Impressum:

© 2016 Veronika Lackerbauer, Oberahrain

© „Tödliche Begierden“: Veronika und Martin Lackerbauer, erstmals erschienen in „Mörderische Begierden“, Schweitzerhaus Verlag, 2012

© „Kriminalistischer Nachmittag“: Veronika Lackerbauer, erstmals erschienen in „Unglaubliche Begegnungen, Band II“, Schweitzerhaus Verlag, 2008

Mit freundlicher Genehmigung von Karin Schweitzer

1. Auflage

ISBN: 978-3-7412-1583-4

Covergestaltung: Grit Richter

Fotographie: Johanna Mühlbauerl| fotolia.de

Lektorat & Korrektorat: Jacqueline Mayerhofer, Melanie Vogltanz

Satz: Ingrid Pointecker

Druck: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors/Verlegers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Besuche die Webseite der Autorin:

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Für die beste der Familie Welt

Vorwort

Erst einmal vielen Dank dafür, dass – darf ich du sagen? – du mein Buch jetzt in der Hand hältst. Es gibt eine Unmenge von Büchern, guten Büchern, die man leider gar nicht alle lesen kann. Ich weiß das. Denn ich bin nicht nur Autorin, sondern auch begeisterte Leserin. Also, dass es aus dem Riesenangebot an Literatur ausgerechnet mein Buch geworden ist, dass du dir näher ansiehst, vielleicht sogar mit nach Hause nimmst und dem du deine Zeit schenkst, macht mich sehr stolz!

Vorausschicken möchte ich hier noch ein paar Zeilen dazu, weshalb ich die Geschichten, die in diesem Band zusammengefasst sind, geschrieben habe und warum es dieses Buch jetzt in dieser Form überhaupt gibt:

Bayern ist meine Heimat. Bayern ist groß und bunt, es ist modern und es ist mehr als Lederhose und Alpenglühen. Aber die Tradition spielt eine große Rolle. Die Kombination aus Leberkäs (traditionelles bayrisches Gericht) und dem Modegetränk Hugo symbolisiert diese Ambivalenz für mich.

Zwei meiner Geschichten wurden bereits früher einmal veröffentlicht: Kriminalistischer Nachmittag und Tödliche Begierden sind mit der freundlichen Genehmigung von Karin Schweitzer zum zweiten Mal erschienen, weil sie mir immer noch wichtig sind und ich finde, dass sie gut in diese Sammlung passen.

Hugo & Leberkäs ist das Herzstück dieses Bandes, dabei geht es mir weniger um den Mordfall an sich, als darum, wie sich die Beteiligten entwickelt haben und was letztlich dazu führte, dass sie zu Mördern – oder Opfern – oder gar beidem wurden. In Sturm im Wasserglas behandle ich ein sehr aktuelles Thema, das mir ungemein am Herzen liegt. Diese Geschichte habe ich speziell für diese Anthologie geschrieben. Was da gerade in unserem Land und anderswo passiert, beunruhigt, verstört und bewegt uns wohl alle. Niemand weiß, was noch alles kommen wird und wie das alles ausgeht. Aber egal, was die Zukunft bringt und wo wir in einem Jahr, oder in zehn

stehen mögen, eines weiß ich ganz bestimmt: Hass und Gewalt sind keine Lösung. Und Menschen in Not muss geholfen werden! Nächstenliebe ist alternativlos, denn sonst ist unsere Existenz sinnlos. Alle Religionen der Welt sind auf die Frage ausgerichtet, was uns im Leben nach diesem erwartet, aber ich bin davon überzeugt, es erwartet uns überhaupt nichts, rein gar nichts, wenn wir es nicht schaffen, dieses Leben auf dieser Welt so zu gestalten, dass alle Menschen überall auf der Welt in Ruhe und Frieden und mit denselben Rechten und gleicher Freiheiten ausgestattet leben können.

Aus diesem Grund geht ein Anteil des Erlöses aus dem Verkauf dieses Buches an eine Hilfsorganisation, die versucht, das Leid der Schwächsten zu lindern: Nämlich das der Kinder. Weil das zum Teil unangenehme Themen sind, weil sich mancher Abgrund auftut und vielleicht die eine oder andere Geschichte zum Nachdenken anregt, endet die Sammlung mit Rendezvous mit Mord. Diese Geschichte will ausdrücklich nicht ernstgenommen werden. Sie will unterhalten, sie will dir ein Lachen oder wenigstens ein Grinsen entlocken und sie soll dir ein gutes Gefühl geben, wenn du dieses Buch zur Seite legst, um dich einer anderen spannenden Lektüre zu widmen.

Vielleicht wieder aus meiner Feder.

Würde mich freuen.

Und jetzt: Viel Spaß!

Eure

Inhalt

Hugo & Leberkäs

Prolog

„Herr Kommissar, bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Ich dachte nur, Sie sollten das wissen. Ich hatte Besuch von meiner Schwester. Sie wirkte … sehr aufgebracht. Und jetzt, wo sie fort ist, ist mir aufgefallen, dass die Sportpistole meines Mannes nicht mehr da ist …“ Marion stockte.

Kommissar Veitl horchte auf. „Wollen Sie damit sagen, dass sie versucht sich etwas anzutun?“

Marion wartete einen Moment, ehe sie antwortete. „Herr Kommissar, ich weiß es nicht. Vielleicht hat mein Mann auch die Pistole wo anders hingetan. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich kann ihn nicht fragen, wie Sie wissen.“

Marions Stimme klang bissig, trotzdem glaubte Veitl, ein Zittern darin zu hören. „Ich weiß, Frau Niedermaier. Geben Sie mir die Adresse Ihrer Schwester, ich schicke eine Streife vorbei.“

„Danke“, hauchte Marion, mühsam gegen die Tränen kämpfend. Dann gab sie dem Kommissar die Adresse. Erschöpft ließ Marion sich auf ihr Bett fallen. Sie fühlte sich unendlich müde. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie tagelang durchgemacht. Noch bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, war sie auch schon eingeschlafen.

