“ und des Schlachtfelds, auf welchem dieser stattfindet. Verknüpft wird diese Bestandsaufnahme mit einem Blick auf die menschliche Eigenart, die Zukunft in ihrer Unsicherheit beherrschen zu wollen. Überlegungen über die unordentliche Realität, den Umgang mit gegenwärtiger und zukünftiger Komplexität und die menschliche Reaktion auf den „planbaren“ Zufall werden vor dem Hintergrund der beschleunigten Talentschlacht einführend beleuchtet. Prinzipiell empfehlen wir dieses Kapitel allen Lesern als Einstieg in das Buch. Wer mit der Materie des „war for talent“ bereits gut vertraut ist, mag kurz die „Rache des schwarzen Schwans“ (an)lesen. Wer den schwarzen Schwan schon ausgiebig gejagt hat, kann hurtig zu den Begrifflichen und Lernbiologischen Klärungen weiterziehen.

„Tell me again: Why would someone really good want to join your company? And how will you keep them for more than a few years?“ (Chambers et al., 1998, S. 45).

Der Krieg um die Talente ist nichts Neues. Seit seiner Ausrufung durch Chambers et al. im Jahr 1998 sind mittlerweile gut zehn Jahre ins Land gegangen. Zehn Jahre, in denen Firmen ausgiebig Zeit hatten, Antworten auf die von Chambers et al. formulierten Fragen zu geben. Das heisst, Programme zur Identifikation, Anwerbung, Entwicklung und langfristigen Bindung von Talenten zu entwickeln und diese zu erproben.

Es wird im Folgenden nicht darum gehen, was hinter den Kulissen passiert ist, d.h. wie die Talentmanagement-Programme der Unternehmen aufgebaut sind und angewandt werden. Eine entsprechende Analyse ist in Kapitel fünf zu finden. Zunächst soll es vielmehr um einen Bericht vom Schauplatz des Talente-Krieges selbst aus der Perspektive eines externen Beobachters gehen.

Neben einer Übersicht über die Recruiting-Aktivitäten international tätiger Firmen wird ein Blick auf die gegenwärtige Situation des globalen Arbeitsmarktes geworfen und die Verhaltenslogik der Akteure einer genauen Untersuchung unterzogen.

Zu den Waffen: Das Buhlen um die Besten hat schon wieder begonnen!

Firmen haben in den vergangenen Jahren ihre Recruiting-Aktivitäten massiv ausgeweitet. Nahezu jede Universität veranstaltet mittlerweile Karrieremessen, viele mehrfach im Jahr. Darüber hinaus gibt es unzählige „Kennenlern-Veranstaltungen“, Workshops, Business-Diner, Assessment Center-Trainings und ähnliche Veranstaltungen mit Unternehmen. Wer sich als Student clever anstellt, kann dank solcher Recruiting-Events in den Semesterferien die halbe Welt bereisen – alles auf Kosten des Personalmarketings international tätiger Firmen, die sich im „Buhlen um die Besten“ gegenseitig überbieten. Einige Beispiele für solche Recruiting Events sind der Bosch Biathlon für Nachwuchskräfte, wo Schießübungen auf Skiern mit Case-Studies kombiniert werden, das Deloitte International Student Business Forum in Griechenland, die KPMG Mission America – eine großangelegte Schnitzeljagd in den USA mit Teilnehmern aus aller Welt – sowie der alljährliche Skiausflug mit McKinsey nach Kitzbühel.

Sinn und Zweck all dieser Events ist stets der gleiche: „Seht her, wir sind bereit in Euch zu investieren und bieten Euch großartige Karrieremöglichkeiten, ohne dass dabei der Spaß zu kurz kommt.“ Wenngleich es sicher schöner ist, einen potentiellen Arbeitgeber auf diesem Wege kennen zu lernen als auf einem kompetitiven Assessment-Center, muss man sich dennoch die Frage stellen, ob dies überhaupt der Sinn solcher Veranstaltungen ist oder ob das Credo nicht eher „Blenden und geblendet werden“ lautet. Personalmarketing-Events haben selbstverständlich die Absicht, die Firma so gut und interessant wie möglich darzustellen. Dies bedeutet aber auch, dass Teilnehmer solcher Events mitunter einen falschen Eindruck davon bekommen, wie Firmenkultur und -politik tatsächlich aussehen. Sofern dies nicht sogar beabsichtigt ist, wird diese Tatsache zumindest billigend in Kauf genommen. Hauptsache man kommt an die Talente ran und bindet sie sich auf den Bauch. Ob das eigentlich die richtigen Leute sind und was man mit Ihnen anfängt, wenn sie erstmal einmal da sind, darüber kann man sich ja auch noch später Gedanken machen.

