Hugo Ball: Das erste dadaistische Manifest

 

 

Hugo Ball

Das erste dadaistische Manifest

und andere theoretische Schriften

 

 

 

Hugo Ball: Das erste dadaistische Manifest und andere theoretische Schriften

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Amadeo de Souza-Cardoso, Eintritt, 1917

 

ISBN 978-3-8430-6735-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8619-9259-2 (Broschiert)

ISBN 978-3-8619-9260-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Wedekind als Schauspieler

I

Es wird die Zeit kommen, wo es zur Bildung gehört, auch Schauspieler sein zu können. Wo die Schauspielerei gewissermaßen als Sport betrieben wird, so gut wie alle übrigen Bildungszweige: Wissenschaft, Religion, Gedichtemachen, Redenhalten. Ein Mann von Körper und Geist wird sich nicht mehr blamieren dürfen, wenn man ihn fragt, wo er zuletzt aufgetreten ist. Solche Zeiten werden lächeln, wenn sie hören, daß es für uns ein Thema war, ob Wedekind Schauspieler ist oder nicht. Schauspieler ist jeder, der öffentlich auf eine Bühne oder ein Podium tritt, um sich (coram publico) zum Besten zu geben. Verwandlungskunst ist belanglos, seit wir (geistig) allesamt Schauspieler wurden. Wir haben's selbst; wir suchen's nicht mehr auf der Bühne. Wir suchen im Theater keine Seelenwanderung mehr; wir suchen Personagen: Neue Körper. Neue Seelen. Wir kommen uns Schauspieler ansehen, wie Sokrates zur Herodote kommt: Neugierig. Nicht auf das Stück. Sondern auf den Kerl; sondern auf das Weib oder Weibchen. Wir wollen ein neues Stück Mensch wahrnehmen, eine terra nova incognita. Es ist uns piepe, ob jemand, der Herr Schulze ist, auch Herr Müller sein kann. Oder ob Frl. Schmidt sich in Frl. Huber verwandelt. Wir pfeifen drauf. Wir wollen neue Beine. Neue Hüften. Neue Köpfe. Neue Struktur Leibes und der Seele.

 

II

Als Frank Wedekind auf die Bretter trat: Donnerwetter! Die anderen sahen neben ihm aus wie ein Kegelspiel, das im Umfallen ist. Sie waren einfach nicht mehr da. Es gab uns einen Riß. Wir fühlten: Voilà! Das ist er! Seine Stücke waren bewiesen. Hatten auf einmal Existenz. Zwielebigkeit zwischen Dichter und Werk ward Einheit. Sein Atem glühte. Sein Tempo[15] hackte. Fanatismus brachte ein Vibrieren auf die Bühne, wie nur noch der Tänzer Nijinski es bringt. Da standen drei Kerle in einer Person: ein Zelot, ein Dichter und ein Tribun. Seine Angelegenheit, die vorher eine solche der Theaterkanzleien und Verlagsbüros gewesen war, sprang in die Öffentlichkeit. Was vorher Schreibsal war, ward Lebsal. Fluchte, blutete, tobte, schrie: uns und der staatlichen, gesellschaftlichen, religiösen, moralischen Autorität ins Gesicht hinein. Schauspieler werden hieß für ihn: sich ein öffentliches Leben schaffen; Agitation für sich und die Sache, Auseinandersetzung deutlichste, Brust an Brust mit denen, denen es galt. Das gab ihm eine Unmittelbarkeit, die ein »Berufsschauspieler« nicht erreichen kann, weil er immer nur Mittler bleibt. Wedekinds Manco: Die Kunst (d.h. Beherrschung) der Invektiven. Bombenwerfen wird demnächst moderner sein und ihn verdrängen.[16]

 

III

Ein Schauspiel, grausam wie Harakiri (wird man sagen): Es schlitzte sich einer die Seele auf. Zerstörte die Wand zwischen innen und außen. (»Scham« genannt.) Zwischen öffentlich und privat. Zerriß und zerfetzte sich selbst. Barbarismus. Flagellantentum. Und lud uns als Zuschauer ein. Fluchte sadistisch, spie Witze und Hohn. Und immer der Verstand, der hinrichtende Verstand. Gotische Berserkerei in diesem Sichselbst-Entblößen; unerhört. (Erinnert euch an »Zensur«, als er den Buridan spielte, eines Tages. »Der Clown Wedekind«. Das Lachen blieb euch in der Kehle stecken. Oder als er den Hetmann spielte: Donquichote im Reich der Idee ward jetzt erst Bild.)