11. November 2009

Kommissar Veitl war ein gestandenes, bayerisches Urgestein. Bereits seit fünfundzwanzig Jahren arbeitete er bei der Kriminalpolizei auf der Dienststelle in Garmisch. Mehr als sein halbes Leben. Inzwischen war er der stellvertretende Amtsleiter. Seine Kollegen schätzten ihn für seine untrüglichen Instinkte und für seine legere Art. Seinen Vorgesetzten überzeugten sein Engagement und sein Sinn für Ordnung. Ebenso lange, wie seine dienstliche Karriere dauerte, hielt seine Ehe mit Margarete. Sie kannten sich noch aus der Schule. Nach der Ausbildung hatten sie geheiratet, ein Haus gebaut, zwei Kinder bekommen. Veitl war stolz auf seine Familie und sein Leben.

Er hob den Telefonhörer wieder ans Ohr und wählte die Durchwahl der Polizeistation.

„Huber“, meldete sich der wachhabende Polizist.

„Veitl. Servus Klaus. Ich hab da was für euch. Eine Adresse in Oberau, bitte mal vorbeifahren. Anscheinend Selbstmordgefahr.“

„Is notiert", erklärte Huber.

„Noch was, Klaus. Solltest du wissen: Wir ermitteln da in einem Mordfall, und so wie es ausschaut, könnte diese Sache damit zu tun haben."

„Hmmm …“, machte Huber. „Glaubst du, es ist falscher Alarm?“

Veitl zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Schaut’s einfach mal hin.“

Nach dem Anruf sortierte Veitl die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Es war schon spät und eigentlich hatte er schon vor einer halben Stunde nach Hause gehen wollen, doch er hasste es, wenn auf seinem Schreibtisch Chaos herrschte, wenn er morgens ans Werk ging. Bei dem Mord, den er seit einiger Zeit untersuchte, kam er einfach nicht voran.

Diese Marion war die Ehefrau des Ermordeten, erst heute Nachmittag hatten sie ihren Mann zu Grabe getragen. Die beiden waren nicht einfach irgendein Paar gewesen. Wenn es so etwas überhaupt gab, dann waren sie Garmischs Glamour-Paar Nummer 1. Auf den ersten Blick hatten die beiden alles: ein tolles Haus, Geld, eine scheinbar perfekte Ehe. Scheinbar … Denn Veitl wusste, dass es nicht so war. Doktor Marcus Niedermaier hatte seine Frau betrogen. Schon eine ganze Weile lang und wohl auch nicht zum ersten Mal. Und eben jetzt, kurz vor seinem Tod, hatte er die Affäre offenbar beendet, um zu seiner Frau zurückzukehren. Allerdings erwartete seine Geliebte ein Kind. War das ein Mordmotiv? Und die Geliebte? Verlassen, mit dem Kind im Leib. Ein Grund, jemanden umzubringen?

Irgendwie passt das alles nicht, dachte Veitl, während er die einzelnen Seiten abheftete. Beide Frauen hatten weiß Gott Motiv genug für einen Mord. Aber an der jeweils anderen. Vielleicht kam der Mörder auch aus einer ganz anderen Ecke. Menschen wie Dr. Niedermaier hatten immer Neider. Veitl beschloss, sich am nächsten Tag erst noch einmal das berufliche Umfeld von Marcus Niedermaier genauer anzusehen.

Wenig später saß Veitl am Küchentisch. Seine Frau Margarete servierte das Abendessen. Veitl verzog das Gesicht, als die Salatschüssel in sein Blickfeld kam. Seine Frau hielt sich strikt an das, was der Arzt ihm geraten hatte: weniger Fett, weniger tierisches Eiweiß, stattdessen Salat, Obst, Gemüse und vor allem mehr Bewegung. Veitl fand, er übertrieb maßlos. Er war doch gar nicht übergewichtig. Und krank war er schon gar nicht.

„Was ist das?“, brummte Veitl.

„Sojasprossen“, erklärte seine Frau voller Begeisterung.

„Sojawas?“

„...sprossen.“

„Mit Soja füttert man Schweine, keine Menschen!“, knurrte Veitl und stocherte skeptisch mit seiner Gabel in der Salatschüssel herum. „Schlimm genug, dass ich mich von Gurkerln, Tomaten und Salat ernähren soll, wie ein Karnickel. Musst du mir auch noch dauernd dieses neumodische Zeug vorsetzen?“

Margarete machte ein beleidigtes Gesicht. „Du weißt genau, was der Doktor gesagt hat. Willst du frühzeitig an einem Herzinfarkt sterben? Oder an Herzverfettung?“

Veitl sah an sich herunter. „Also hör mal! Ich finde, ihr übertreibt's, du und dein Doktor. Was ist das für ein Leben, wenn ein gestandenes Mannsbild nicht mal mehr ein ordentliches Stück Fleisch essen darf? Vielleicht will ich so gar nicht alt werden?“

Margarete ignorierte seine Proteste und schaufelte ihm ordentlich Salat auf den Teller. Veitl griff in den Brotkorb, zog die Hand aber sofort wieder zurück, als hätte ein giftiges Tier ihn gebissen. „Du weißt doch, dass ich’s nicht mag, wenn im Brot so grobe Körndeln sind.“

„Vollkorn ist gesund“, erwiderte Margarete nur lapidar, griff sich selbst ein Stück und begann zu essen.