Nicht anders sieht es auf Seiten der Teilnehmer solcher Veranstaltungen aus. Auch hier lassen sich die meisten jungen Berufseinsteiger eher von der Frage leiten, wie sich der potentielle Arbeitgeber den optimalen Bewerber vorstellt. Die Verkörperung eines authentischen Selbstbildes und gereiften Charakters mit Stärken und Schwächen, welche mitunter von denen des Musterbewerbers abweichen, ist eher selten anzutreffen. Zu unreflektiert und fremdgeleitet steht das Ergattern einer Einstiegsposition in einem internationalen Unternehmen oftmals im Vordergrund der Bewerber. In der Konsequenz führt dies leider allzu oft zu einem Tunnelblick, bei dem wichtige Faktoren wie eine gemeinsame Wertebasis, die Identifikation mit Firmenkultur und -vision sowie persönliche Entwicklungsmöglichkeiten jenseits vordefinierter Karrierepfade oftmals außer Acht geraten.

Zusammenfassend lassen sich die Recruiting Events der neuesten Generation als Brautschau für karriereorientierte, am Fließband produzierte Mustermitarbeiter beschreiben. Beide Seiten sind so darauf konzentriert, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, dass die Chance, nach einer echten Übereinstimmung zwischen Persönlichkeit des Bewerbers und Kultur und Vision des potentiellen Arbeitgebers zu suchen, oftmals vergeben wird.

Der globale Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts

Um die Bedeutung von Talentmanagement zu verdeutlichen, ist es wichtig, sich einige gegenwärtige Entwicklungen auf dem globalen Arbeitsmarkt genauer anzuschauen. Darüber hinaus sind diese jedoch auch ausschlaggebend für die Art und Weise, wie Talentmanagement betrieben werden sollte.

Insbesondere für die Fragestellung, wie eine mittel- und langfristige Talentmanagement-Strategie aussehen sollte, die auch in Zukunft erfolgreich sein wird, müssen entsprechende Veränderungen berücksichtigt und in strategische Überlegungen mit einbezogen werden.

In engem Zusammenhang mit dem „war for talent“ stehen hierbei insbesondere drei Entwicklungen: Der demographische Wandel, der damit einhergehende Wertewandel sowie die Entstehung eines globalen Arbeitsmarktes für Talente.

Demographischer Wandel: „Generation Y“ übernimmt und „Gen Z“ lauert schon

Trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 und den damit verbundenen Entlassungen steuern viele Volkswirtschaften auf das gegenteilige Problem zu: Arbeitskräfte, insbesondere höher- und hochqualifizierte Arbeitskräfte, werden zunehmend knapp. In den kommenden fünfzehn bis zwanzig Jahren wird die Mehrzahl der „Baby Boomer“-Generation1 in den Ruhestand treten, während gleichzeitig immer weniger Hochschulabsolventen nachrücken (Capgemini, 2007, S. 21). Eine Großzahl an Firmen sieht sich mit einem Umbruch in der Zusammensetzung ihrer Belegschaft von enormem Ausmaß konfrontiert: Die Baby Boomer Generation stellt in vielen von ihnen einen Großteil der Mitarbeiter. Dazu kommt, dass die meisten Baby Boomer durch ihre umfangreichen Berufserfahrungen vor allem Wissensträger und Führungskräfte in ihren Unternehmen sind (Capgemini, 2007, S. 15).