 

IV

Nicht daß er immer ergriffen hätte. Er hypnotisiert. Er hat den Krampf im Gehirn. Den Krampf (im Körper). Den Krampf (in der Kehle), in den Beinen. Auch in den –. Holzschnitt ist alles: grob und eckig und ohne Übergang. Dachskulptur der Kathedralen von Reims und Amiens. Holzwerk von Riemenschneider.[16] Es knarrt, wenn er schreitet. Er krächzt, wenn er spricht. Seine Nase ist steil und kühn. Wenn er auf der Straße der Elektrischen begegnet, zwingt er sie auszuweichen. Mißtrauisch, gereizt, verlegen. Oder taktlos, brutal, sarkastisch. Naiv wie ein Ponny und tobsüchtig wie ein Narr.[17]

 

V

Was wird mit seinen Stücken geschehen, wenn er einmal seinen Posten quittiert? Wer soll den Hetmann spielen? Wer den Veit Kunz? Wer den Lindekuh? Die glatte Hälfte, die Agitation, der Trommelschlag, fällt weg. Es ist der Sinn dieser Dramen, daß er sie selbst vorbringt. Die Steinrücks und Kayßlers sind zuguterletzt Kayßlers und Steinrücks, aber keine Wedekinds. Warum? Weil sich Jaurès und Briand und Churchill vertreten, aber nicht ersetzen lassen. Weil seine dramatische Idee die der Dramatik des öffentlichen Lebens ist und ihre letzte Gestalt erst findet, wenn er selbst sie verficht. Er ist (immer vom Spezifischen gesprochen) nicht abzutrennen von seiner Idee. Er steht auf der Bühne: drei Worte, und all sein Verfolgungswahn ist plausibel: Unterdrückte Vitalität, gereizt, entlädt sich in aufreizendem Widerspruch.

 

VI

Andere können gar nicht genug von ihm lernen. Sein Zweck ist die Sache. Sein Mittel die Sachlichkeit. Logik (die man ihm merkwürdigerweise abgesprochen hat) seine Methode. So spielt er (seine) Stücke. Ohne viel Gestus. Ohne viel Mimik und Maske. Er macht nicht Theater. Er besetzt es, nimmt es in Beschlag. Dabei ist es ihm peinlich um Theatralik zu tun (als Regisseur). Es muß oben beständig etwas los sein. Er kennt die Gesetze, mit denen man fesselt, und wendet sie an mit großer Sorgfalt. Lernet von ihm, wie man Realitäten bringt. Wie man auf den Füßen steht. Wie man da ist. Neben ihm ist alles nur wackelndes Postament.[17]

 

VII

Er ist Abschluß einer Epoche. Prägnanz im Superlativ. Rationalistisch-logisch kann man nur mit Prägnanz sein (und umgekehrt). Er steht da als das Ende der Moral, als die verkörperte Moralidiosynkrasie dieser letzten Epoche. Aus ist's. Moral (samt ihrer Negation: Amoral) wird binnen kurzem kein Gegenstand mehr sein. Nur mehr Farbfleck. Ihr (Dramatiker!), die ihr euch mit der Gesellschaft befaßt, hört auf! Der Schauspieler Wedekind, populär geworden, macht allem übrigen Gesellschaftsstück den Garaus. Drückt es an die Wand. Erledigt es. Ihr könnt keine Gesellschaftsstücke mehr schreiben, ohne in seine Stapfen zu treten. Neues, oder ihr seid seine Epigonen!

 

VIII

Reminiszenz: Wie er in Franziska hereinkommt als Sternenlenker Veit Kunz! Sackerment! Durchs Fenster und in die Knie knickt und im Halbkreis läuft! Phänomenal! Sein obligatorischer Satanismus (der Bürger verlangt das) – Kinderschreck. Wir amüsieren uns über das Ponny. Wir lächeln, wenn er Hinkefuß macht. Aber dieser schwarze spiritus rector, der durchs Fenster kommt und im Kreise läuft, das ist der Teufel im Kasten. Nicht unterzukriegen. Der Deckel springt auf: schon streckt er den Kopf hervor.