Veitl seufzte. Er lud sich die Gabel voll Salat, achtete dabei aber darauf, ja keines dieser schlabbrigen Sprossendinger zu erwischen. Mit Todesverachtung biss er in das Vollkornbrot.

„Gibt’s da gar nix dazu?“

Margarete sah ihn über eine Gabel Salat hinweg an. „Was?“

„Zu dem Brot. Gibt’s da gar nix dazu?“

„Doch. An Salat.“ Margarete spießte sich eine Gurke und eine Tomate auf die Gabel, angelte noch eine ordentliche Portion Sprossen obenauf und schob sich das Ganze demonstrativ in den Mund.

„Gretel … nur a bissl an Butter. Oder a Stückerl Käs. Nur ein klitzekleines“, schmeichelte Veitl. Diese Frau konnte doch nicht so herzlos sein!

„Ich habe den ganzen Tag gearbeitet!“, schob er mitleidheischend hinterher.

„Ja, am Schreibtisch“, ergänzte Margarete unbarmherzig. „Der Doktor sagt, bewegen tust dich auch zu wenig!"

In dem Moment klingelte das Telefon.

„Willst du nicht rangehen?“, fragte Veitl hoffnungsvoll.

„Damit du in der Zwischenzeit den Kühlschrank plündern kannst? Ist doch sowieso für dich.“

Veitl erhob sich notgedrungen. Es war wirklich für ihn. Huber war dran.

„Tut mir Leid, Flori, dass ich dich noch stören muss. Esst's ihr grad?“

Veitl winkte ab. „I wo. Was ist?“

„Also dein Tipp mit dem Selbstmord …“

„Falscher Alarm, was?“

„Ähhh … nein. Ich glaube, du solltest dir das ansehen.“

Veitl war mit einem Schlag putzmunter.

„Is die wirklich tot?“

„Maustot.“

„Selbstmord?“

„Sieht ganz danach aus.“

„Ich komme sofort.“ Veitl riss seinen Mantel vom Haken. „Ich muss noch mal weg“, rief er seiner Frau zu, die verdattert von ihrem Salat zu ihm aufsah.

„Aber …“

„Erklär ich dir später", rief Veitl und schon war er zur Tür hinaus.

Eine Viertelstunde später hielt Veitl vor dem Wohnblock, dessen Adresse Marion Niedermaier ihm genannt hatte. Vor dem Haus stand das Polizeiauto, das Blaulicht lief noch. In der Hofeinfahrt daneben parkte der Krankenwagen. Ein Sanitäter lehnte an der offenen Tür und rauchte eine Zigarette. Die Anwesenheit von Polizei und Notarzt lockte Schaulustige aus ihren Häusern. Sie standen in Grüppchen herum und glotzten.

Veitl bahnte sich einen Weg zur Haustür. Im Treppenhaus kamen ihm zwei weitere Sanitäter mit einer Bahre entgegen. Sie war leer und die beiden jungen Männer trugen sie lässig unterm Arm. Als sie den Kommissar kommen sahen, setzten sie eine etwas geschäftsmäßigere Miene auf.

„Nichts mehr zu machen“, murmelte der eine. Veitl grüßte und drückte sich an den beiden vorbei die Treppe hinauf.

Die Wohnungstür im zweiten Stock stand offen. Auf dem Treppenabsatz standen die Nachbarn. Veitl hielt sich nicht mit ihnen auf, sondern betrat die Wohnung. Im Wohnzimmer traf er auf den Notarzt und Huber. Der Notarzt verabschiedete sich eben: „Hier ist für uns nichts mehr zu tun. Wir schicken besser den Bestatter her.“

Huber schüttelte den Kopf. „Das machen wir schon, besser es laufen jetzt nicht noch mehr Leute hier rum. Zuerst wird sich die Spurensicherung das ansehen müssen.“

Der Arzt zuckte die Schultern. „War doch a Selbstmord.“ Huber sah Veitl an, der gerade durch die Tür trat. Der Arzt drehte sich zu ihm um.

„Ah, Kommissar Veitl. Ist das hier Ihre Baustelle?“

Veitl und der Arzt kannten sich flüchtig von verschiedenen Tatorten, daher nickten sie sich grüßend zu.

„Keine Ahnung. Könnte sein. Was ist die Todesursache?“

Veitls Blick wanderte an den beiden vorbei, routiniert nahm er jedes Detail auf. Die Tote lag auf der Couch. Ihr Kopf war zur Seite geneigt. Von seinem Standort aus konnte Veitl nur den Hinterkopf und einen blonden Haarschopf oberhalb der Lehne sehen.

„Ich nehme an, das Loch in ihrem Kopf dürfte die Ursache gewesen sein", sagte der Arzt spöttisch.

Veitl trat einen Schritt näher und beugte sich über die Lehne. Jetzt sah er es auch. An der Schläfe klaffte ein rundes Einschussloch, die Augen der Toten waren zur Decke gewandt. Die Couch verunzierten dunkle Blutspritzer und andere menschliche Bestandteile, von denen Veitl gar nicht erst im Detail wissen wollte, worum genau es sich handelte. Er wandte sich ab.

„Wieso tut ein Mensch sowas?“

Dann durchfuhr es ihn plötzlich. Abrupt drehte er sich wieder der Leiche zu. Er umrundete die Couch, um sie besser sehen zu können. Kein Zweifel, jetzt, da er direkt vor ihr stand.

„Ach du Scheiße …“, entfuhr es ihm.

Der Arzt nickte. „Schrecklich, nicht wahr? Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, dass er sich das Leben nimmt, wo er dabei ist, neues Leben zu schenken?“

Veitl verdrehte innerlich die Augen. An dem Arzt war ein Philosoph verlorengegangen. Dem Kommissar waren die Schattenseiten des menschlichen Seins nicht neu, in fünfundzwanzig Jahren hatte er in manchen Abgrund geschaut und viele Dinge gesehen, die sich seinem Verständnis entzogen. Da war der Selbstmord einer werdenden Mutter noch nicht das Maximum.