Unternehmen stehen demnach in den kommenden 20 Jahren vor der Aufgabe, dieses durch die Pensionierung der Baby Boomer entstehende Vakuum zu füllen (The Boston Consulting Group, 2010, S. 4). Bei manchen Unternehmen ist dies eine Herausforderung von gigantischem Ausmaß: sie werden in nur fünf Jahren nahezu die Hälfte ihrer Führungskräfte verlieren (IBM, 2007, S. 24). Dazu kommen in vielen Unternehmen aufgrund von Wachstum neu geschaffene Führungspositionen, welche zusätzlich zu den frei gewordenen Stellen besetzt werden müssen. Der Bedarf an „leadership talent“, d.h. an Nachwuchsführungskräften, sowie an generationenübergreifendem Wissenstransfer ist damit harte Realität (Fulmer & Bleak, 2008, S. 85). Diese Aufgabe ist auch deshalb so schwierig, weil die nachfolgende „Generation X“ vor allem in den USA und Europa nicht annähernd so groß ist wie die Baby Boomer Generation2. Der Blick richtet sich daher zunehmend auf die übernächste Generation, welche derzeit die Gruppe der „Young Professionals“ und Berufseinsteiger stellt: Generation Y. Der Wettbewerb um frische Köpfe aus dieser Generation wird dementsprechend in den kommenden Jahren noch weiter zunehmen. (Robert Half, 2009, S. 11). Die globale Wirtschaftskrise von 2009 tat diesem Trend dabei keinen Abbruch: Der Talente-Krieg fand in ihr nicht sein Ende, sondern ging bereits 2010 in die nächste Runde (Hewlett et al., 2009, S. 71). Die Themen Anwerben, Rekrutieren und Binden von Talenten sowie eng damit verbundene Themen wie „Employer Branding“ sind damit wieder – streng genommen, eigentlich nach wie vor – top-aktuell (The Boston Consulting Group, 2010, S. 10). So lässt sich auch die weiter steigende Zahl an Recruiting-Events, wie im obigen Abschnitt beschrieben, erklären.

Obgleich der Rückgang der Erwerbsbevölkerung und die damit in Zusammenhang stehenden Herausforderungen zunehmend auch Entscheidungen auf politischer Ebene fordern – zum Beispiel bei den Einwanderungsbestimmungen und der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen – heißt das nicht, dass Firmen in der Zwischenzeit tatenlos zusehen müssen. Im Gegenteil: „[…] companies have to seize control of their own fate when it comes to securing the best workforce today and for the future. […] Managing talent – identifying, attracting, and retaining talent – continues to be the most important future HR topic.“ (The Boston Consulting Group, 2010, S. 4).

Während Firmen noch auf der Suche nach Antworten für den Generationenwandel hin zu Generation Y sind, steht mit Generation Z bereits in wenigen Jahren die nächste große Herausforderung für die Personalabteilungen vor der Tür. Die nach 1993 Geborenen verkörpern die erste Generation, welche sich eine Welt ohne Internet und Mobiltelefonen, ohne Facebook und Google, ohne mobilem Internet und Twitter kaum mehr vorstellen können. Die mit diesem Wechsel einhergehenden Veränderungen in puncto Arbeitsweise, Kompetenzen und Prioritäten, bieten eine hervorragende Möglichkeit, eine Organisation zu modernisieren. Stattdessen konzentriert sich die Mehrzahl der Firmen bislang jedoch eher darauf, die auf den Arbeitsmarkt drängende Generation den eigenen Werten anzupassen, etablierte mentale Muster einzutrichtern und in der Verhaltenslogik von gestern zu schulen, welche bitte nicht hinterfragt werden soll. Was mit Generation Y nicht zuletzt noch wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 und dem Glauben an den optimierten Lebenslauf als goldenes Ticket zum Karriereglück funktionieren mag, wird spätestens mit Generation Z nicht mehr ohne Weiteres laufen.

Je früher Firmen das wahre Potential erkennen, welches in diesem Generationenwandel liegt, desto größer ihre Chance, echte Talente für sich zu begeistern, welche sich in einer ansprechenden Lernumgebung zu Stars entwickeln können.

Wertewandel: „Purpose“ geht über Profit

Der demographische Wandel und die mit ihm verbundenen Herausforderungen für Unternehmen ist Teil der Antwort auf die Frage, warum Unternehmen Talentmanagement betreiben sollten. Mit dem Eintritt von Generation Y in den Arbeitsmarkt findet darüber hinaus eine weitere Entwicklung statt, welche vor allem für die Frage: „Was muss Talentmanagement leisten?“ relevant ist.