 

IX

Er ist voller Schalk und Schabernack, Arabeske und Schilderei. Das Akrobatentum hat er wiederentdeckt – für die Bühne der Zukunft. Er berührt die Japaner; das urtümliche Volksgaudi; die Schwertschlucker, Seiltänzer und Purzelbaumschläger. Man wird ihn ausarbeiten. Er fliegt und reitet, schwebt an den Kniekehlen in der Luft (meiner Treu). Es ist sein größter Vorteil, daß er (in jungen Jahren) mit dem Zirkus reiste.[18]

 

Das Psychologietheater

Es ist evident, daß alle Psychologie ein Sicheinfühlen in die fremde Existenz, ins Objekt, in den Gegenstand voraussetzt. Um etwas »Psychologisches«, etwas über die Seele einer Sache, eines Menschen, eines Unternehmens aussagen zu können, bedarf es einer Fähigkeit des Sicheinfühlens, des Besitzergreifens, des Sichselbstverlassens, die absolute schauspielerische Begabung voraussetzt. Ich behaupte: große Psychologen müssen notwendig große Schauspielernaturen sein. Psychologie und Schauspielerei sind aufs engste verknüpft (der Psychologe ist gezwungen, sein Objekt zu erleben, es persönlich zu durchdringen, es selber zu sein, bevor er etwas Wesentliches darüber aussagen kann). Die psychologische Epoche, die in Nietzsche, Dostojewski und Ibsen gipfelte, hat einen eminent schauspielerischen Untergrund. Mit dem Hochkommen dieser Epoche wird das Interesse für Theater und Schauspielkunst universal, setzt die Überschätzung des Theaters ein. (Siehe Richard Wagner. Siehe seinen Ausläufer Max Reinhardt. Brahms Ibsentheater.) Mit dem Durchschauen der Psychologie (mit dem Zeitalter der Psychoanalyse) schwindet auch das Interesse am Theater. Die großen Psychologen haben das Theater universal gemacht (der Fall Nietzsche-Wagner); auch die Schauspielerbegabung. Durch die Psychologie sind diese Dinge allgemein geworden. Wie etwa Freud die Hysterie zergliedert und damit einen Allgemeinzustand der Hysterie einleitet. Wir sehen das Theater nicht mehr als Spezialität. Wir sind's selber geworden. Wir brauchen nicht mehr in den obligatorischen Kunsttempel zu gehen. Wir nehmen das Schauspielern nicht mehr als Sensation. Und wenn wir gehen, gehen wir aus anderen Gründen. Vor allem: wir betrachten die Psychologie – psychologisch. Wir empfinden sie als plebejisch, pedantisch und unvornehm. Wir empfinden sie als ein Durchschnüffeln, Durchtasten, Durchstöbern eigener und fremder seelischer Angelegenheiten ohne Distanz; zur Wissenschaft erhoben widerlich. »Psychoanalyse« als eine Art resümierter Psychologie findet allenfalls noch unsere Billigung, wenn sie,[19] unter strengster Staatskontrolle, medizinisch fungiert. Psychologie (moralisch genommen) empfinden wir heute als eine Ausschweifung masochistischer Personen. Als ein Türhorchen der Senilität bei der ökonomischen Verwaltung unserer inneren Angelegenheiten; als ein Domestikenvergnügen, wenn man so sagen will. Wir hören Syllogismen und Wasserfälle von Phrasen, die den Kern nicht mehr treffen. Psychologie beispielsweise bei Ibsen ist uns beträchtlich zu einem Klatschsuchtsphänomen heruntergesunken. Wir sehen Brille, Lupe und Gelehrtenzopf hinter der »Seele« her (die nicht mehr existiert). So jemand sein sollte, der Seele hat, das ist seine Sache.

Jene »schauspielerische Urbegabung« aber erklären wir uns aus dem Druck, den Jahrhunderte bornierten Christentums auf die Knechtung der Körper und Geister verwandten. Wir erklären die psychologisch-schauspielerische Epoche der genannten Größen als lebendig gewordene Versatilität ganzer Generationen von Unterdrückten, die mit allen Mitteln der Verzweiflung und Verschlagenheit in andere Gestalt hinüber und durch sie aus ihrer eigenen herauswollten (es ergibt sich die Parallele zur Popularität des Weibes). Wir erklären »den Schauspieler« aus der Suprematie asketischer Orden, aus dem Fron und der Nachwirkung cäsarischer Papstnaturen; aus dem tausendjährigen Wutideal metaphysischer Fleischverachtung. Wir glauben, daß die gesamte Epoche heutiger Aufklärung als Reaktion gegen Moraldruck selber noch eine Moralidiosynkrasie sei (Wedekind). Wir stellen als Gegenideal, zwecks Überwindung, den Expressionismus auf, der gar kein Objekt mehr kennen will; der mit wahnsinniger Wollust die eigene Persönlichkeit wiederfindet und deren Diktatur ausruft in hintergründigster Selbstschöpfung. Theater als Abenteuer, als Weltreferat, als hoher Lyrismus. Wir lassen das Christentum gleiten. Die Psychologie anbei. Uns heute, die wir einander eine »Renaissance in Gesundheit und aristonischer Ungebrochenheit« versprechen, uns dämmert damit auch der römische Histrionenhaß wieder auf. Kein Vorurteil mehr gegen den Schauspieler als soziales Glied. Aber ein Achselzucken bei seiner »Verwandlungskunst«.[20]