Was ihn viel mehr schockierte, war die Tatsache, dass er diese Frau kannte; beziehungsweise gekannt hatte.

„Und die Frau Niedermaier ist ihre Schwester?“

Huber sah etwas irritiert aus. „Die Verwandten haben wir noch nicht verständigt.“

„Nein, Marion Niedermaier hat mich angerufen, dass ihre Schwester sich etwas antun könnte. Aber da war mir noch nicht klar, dass das die ist!“

Huber sah aus wie ein einziges Fragezeichen. Auch der philosophisch veranlagte Notarzt wirkte verwirrt.

„Schon gut. Passt schon. Nur laut gedacht. Kommt die Spusi?“, schlug Veitl wieder einen betont geschäftlichen Ton an.

„Spusi?“, echote der Arzt.

„Spu-ren-sich-er-ung“, deutschte Huber ihm aus. „Spu-si, so wie Sta-si“, fügte er noch erklärend hinzu.

Veitls Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er den Scherz für überflüssig hielt. „Ja, meine Herren. Dann kann ich ja wieder, nicht?“ Der Arzt klappte seinen Koffer zu und ging hinaus.

„Wiederschaun.“

„Soll ich inzwischen der Schwester Bescheid sagen?“, fragte Huber. „Nein, das mach ich selbst. Das würde mich jetzt doch interessieren, wie die Gute reagiert", wiegelte Veitl ab.

Huber sah Veitl verständnislos an. „Wie soll sie wohl reagieren? Ihre Schwester hat sich umgebracht!“

Veitl winkte ab. „Huber, du hast das hier im Griff, oder?“

„Ja klar, aber…“

„Bevor wir nix Genaueres wissen, wird hier das volle Programm aufgefahren, verstanden? Obduktion, Gerichtsmedizin, Hausdurchsuchung, et cetera pp.“

Huber nickte. „Jawohl, wie du meinst.“

Veitl setzte sich in seinen Wagen und fuhr zum Haus der Niedermaiers. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Erst am Nachmittag war er dort gewesen, nach der Beerdigung. Da hatte er Marion Niedermaier damit konfrontiert, dass sie im Falle ihres verstorbenen Mannes wegen Mordes ermittelten. Ihm war sie von Anfang an suspekt vorgekommen. Aber in dem kurzen Verhör hatte sie sich nicht auffällig verhalten. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Jetzt allerdings wurde ihm gerade einiges klar.

Der feine Herr Doktor fuhr zweigleisig. Auf der einen Seite der Halbgott in Weiß, junger aufstrebender Neurochirurg, preisgekrönte Doktorarbeit, aussichtsreiche Karriere, Villa in Partenkirchen. Auf der anderen Seite betrog er seine Frau regelmäßig, unter anderem auch mit deren Schwester. Wie geschmacklos.

Als Veitl durch die Straßen von Garmisch zur Villa der Niedermaiers fuhr, passierte er einen Imbisswagen. Grillhähnchen drehten nachlässig ihre Runden auf dem Grill, in der Ecke steckte ein Spieß von diesem türkischen Pressfleisch und auf dem Rost brutzelten Schweinswürstel. Veitls Magen gab einen beängstigenden Laut von sich. Bevor er richtig wusste, was er hier eigentlich tat, war er rechts rangefahren und hatte den Gurt gelöst. Er griff sich sein Portemonnaie und überquerte die Straße. Das schlechte Gewissen war nicht zu verleugnen, aber der Hunger nach einem langen Arbeitstag überwog. Er bestellte eine Portion Schweinswürstel mit Kraut. Hungrig stopfte er die fettigen Dinger in sich hinein.

Das flüssige Fett troff ihm vom Mundwinkel auf das Hemd. Na toll. Jetzt konnte er seine kleine Sünde nicht einmal vor Margarete verheimlichen. Der Krach war praktisch vorprogrammiert.

Er setzte seinen Weg fort und hielt wenige Minuten später im Ortsteil Partenkirchen vor der schicken Villa der Niedermaiers.

Über Geld spricht man nicht, Geld hat man, schoss es Veitl durch den Kopf.

Ganz zweifellos traf das auf die Niedermaiers zu. In der breiten, gepflasterten Einfahrt stand ein nagelneuer BMW. Der Garten machte nicht den Eindruck, als hätte der Herr Doktor dort selbst Hand angelegt. Sicher kümmerte sich eine örtliche Gärtnerei um diese botanische Pracht. Die Hortensien wucherten so hoch und dicht, dass sie den neugierigen Blick vom Gehsteig zum Haus zuverlässig verdeckten.

Veitl sah an der Fassade hoch. Inzwischen war es fast dunkel. Die Straßenlaternen brannten schon. Im Hause Niedermaier aber war kein Licht zu sehen. War die trauernde Witwe noch ausgegangen? Holte sie sich vielleicht Trost bei einer Freundin? Möglicherweise ertrug sie es ja auch nicht, jetzt in dem Haus zu sein, das sie mit ihrem verstorbenen Mann bewohnt hatte. Alles denkbare und nachvollziehbare Begründungen.

Veitl klingelte trotzdem.

Marion schreckte aus dem Schlaf hoch. Hatte es geklingelt? Schlaftrunken rieb sie sich die Augen. Dabei blieben Reste ihres Make-ups an ihren Händen. Wahrscheinlich sah sie jetzt aus wie ein Waschbär.