Gemeint ist die Beobachtung, dass für Generation Y andere Kriterien für die Wahl eines Arbeitsplatzes und Arbeitgebers herangezogen werden als noch für Generation X oder gar die Baby Boomer Generation. Professor Christian Scholz schrieb 2003, dass „Babyboomer, Generation X und Generation Y […] weder in ihrer Lebenseinstellung von vornherein positiv oder negativ zu bewerten [sind], noch sind sie auf bestimmte Altersgruppen zu beschränken. […] Was uns allerdings weiterhilft, ist die Tatsache, dass den drei Wertesystemen jeweils spezifische Entwürfe für die Lebensgestaltung zugrunde liegen“ (Scholz, 2003, S. 139f).

Insbesondere für die besten Hochschulabsolventen der Generation Y, sogenannte „High-Potentials“, sind heute bei der Suche nach dem Traumberuf andere Dinge entscheidend als noch für ihre Eltern. Sei es bei den zugrunde liegenden Werten oder bei deren Priorisierung – fest steht, dass Generation Y sich von den anderen Generationen unterscheidet.

Mitte 2009 erschien ein vielbeachteter Artikel von Hewlett et al., welcher die Ergebnisse von zwei Studien3, über 30 Fokusgruppen sowie 40 qualitativen Interviews zusammenfasst. Die Ergebnisse bieten einen Zugang zu den Karriereambitionen und -erwartungen von Absolventen der Generation Y in den USA. Eine der Beobachtungen war dabei, dass Generation Y und die Baby Boomer Generation sich bei ihrer Wertebasis anscheinend verblüffend ähnlich sind (Hewlett et al., 2009, S. 73). Mit dem Unterschied jedoch, dass Generation Y sich heute bereits bei der Suche nach einem Arbeitsplatz viel stärker von ihren Überzeugungen leiten lässt als noch ihre Eltern4.

Generation Y legt zum Beispiel besonderen Wert auf die Möglichkeit, im Laufe einer Karriere vielfältige Erfahrungen machen zu können, Nachhaltigkeit, Umweltfreundlichkeit und Gemeinnutzen als Kerninteressen des eigenen Arbeitgebers, flexible Arbeitsbedingungen, eine gute Work/Life-Balance5 sowie die Möglichkeit in vielfältigen, multikulturellen Teams zu arbeiten (Hewlett et al., 2009, S. 73f). Besonders auffallend ist dabei, dass Gehalt anscheinend nicht (mehr) das ausschlaggebende Kriterium dafür ist, sich für oder gegen einen Job zu entscheiden: „Finally, Gen Ys and Boomers share a sense that financial gain is not the right reason to join or stick with an employer“ (Hewlett et al., 2009, S. 74).

In den Studien von Hewlett et al. zeigte sich, dass die Arbeit in einem hervorragendem Team, herausfordernde Aufgaben, viele neue Erfahrungen sowie explizite Leistungsevaluation und -anerkennung sowohl Baby Boomern als auch Generation Y mindestens genauso wichtig sind wie ein angemes-senes Gehalt (Hewlettetal.,2009,S.74). Ähnliche Ergebnisse finden sich in nahezu jeder anderen Veröffentlichung, die sich mit den Anforderungen an Talentmanagement durch den Generationenwandel beschäftigt: Für Generation Y sei Arbeit und Karriere mehr als bloßes Geldverdienen. Stattdessen wollen die Nachwuchskräfte aus Generation Y auch im Berufsleben zu einer Gemeinschaft gehören, die einen echten Mehrwert für die Gesellschaft schafft. Kurzum: Sie wollen ihre Talente entfalten und sich für eine Sache einsetzen, von deren Sinn sie überzeugt sind6.

Interessant ist ferner, dass nicht nur die High-Potentials von Generation Y selbst diese Präferenzen artikulieren, sondern auch Manager und HR-Verantwortliche sich dessen durchaus bewusst sind (Chambers et al., 1998, S. 50f; HayGroup, 2010, S. 10ff). In den kommenden Jahren werden vor allem die Unternehmen erfolgreich sein, welche diesen Wandel in Werten und Prioritäten bei ihren Mitarbeitern wahrnehmen und Mittel und Wege finden, die Arbeit bei ihnen dementsprechend bedeutungsvoll und erstrebenswert zu gestalten (Hewlett et al., 2009, S. 76).