 

Totenrede

Hans Leybold – ich muß ihn ja gekannt haben! Wir führten an den Kammerspielen in München zusammen Hauptmanns »Helios« auf. Er war ein Student. Er machte mich mit der »Aktion« bekannt. Er negierte mein Gesäß. Er reizte mich maßlos.

Wir fanden einen kleinen Verlag in München. Der hieß Bachmair, H. F. S. X. Y. Bachmair. Anlaß vielen Gelächters für uns. Sprach Leybold: »Lasset uns eine Zeitschrift gründen!« Die hießen wir »Revolution«. Als die Zeitschrift gegründet war, verlangten die Abonnenten ein Programm. Leybold sprach: »Wohlan denn, Ihr –, wennschon immerhin: Hier habet ihr ein Programm«. Und schrieb: »Kampf gegen Seiendes, für Keimendes. Gegen Kunstportiere, Kulturportiere, Avenariusse, Scharrelmänner, Obskuranten, Schwärzlinge, Hertlinge, Hohlwege, Panteutschisten, Stagnaten, Kastraten. Gegen literaturbehaftete Oberlehrer, kunstsinnige Kritiker, allgemeine Rundschauer. In Summa: Gegen Zuständliches«. Und fügte hinzu: »Nichtschriftsteller heraus! Keine Literaten sollen gezüchtet werden«. Da hatte man denn die Revolution! Da war sie. 20 Jahre alt war der Kerl. Sehr hurtig. Und paffte einfach drauf los.

Sprach jemand in Berlin: »Was ist das für eine Revolution, die ihr da macht in München! Da steht ja kein Satz Politik drin!« – »Richtig«, sprach Leybold, »da steht kein Satz Politik drin. Was soll man tun?« 5 Minuten später waren wir konfisziert mit Nummer I.

»Holla«, sagte ich zu ihm, »da steht nur kein Sozialismus, keine Altersfürsorge, kein Mutterheim, kein Rotes Kreuz drin. Und auch die Rosa Luxemburg wird nicht mitarbeiten. Noch Frau Zetkin.« – »Aaber: Politik, zum Donnerwetter, Politik«, sprachen wir zweistimmig, »ist das etwas anderes als die Lehre von den Mitteln, mit denen man sich selbst oder eine Idee durchsetzt? Und wenn unsere Idee – na, sagen wir schon – ›der Geist‹ ist, ist es vielleicht unsere Politik, daß wir ›den Geist‹ durchsetzen?« Unter Geist verstanden wir aber alles, was gegen das Gesäß, gegen die Verdauung und gegen das Finanzherz gerichtet[25] ist. Jeglichen Fanatismus im Gegensatz zu jeglichem Traum- und Innenleben. Jegliche Anarchie im Gegensatz zu jeglichem Bonzentum (sei's, wer's sei). Wir versuchten, das überlegene geistige Kaliber in unsere Hand zu bekommen und es spielen zu lassen. Wir suchten jede Handlung, jedes Unternehmen, jede Zeile Geschriebenes nur im Zusammenhang mit unserer Endabsicht zu ästimieren, für Komplexe empfindlicher als für Äußerungen. Für Wandlungen dankbarer als für »Charakter«. Unser Ziel aber hieß: Geistige Konspiration zwecks Ermöglichung geistiger Werte.

Inzwischen verspritzten wir Glossen und Gedichte, nach allen Seiten. »Die Revolution« verkrachte nach 5 Nummern. Leybold wurde nacheinander Mitarbeiter des »März«, des »Vorwärts«, der »Aktion«, der »Zeit im Bild«, der »Tat«.