Es klingelte erneut. Jetzt war sie sich sicher, dass sie sich nicht geirrt hatte. Sie erhob sich benommen und schleppte sich die Treppe hinunter. Ihre Knochen lähmte eine bleierne Müdigkeit. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lange sie geschlafen hatte, aber draußen war es inzwischen finster. Sie knipste das Licht im Flur an und ging zur Tür, die sie nach einem Blick durch den Türspion öffnete. Draußen stand schon wieder dieser Kommissar. Veitl grüßte sie. Er kam ihr höflicher vor als am Nachmittag.

„Herr Kommissar, was kann ich denn schon wieder für Sie tun?“, fragte Marion und wusste, dass sie ein wenig respektslos klang.

„Frau Niedermaier, kann ich vielleicht hereinkommen? Ich würde das ungern hier im Hof besprechen.“

Marion zog eine Augenbraue hoch, trat aber zur Seite und ließ den Kripobeamten eintreten. Veitl fand, dass sie schlecht aussah. Zur Trauer um ihren Mann kam jetzt auch noch die Sorge um ihre Schwester. Und er hatte die undankbare Aufgabe, ihr zu sagen, dass diese Sorge berechtigt gewesen war, aber zu spät kam. Diese Art von Gesprächen gehörte zu Veitls Alltag, trotzdem fand er es immer wieder schwierig, den richtigen Ton zu treffen.

Marion führte ihn ins Wohnzimmer, in dem sie auch schon am Nachmittag gesessen hatten.

„Nun?“, fragte Marion.

„Frau Niedermaier, wir haben die Wohnung Ihrer Schwester überprüft.“

Jetzt horchte Marion auf. „Ja, und?“

„Es tut mir sehr leid, aber Ihre Besorgnis war berechtigt. Ihre Schwester hat sich heute Nachmittag das Leben genommen.“

Marion sog hörbar die Luft ein. „Sind Sie sicher, dass es Selbstmord war?“, fragte sie.

„Noch nicht. Wir untersuchen das noch. Aber es sieht danach aus.“

Marion erhob sich abrupt und begann, im Wohnzimmer auf und ab zu laufen.

„Wie konnte es nur so weit kommen?“, fragte sie mehr sich selbst als den Kommissar.

Veitl räusperte sich. „Frau Niedermaier, Sie haben uns verschwiegen, dass die Geliebte Ihres Mannes Ihre Schwester war.“

Marion blieb stehen und sah ihn direkt an. „Was meinen Sie wohl? Glauben Sie, das war sehr angenehm für mich? Ich hatte nie ein besonders inniges Verhältnis zu meiner Schwester, aber dass sie mir den Mann ausspannt, damit hatte ich nicht gerechnet!“

Veitl nickte. „Aber Sie wussten schon länger davon, nicht wahr?“

„Ja, verdammt. Ich wusste es. Ich wusste, dass meine Schwester meinen Mann fickt! Und damit nicht genug, er hat ihr auch noch einen Braten in die Röhre geschoben! Wussten Sie, dass er mit mir keine Kinder wollte? Er wollte erst Karriere machen. Ich durfte keine Kinder bekommen, aber sie, sie hat das Kind in sich getragen, das ich hätte haben wollen!“ Marions Stimme war schrill.

Plötzlich brach alles aus ihr heraus, sie schluchzte und weinte hemmungslos. „Ich habe meinen Mann verloren. An meine Schwester! Und obwohl er wieder zu mir zurückgekommen war, hätte dieses Kind auf ewig zwischen uns gestanden. Und jetzt? Jetzt liegt er draußen auf dem Friedhof und sie hat sich einfach aus dem Leben gestohlen. So ist sie immer schon gewesen, hat sich immer verdrückt, wenn es unangenehm wurde.“

Veitl wusste nicht, was er sagen sollte. Marion sank wimmernd auf einem Stuhl zusammen. Mit hysterischen, weinenden Frauen konnte Veitl nicht gut umgehen. Obwohl ihm durchaus klar war, dass Frau Niedermaier einiges durchgemacht hatte, war ihm ihr Ausbruch unangenehm. Auch ein Grund, weshalb Ehebruch für ihn noch nie eine Option gewesen war.

Gerade als er überlegte, was er jetzt sagen oder tun konnte, klingelte sein Diensthandy. „Entschuldigen Sie bitte“, murmelte er, aber Marion nahm ihn ohnehin nicht wahr.

Er nahm das Gespräch an. Schon wieder war es Huber.

„Flori, stör ich?“, fragte er.

„Nein, passt schon. Was gibt’s?“

„Wir haben einen Abschiedsbrief gefunden. Demnach ist die Selbstmörderin auch die Mörderin, die ihr sucht.“

Jetzt horchte Veitl auf. „Was? Im Ernst?“

„Ja, willst du den Brief gleich heute noch haben?“

„Nein, bring ihn aufs Revier. Ich mach hier jetzt Schluss.“

Die beiden Beamten verabschiedeten sich voneinander.

„Frau Niedermaier, kann ich Sie allein lassen?“, fragte Veitl. Er wollte unbedingt weg, versuchte es aber nicht allzu offensichtlich zu machen. Marion sah ihn aus tränenverschleierten Augen an.

„Hören Sie mich?“

Sie nickte langsam. Veitl verabschiedete sich schleunigst.

Draußen vor der Tür haderte Veitl eine Weile mit sich, ob es unangenehmer war, jetzt noch einmal aufs Revier zu fahren, oder nach Hause, wo seine Frau sicher vor sich hin granteln würde. Und dann auch noch der Fleck auf dem Hemd, den, das stand außer Frage, Margarete problemlos als das enttarnen würde, was er war. Denn darin stand sie ihrem Kriminaler-Ehemann in nichts nach: Sie hatte eine unglaubliche Spürnase. Gerade bei Dingen, bei denen Veitl sich sicher war, sie tausendprozentig vertuscht zu haben.