Aber bitte nicht falsch verstehen – es soll nicht der Eindruck entstehen, dass die Arbeitnehmer von morgen, d.h. Generation Y und Z, nur noch von altruistischen Motiven geleitet werden würden und eine kollektive „Weltverbesserer-Mentalität“ an den Tag legten. Im Gegenteil: Dies ist sicher die vorherrschende Mentalität bei der großen Masse der erwerbstätigen Bevölkerung.

Warum dies so ist, erklärt Professor Lutz von Rosenstiel vor allem damit, dass die vorhanden Strukturen des ‚Business‘ eben ein Biotop darstellen, an welches der ehrgeizige und ausschließlich erfolgsorientierte Karrierist besser angepasst ist als der Werte-geleitete Querdenker: „Ein wirtschaftswissenschaftliches Studium ist vor allem für diesen Menschentypus interessant. Wir nennen das den Selektionseffekt. Hinzu kommt aber der sogenannte Sozialisationseffekt: Wenn die Studierenden gelehrt bekommen, dass der Markt alles regelt, legitimiert das ihre Karriereambitionen und verstärkt ihre Verhaltensmuster“ (Spiegel-online, 2011a). Interessant ist jedoch vor allem, wohin der Trend in den nächsten Jahren geht und welche Einstellung sich bei den Besten der Besten, den High-Potentials, findet. Hier sprechen die Studien für eine Entwicklung weg von „Profit“ und hin zu „Purpose“. Insbesondere für Generation Y spricht Professor Christian Scholz von der Suche nach „eine[r] solide[n] Ich-Aktien-Mischung aus Karriere-Aktien und Sinn-Aktien!“ (Scholz, 2003, S. 150). Neben der Pflege und dem Ausbau des eigenen Kompetenz-Portfolios, d.h. der Employability im Sinne der eigenen Karriere, geht es auch um die Ausrichtung der eigenen Aktivitäten entsprechend des individuellen Wertesystems. Im Vordergrund steht hier die Frage, „ob die Tätigkeit zumindest für den Einzelnen sinnstiftend ist. Genau dies ist die Grundüberlegung der Generation Y, die mit ihren Aktivitäten vor allen Dingen sich selbst in einer ansprechenden Form weiterbringen möchte“ (Scholz, 2003, S. 150). Während also bei einer „Karriere-Aktie“ die materielle Komponente im Vordergrund steht, dreht sich bei den Sinn-Aktien alles um die individuelle Sinnschaffung und konstruktivistische Aktivität des Individuums. Sie ist das moderne Pendant zum Selbstverwirklichungskonzept und gewinnt mit Generation Y weitreichende Bedeutung für die Karriereplanung – insbesondere bei High-Potentials.

Chambers et al. nahmen 1998 eine Einteilung der Führungskräfte in Talent-Pools in vier Typen vor: “Go with a winner”, “Big risk, big reward”, “Save the world” und “Lifestyle”. Obgleich sich diese vier Typen darin unterscheiden, was sie von einem Arbeitgeber erwarten, beschäftigt sich jeder Typ ausführlich mit der Kultur, den Werten und dem Freiraum für Autonomie in ihrer Firma (Chambers et al., 1998, S. 51). Die in den vergangenen zwölf Jahren publizierten Forschungsergebnisse stützen diese These und legen ferner nahe, dass die Bedeutung von Werten und Kultur weiter zugenommen hat. Aus diesen Gründen wird die Herausforderung für Unternehmen in den kommenden Jahren vor allem darin bestehen, die eigene Unternehmenskultur und die darin zum Ausdruck kommenden Werte zu entwickeln oder vielmehr zu entdecken und sie entsprechend zu leben. Eine Aufgabe, die für viele Unternehmen leider bereits mit der Beauftragung eines professionellen Werbetexters und dem Füllen des Menüpunktes „Unsere Werte“ auf der Unternehmens-Website abgeschlossen zu sein scheint. Es gibt jedoch auch positive Beispiele wie den deutschen Computerspieleentwickler Crytek, die Britische Bistro-Kette Pret a Manger oder das US-Softwareunternehmen SAS Institute. Ausführlichere Beispiele finden sich in Kapitel sechs.