Das Bedeutsamste, was er in dieser Zeit schrieb, scheint mir eine Glosse in »Zeit im Bild« gewesen zu sein. Dort vertrat er die Ansicht: »Es muß (in diesem Volk) immer etwas los sein. Immer etwas knallen, passieren. Immer wer angezaubert werden. Laut erhebet eure Stimmen, lauter, lauter. Der Zweck heiligt die Mittel«. Ein richtiger Jesuit, was? »Die Stillen im Lande«, meinte er, »werden nicht gehört«. Er meinte damit solche Herren Hermann Stehr, Gustav Landauer, Paul Boldt und andere.

Und es begab sich, daß uns der Einfall kam, Franz Blei zu propagieren. Wir fanden das sehr witzig. Blei hatte immer propagiert. Warum sollte er nicht selbst einmal propagiert werden? Also spielte er die Uraufführung seiner »Welle« in den Münchener Kammerspielen. Leybold programmatelte. Seewald inszenierte. Ich zeichnete verantwortlich. Wir bewarben uns um eine Theater-Direktion in Dresden. Wir versuchten das Münchener Künstlertheater in unsere Hand zu bekommen (wohl wissend, daß das Theater der springende Punkt ist). Wir planten eine internationale Anthologie von Lyrik. »Teufel, Teufel«, sagte Leybold, setzte sich in die Eisenbahn und fuhr nach Kiel.

Wir entspannen einen heftigen Briefwechsel. Er warb um mich, vorsichtig und höflich, wie um eine obszöne Frau. Wir erkannten einander und setzten ein Psychofakt in die Welt, das wir Baley nannten und das den Zweck hatte, Posen, Gesten,[26] Vexationen zu kultivieren. Arrogant zu sein wie – wie Einstein.

Ich befreundete mich mit Kandinsky und ging zum Expressionismus über. Er seinerseits empfahl mir Heinrich Manns »Professor Unrat« zur Lektüre. Ich schrieb ihm:

»Wir, Bruder, toben mit den grellen Bumerangs, Trompetenbäume schrillen in Cis-Moll.

Wir schnellen durch die Luft gleich Fetzen grünen Tangs,

Blutäugig fliegende Fische voller Haß und Groll.«

Ich suchte ihn von Heinrich Mann und seiner Begeisterung für die Sachlichkeit abzubringen.

In demselben Moment erklärte Kaiser Wilhelm, daß das mit den Franzosen und Russen so nicht weitergehen könne. Und Leybold schwenkte auch die Fahne und blies auch ins Hifthorn und machte auch den Krieg mit Frankreich. Mir persönlich ist ja der Krieg unsympathisch, denn es ist eine Rigorosität, daß Leute wie Pèguy erschossen werden. Aber man kann nichts machen. Denn der Krieg ist eine Notwendigkeit Gottes. Dazu kam, daß Leybold eine Sympathie hatte für Kanonenrohre, weil sie ihn mit Freudschen Theorien erfüllten.

Doch hiervon genug. Sie werden wissen wollen, was dieser geniale junge Mann positiv geleistet hat. Nun denn! Er starb auf dem Felde der Ehre (viele Russen sterben anderswo). Er hat eine Zeitschrift gegründet, die einen sehr bedeutungsvollen Namen hat. Er pöbelte gegen Otto Ernst, gegen die Epigonen des Turnvaters Jahn, gegen Roda Roda, Feistritz, Walter Kollo und viele andere. Was an sich nichts bedeutet. Aber er faßte diese Insekten in Kristall, putzte sie auf, hing ihnen Schellen und Lendenschürze um, so daß mit der Zeit eine recht niedliche Negertruppe daraus geworden wäre.

Sodann: Er tat furchtbar viele Frauen auf: bei ihm eine Form der Propagierung des öffentlichen Lebens. Glich sich dadurch Ulrich von Hutten an. Dichtete:

 

Unglaublich viele schöne Frauen gibt es in der Stadt,

Sie haben blaßgepuderte Wangen und ziegelrote Münder,

Sie sind teils kränklich, teils gesünder,

Manche quellen über, manche werden niemals satt.[27]

 

Er fiel Athleten an, Kunstturner, Studenten, Cafétiers und stiftete auf diese Weise eine Art abgekürzter Polemik. Er hielt es für ganz unwichtig, Literatur zu machen, und für sehr schwer, ein deutscher Schriftsteller zu werden, weil das eine contradictio in adjecto sei.

Aber das alles half ihm nichts. Eines Tages, mitten im Krieg, stürzte er vom Pferd, vor der Stadt Namur, kam zurück nach Berlin, pflanzte einen Vollbart ins Café des Westens und begab sich in seine Garnison Itzehoe, von wo er depeschieren ließ, er sei mit dem Tode abgegangen.