Also fiel die Wahl doch aufs Revier. Und der geheimnisvolle Abschiedsbrief interessierte ihn jetzt doch mehr als eine nervenraubende Diskussion daheim.

Als Veitl bei der Polizeistation in Garmisch ankam, wo auch die Kripo untergebracht war, stand das Polizeiauto auch schon wieder davor, mit dem Huber unterwegs gewesen war. Veitl betrat die Dienststelle und fand prompt den Kollegen am Schreibtisch sitzend.

„Na, Klaus, seid ihr schon fertig?“

Klaus Huber sah von seinen Unterlagen auf. „Ach, du bist'as. Mit dir hätte ich heute nicht mehr gerechnet. Ich hab dir den Brief gleich rüber bringen lassen. Liegt schon auf deinem Schreibtisch.“

Veitl nickte anerkennend. „Habt ihr irgendwas zum Vergleichen gefunden? Ist es scho die Handschrift von dieser Sandra Prüller?“

Huber nickte seinerseits. „Ja, da lagen noch einige Notizen herum. Soweit wir das beurteilen können, ist es dieselbe Schrift. Aber ich kann natürlich auch ein grafologisches Gutachten …“

„Ich denke, das wird erst mal nicht nötig sein“, unterbrach Veitl ihn und winkte ab. „Kommt euch irgendwas an dem Ganzen spanisch vor? Was hat die Spusi gesagt?“

„Wieso? Glaubst du nicht, dass sie die Mörderin ist, die ihr sucht?“

Veitl wiegte den Kopf hin und her. „Doch. Kann natürlich sein. Sie war die Geliebte von unserem Mordopfer.“

Huber machte ein triumphierendes Gesicht. „Eifersucht! Ich bin ja kein Kriminaler, aber ist das nicht eines der klassischen Mordmotive? Neben … Moment … Neid, Habgier und Rache?“

„Du hast religiösen Fanatismus vergessen“, ergänzte Veitl. „Aber ich denke, den können wir hier ausschließen. Ich geh mir mal den Brief anschauen.“

Veitl nickte Huber zu. Der machte eine winkende Handbewegung, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Oben in seinem eigenen Büro fand Veitl den Brief wie versprochen mitten auf seinem Schreibtisch. Er nahm das Blatt und hielt es mit ausgestrecktem Arm von sich. Margarete würde jetzt wieder sagen, dass er endlich seine Eitelkeiten überwinden und sich beim Optiker eine Lesebrille machen lassen sollte. Dabei konnte er die Buchstaben so doch noch gut erkennen.

Der Brief war in einer femininen, sauberen Handschrift geschrieben. Er schien ein bisschen flüchtig verfasst worden zu sein, die Buchstaben waren alle etwas nach rechts geneigt. Veitl las halblaut vor:

Garmisch, den 11. November 2009.

Das Leben hat keinen Sinn mehr. Ich habe das Liebste verloren, das ich in diesem Leben hatte. Marcus Niedermaier war der Vater meines ungeborenen Kindes und ich seine Geliebte. Ich habe die Ehe meiner Schwester zerstört, weil ich Marcus ganz für mich haben wollte. Und am Ende ist er doch zu ihr zurückgekehrt, trotz des Kindes. Da habe ich ihn umgebracht. Ich habe ihm das Gift untergemischt. Ich dachte, wenn ich ihn nicht haben kann, soll ihn niemand haben. Und jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Ich kann mit dieser Schuld nicht leben.

S.P.

Veitl ließ den Briefbogen sinken. Vom Mann betrogen, von der Schwester hintergangen und jetzt Witwe und ganz allein auf der Welt. Diese Marion war wirklich nicht zu beneiden. Aber immerhin war damit sein Mordfall aufgeklärt. Veitl legte den Brief zu den anderen Unterlagen des Falls. Morgen, wenn die Ergebnisse der Spurensicherung und die der Obduktion vorlagen, konnte er die Akte schließen. Tragischer Fall.

Frühjahr 2008

Marion Niedermaier verdrehte die Augen. Sie würde nie verstehen, wieso Marcus sie in diese Trachtenkleididylle verschleppt hatte. Als erfolgreicher Neurochirurg lag ihm die Welt doch zu Füßen, überall. In München, zum Beispiel. Oder wenn es schon das oberbayerische Umland sein musste, dann wenigstens Starnberg. Aber nein, ausgerechnet zurück nach Garmisch wollte er. Und damit nicht genug, er wollte gleich richtig sesshaft werden. Mit Hausbau und allem Drum und Dran.

„Hier mietet man nicht, Liebling“, erklärte er ihr als Antwort auf ihre Proteste. „Wie sieht das denn aus? Wir sind doch nicht irgendein Studentenpaar.“

Unzählige Male hatten sie diesen Streit geführt und zu guter Letzt hatte Marion ihn verloren.

„Dann will ich aber endlich eine Familie gründen“, war ihre Entgegnung.

Wenn sie schon nach Garmisch ziehen musste, ans Ende der Welt, jedenfalls ans Ende der zivilisierten, dann wollte sie wenigstens endlich ihr eigen Fleisch und Blut in die Arme schließen können. Marcus konzentrierte sich auf seine Karriere. Sie hatte ihre schon zu Beginn dieser Ehe zurückgestellt, dabei hätte sie sicher keine schlechteren Aussichten gehabt als er. Aber inzwischen dominierte sowieso ihr Kinderwunsch. Den teilte Marcus nun aber leider so gar nicht.

„Marion, das hatten wir doch schon.“

Wenn er sein übliches „Liebling“ durch ein formelles „Marion“ ersetzte, wusste sie, dass sie ihn verärgert hatte. Sie schmollte deshalb auch ziemlich offensichtlich.

Du hattest das schon. Für dich ist das alles kein Thema. Aber was ist mit mir?“

„Ich bin noch ganz frisch hier in Murnau. Ich hab jetzt wirklich andere Dinge im Kopf, verstehst du das denn nicht? Das ist eine große Herausforderung für mich!“

Marion wurde langsam richtig wütend. „Ach ja? Und was ist mit mir? Vielleicht hätte ich auch gern mal wieder eine große Herausforderung! Stattdessen sitz ich den ganzen Tag zu Hause und warte auf dich. Demnächst auch noch in Garmisch, wo sowieso der Hund verreckt ist. Was soll ich da den ganzen Tag tun, hm?“

„Ich sage ja nicht, dass wir nie Kinder haben werden. Aber das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Versteh das doch.“ Damit war das Thema für ihn wieder einmal beendet.

Das Paar zog im Frühjahr nach Garmisch. In die neue Villa im Stadtteil Partenkirchen. Schon wochenlang schlichen die Nachbarn neugierig um das feudale Bauwerk mit der monströsen Einfahrt. Marion kniete sich ins Einrichten hinein und verwirklichte alle ihre innenarchetektonischen Träume ohne Rücksicht auf Marcus‘ Gehaltskonto. Sollte er ruhig bluten dafür, dass er sie in dieser Einöde aussetzte. Marcus überließ das Einrichten und Dekorieren anscheinend gern seiner Frau. Man sah ihn frühmorgens aus dem Haus gehen und mit seinem schicken Sportwagen nach Murnau brausen, wo er den ganzen Tag in der neurochirurgischen Abteilung der Unfallklinik verbrachte. Sein Leben schien perfekt zu sein.

Für Marion war es das genaue Gegenteil. Zwar fand sie ihre neue Unterkunft durchaus standesgemäß, aber auch daran gab es allerhand auszusetzen. Zum Beispiel hatte Marcus auf Sprossenfenster mit Fensterläden bestanden.

„Das hat man hier eben so“, lautete die lapidare Begründung.

Vorsintflutlich. Hoffnungslos antiquiert. Hirschhornknopfniveau! Außerdem thronte auf dem Neubau ein rotes Ziegelsatteldach. Auf einem schicken Pultdach hätte man eine Photovoltaikanlage installieren können, das hätte unheimlich modern gewirkt und dem Haus einen gewissen ökologischen Anstrich gegeben, ohne dabei bäuerlich zu erscheinen. Aber für solche diplomatischen Feinheiten hatte Marcus überhaupt kein Gespür. Er träumte auch von einem naturbelassenen Garten mit alten Rosensträuchern neben Gemüserabatten und womöglich erwartete er auch noch, dass Marion ihre freie Zeit mit Unkrautzupfen und Schneckenbekämpfung verbringen sollte. Dem schob sie jedoch gleich einen Riegel vor, indem sie einen renommierten Münchner Landschaftsgärtner beauftragte, den sie anwies, die knappen 1000 Quadratmeter in eine futuristische Gartenanlage nach den Prinzipien des Feng Shui zu verwandeln. Ihrem Mann gegenüber stellte sie klar, dass sie keinen Finger krümmen würde, um diese Pracht zu erhalten. Dazu musste schon der Gärtner aus München regelmäßig antraben. Marcus schien das nicht weiter zu stören, er ließ sie in allem gewähren. Nur beim Thema Nachwuchs blieb er eisern bei seiner Meinung. Marion erkannte schnell, dass sie dieses Reizthema anders angehen musste. So endeten sie jedes Mal im Streit, was ihren Absichten auch nicht eben zuträglich war. Also änderte sie ihre Strategie.

Sie ließ die Vorhaltungen und Vorwürfe sein und verlegte sich auf Schmeicheleien, vorzugsweise beim oder unmittelbar nach dem Sex. Marcus durchschaute ihre strategische Kriegsführung jedoch und das Ende vom Lied war, dass er weniger Lust hatte. Auch kam er inzwischen kaum einen Abend vor neun oder gar zehn aus der Klinik. Danach aß er lediglich schnell irgendetwas und vergrub sich wieder in seinen Büchern, und Marion saß allein vorm Fernseher. Sie kannte inzwischen das tägliche Fernsehprogramm von morgens bis spät in die Nacht auswendig.

„Geh doch mal raus!“, riet ihr Marcus nur, wenn sie anklingen ließ, wie unzufrieden sie war. „Du kennst immer noch keine Menschenseele hier. Meinst du, die Leute hier sind so viel anders als in München?“

Ja, das dachte sie. Das dachte sie nicht nur, sie wusste es bereits. Es reichte doch schon, wenn man diese Landfrauen beim Einkaufen beobachtete. Marion hätte nichts gewusst, worüber sie sich mit einer von ihnen unterhalten hätte sollen. Über den Garten? Marion interessierte sich nicht für ihren Garten. Oder über den Haushalt? Auch dafür hatte Marion kein Interesse. Nachdem sie sich innenarchitektonisch ausgetobt hatte, stellte sie eine Putzfrau ein.

Oder sollte sie sich mit ihnen gar über Kinder unterhalten? Dieses leidige Thema. Die Frauen in Marions Alter, die sie bei verschiedenen Gelegenheiten im Ort sah, die hatten Kinder und führten Marion damit jedes Mal schmerzhaft vor Augen, was ihrem Leben zur Perfektion fehlte.