Es ist unerhört und scheußlich, daß dieser junge Mann aus dem Kriege nur die physische Konsequenz ziehen mußte, während die geistige ihm versagt blieb. Er ging ein (literarisch gesprochen). Er verendete (literarisch gesprochen). Er starb in irgendeiner Ecke, ohne einen Laut, und ohne daß er noch jemand gesprochen hätte. Fürs Vaterland. Aber er wollte hinaus aus dem Vaterland. Immer. Nur hinaus aus dem Vaterland. Mangel an Vaterland war direkt ein Defekt bei ihm. So war er geartet.

Ich sehe ihn vor mir, unbändig lachend. »Menschenskind, eine Totenrede?« Schon klemmt er das Monokel ins Auge, gibt seinem Körper einen Ruck und sistiert die Vorstellung. Oder auf der Straße: Er trägt einen blauen Mantel, geht mit verkniffenen, breitgeschwungenen Augenbrauen nach dem Tempo einer Automobilhupe und spuckt. »Alter Bulle«, sage ich zu ihm, »wir werden noch manchen Kampf miteinander zu kämpfen haben.« – »Woll, woll«, sagt er, im raschen Gehen auf der Straße, während der Mantel fliegt.

Widersprechen Sie nicht! Kaufen Sie seine nachgelassenen Glossen und Gedichte, die ich herausgeben werde. Er ist hin. Es muß ihm sehr schwer gefallen sein, wie ich ihn kenne. Aber es ist nichts zu machen. Gedenken Sie seiner! Haben Sie Mitleid! Seien Sie freundlich! Sie alle haben seinen Tod mitverschuldet. Alle, wie Sie auch hier unten sitzen. Möge Ihnen sein Name einfallen, wenn Sie Ihre Kinder säugen!

Ich habe dem nichts hinzuzufügen.[28]

 

Zürich

Man lebt in Zürich: Ländlich unter Morphinisten. Viele Franzosen gibt es. Die Soldaten mit ihren schwarzen Tschakkos, schwarzer Uniform und roten Achselaufschlägen erinnern an deutsche Feuerwehr. Die elektrischen Wagen sind blau wie in München. Am Stadthauskai ragen drei große Uhrtürme mit goldenen Zifferblättern. Brückenköpfe breit zwischen italienisch gegiebelten Häuserstaffagen. Singende Aale und Wasserratten von der Limmat her. Dahinter der See: Ein blaugrauer Sack.

Auf der Straße begibt sich: Die larmoyante Musik der Heilsarmee. Vor der Studenten-Wirtschaft »Zur Bollerei« auf grobpflastrigem Platz stehen im Kreis fünf Männer mit Blasinstrumenten. Hüte, Bagage und Instrumentenkästen liegen geschichtet inmitten des Kreises auf einem Haufen. Frauen mit seltsamen Hüten und Brillen (aus Bildern des Quentin Massys) singen eine erbarmenswürdige Melodie vom gekreuzigten Heiland. Auf dem Balkon der »Bollerei« die Studenten: in langer Reihe mit eckigen Köpfen und Quastenpfeifen.

Oder es findet, unter freiem Himmel, eine Versammlung statt, auf dem Münsterplatz. »Gegen den Hunger.« – »Schweizerarbeiter, wach auf, bevor es zu spät ist! Nieder mit der Heuchelei des Burgfriedens! Es lebe der Klassenkampf!« Mit Trompetenstoß wird die Versammlung eröffnet. Auf einem Karren stehen die Redner. In kleinen Trupps, die Internationale singend, zerstreut sich die Schar der Protestler unterm Gewitterregen.

Zürich ist die Stadt der Gesangvereine. Vierstimmig, schippelig. »Alles wird sich schon gestalten. Frühling wird es sicherlich.« Gesellenhäuser heißen hier »Zur Käshütte«, »Blaue Fahne«, »Zur Zimmerleuten«. Auch wird viel trompetet, aus sechsten Stockwerken heraus. Man tut etwas für die Lunge. Im Park, auf den Terrassen der großen Hotels, an Kiosken und in den Séparés der Kabarette: man spricht viel Französisch, von Genf her. Scheintot ist man versucht die Stadt zu nennen trotz Sonne und Grobheit nach drei Tagen Aufenthalt. Niemand führt Buch über Verbleib und Schattierung geflüchteter Krimineller.[29]