Mit der Zeit wurde aus dem Kinderwunsch eine regelrechte Obsession. Marion sah überall Kinder: In jeder Zeitschrift, die sie aufschlug, las sie Artikel wie: „Natürlich zum Wunschkind“, oder: „Schwangerschaft über 40, ein Risiko?“. Marion ging zwar erst auf ihren zweiunddreißigsten Geburtstag zu, aber sie sah bereits ihre Felle davonschwimmen. In den Artikeln hieß es, dass die Fruchtbarkeit schon mit Mitte zwanzig deutlich abnahm. Jedes weitere Jahr verringerte also, statistisch gesehen, die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden.

Auch im Fernsehen wurde sie überall mit dem Thema konfrontiert. Zum Beispiel gab es eine neue Dokusoap, die Schwangere bei der Geburt begleitete. Und selbst in den Werbeunterbrechungen gab es nur eins: Babybrei, Babywindeln, Babys, Babys, Babys und nochmal Babys.

September 2008

Etwa ein halbes Jahr nach ihrem Einzug versuchte Marion einen letzten gewaltsamen Vorstoß. Es wurde langsam Herbst, der Abend brach früher herein und man konnte abends nicht mehr auf der Terrasse sitzen bleiben, da es ansonsten zu kalt wurde. Trotzdem deckte Marion den Tisch auf der italienisch angehauchten Terrasse mit den schicken Terrakotta-Kübeln, in denen Palmen und andere – für das Oberbayerische jedenfalls – exotische Pflanzen gediehen.

Sie richtete den Tisch besonders liebevoll mit einigen Dahlienköpfen und dem guten Geschirr. Ihr Mann kam ausnahmsweise einmal etwas früher aus der Klinik und wunderte sich über den festlichen Aufriss, den sie veranstaltet hatte. Marion versuchte es im lockeren Plauderton: „Wir sind ja nun schon eine ganze Weile hier, wie geht es dir denn inzwischen in der Klinik?“

Marcus nickte mit vollem Mund und brummelte etwas wie: „Ganz gut.“

„Dann kommst du gut zurecht?“

„Ja, sag ich doch.“ Marcus sah sie fragend an.

„Auch mit den Kollegen?“

„Worauf willst du denn hinaus, du interessierst dich doch sonst nicht für meine Arbeit?“

Marion legte bedächtig die Gabel zur Seite und sah ihren Mann über den Tisch hinweg fest an. „Du hast gesagt, du willst dich erst hier einleben und mit dem neuen Job zurechtkommen, eh du ans Gründen einer Familie denkst.“

Marcus verdrehte die Augen. „Oh bitte, nicht schon wieder. Vielleicht wäre ich viel eher für ein Kind bereit, wenn du mich nicht permanent damit bedrängen würdest!“

Marions Augen füllten sich mit Tränen. „Ich bedränge dich ja nur, weil du mir immerzu ausweichst!“

„Ich weiche dir nicht aus. Ich sagte dir doch bereits Dutzende Male: Ich will kein Kind. Aber du willst das nicht hören.“

„Du willst kein Kind? Du willst überhaupt keines?“, fragte Marion fassungslos.

„Ja! Das heißt, ich weiß es nicht. Vielleicht irgendwann. Aber jetzt nicht! Und damit meine ich nicht: heute nicht, sondern ich meine: nicht heute, nicht morgen und nicht in einem Jahr.“

Marion knallte ihre Stoffserviette auf den Teller und stand so ruckartig auf, dass ihr Stuhl bedrohlich nach hinten kippte. „Wieso sagst du das nicht gleich? Du willst also überhaupt keine Kinder?! Du zwingst mich, hierher zu ziehen, du nötigst mich, hier in diesem Haus zu hocken und zu versauern, und jetzt zwingst du mich tatsächlich noch dazu, meinen größten Wunsch, den einzigen, den ich an dieses Leben überhaupt noch habe, aufzugeben?“

Marcus schloss einen Moment die Augen. „Findest du nicht, du bist ein bisschen theatralisch? Das hier ist nicht der Slum von Buenos Aires, das ist nur Garmisch. Und du fristest dieses unerträgliche Leben in einer 550.000 Euro-Villa, du hast einen Gärtner, eine Putzfrau und einen Mann, der dir dieses Leben ohne mit der Wimper zu zucken finanziert! Such dir ein Hobby! Mach Sport, tritt einem Verein bei, organisier meinetwegen irgendwas Wohltätiges. Aber bitte beschäftige dich. Und hör auf, ständig nach einem Kind zu heulen. Wir sind Anfang dreißig und noch keine fünfundvierzig!“

„So siehst du das, ja?“, fauchte Marion. „Ich bin theatralisch? Ich habe den ganzen Luxus, mit dem du mich überhäufst, überhaupt nicht verdient? Weißt du was? Ich scheiß auf dein Geld! Und ich scheiß auf dich!“

Damit stampfte sie von der Terrasse ins Haus und knallte die Tür zu.

Eine Stunde später verließ Marion mit einem gepackten Koffer das Haus. Vorher rauschte sie ins Wohnzimmer, wo Marcus auf der Couch saß, die Füße auf dem Couchtisch drapiert, was sie normalerweise rasend machte, und in einer Fachzeitschrift blätterte.

„Ich habe die Schnauze gestrichen voll“, verkündete sie.

Marcus sah von seiner Lektüre auf. „Aha“, machte er.

„Ich ziehe aus.“

Marcus nickte. „Tu das.“

Irgendwie hatte Marion sich ihren fulminanten Abgang anders vorgestellt.

Unschlüssig stand sie in der Tür. „Dann wirst du ja sehen, wohin dich dein Egoismus bringt!“

Marcus sah sie noch einmal an. „Mein Egoismus?“

Wütend drehte Marion sich auf dem Absatz um und verließ das Wohnzimmer. Wenig später fiel die Haustür ins Schloss. Marion setzte sich in ihre A-Klasse. Sie hatte auf dieses Modell bestanden, weil es ein Familienauto