Das Geisterschiff und der fliegende Holländer

lebendig im jüngsten Gericht oder Rache bis über das Grab hinaus!

Eine höchst schaudervolle Geschichte höllischer Bosheit.


Von unbekannt


ca.1860


Verlag der Lutzenberger’schen Buchhandlung, Altötting.

Ein schreckliches Geheimnis.

Vor etwa 200 Jahren stand in der, nicht weit entfernt von dem Ufer der Schelde und der Insel Walhern beinahe gegenüber gelegenen kleinen und befestigten Stadt Terneuse, unter andern noch niedrigeren Wohnungen ein unscheinbares aber nettes Häuschen, im Geschmacke jener Zeit erbaut, mitten in einem freundlichen, von einer Ligustrumhecke umzäunten Gärtchen, und von einem schützenden Graben umgürtet, über welchen ein mit einem eisernen Geländer verziertes Brücklein zur Haustüre führte.

Zwei größere Abteilungen nach vorne, und zwei kleinere rückwärts, sowohl zu ebener Erde als im ersten Stocke, bildeten das Innere des Häuschens. Das eine der Zimmer zu ebener Erde nach vorne wurde zugleich als Küche benützt, und enthielt nur ein Bett, einen starken Tisch von Föhrenholz und zwei hölzerne Stühle. Das andere vordere Zimmer war seit fast 17 Jahren fest verschlossen, und von keinem Bewohner des Häuschens betreten. In dem Küchenzimmer saß auf dem kleinen ärmlichen Bette eine Frau von höchstens 40 Jahren, mit der Witwenhaube jener Zeit auf ihrem Haupte; ihr Gesicht zeigte die Spuren früherer Schönheit, aber auch einer rasch fortschreitenden Abzehrung, augenscheinlich in Folge eines tief nagenden Grames und aufgegebener Hoffnung. Aus ihren Augen brachen bisweilen Blitze drohenden Wahnsinnes.

An dem Tische mitten in der Küche saß ihr Sohn Philipp, etwa 20 Jahre alt, ein blühender mutiger Jüngling von seltener Körperkraft. Entschlossenheit und Charakterstärke leuchteten aus seinen Augen und als er, mit den Füßen umherschlenkernd ein Matrosenlied summte, durchkreuzten gewiss abenteuerliche Gedanken seinen Kopf.

Die Hände zur Bitte faltend, flehte die arme Frau: „Tu's mir zu Liebe, mein lieber Sohn, geh nicht zur See, o versprich es mir, Philipp!“

„Warum verlangst du dies von mir, Mutter?“, erwiderte der Sohn schnell. „Mein Hierbleiben schützt mich nicht vor dem Verhungern. Dieses Los bedroht uns. Ich muss einen Erwerb suchen, um uns beide ernähren zu können. Wenn ich das Anerbieten meines Oheims Vanbrennen annehme, zu ihm zu kommen, so kann ich an Bord des Schiffes einen zum Lebensunterhalte von uns beiden hinreichenden guten Lohn erhalten.“

„Es wird mein Tod sein, Philipp, wenn du von mir gehst! Du bist ja mein einziges Gut in der weiten Welt. Du liebst mich, Philipp, das weiß ich, und deshalb beschwör' ich dich bei dieser deiner Liebe, nicht von mir zu scheiden; kann dich aber nichts davon abhalten, so meide wenigstens das Seemannsleben!«

Eine Antwort erfolgte nicht sogleich für die weinende Mutter. Philipp pfiff leise ein Liedchen, und sagte nach einer Pause:

„Willst du mich vielleicht deswegen vom Seeleben abhalten, weil mein Vater auf einer Seereise ertrunken ist?“

„Ach, nein, nein, nein! Wollte Gott —“

„Was meinst du damit, Mutter?“, unterbrach sie Philipp hastig.

„Nichts, gar nichts! Gott der Barmherzigkeit, steh mir bei!“, schluchzte die Mutter, sank von dem Bett auf ihre Knie und betete voll Andacht; dann setzte sie sich wieder auf das Bett, und ihre Gesichtszüge zeigten nun den Ausdruck größerer Ruhe.

Schweigend und nachsinnend blickte Philipp auf die Mutter hin und sprach dann:

„Sieh, Mutter, nach deinem Wunsche soll ich bei dir am Lande bleiben, dem bittersten Mangel preisgegeben. Wozu dies, wenn es ein Mittel gibt, unsere Lage zu verbessern? Soweit meine Erinnerung zurückreicht, weiß ich jenes Zimmer hier gegenüber verschlossen. Die Ursache erfuhr ich nie von dir, aber einst sagtest du, dass in diesem Zimmer Gold liege, das unserm Elende abzuhelfen genügen würde, dass du aber lieber sterben, als dieses Zimmer betreten wolltest; dabei weintest du bitterlich. Gesteh nun, Mutter, was denn in jenem Zimmer verborgen, und warum es seit so langer Zeit verschlossen ist! Ich muss dies erfahren, oder ich gehe zur See!“

Bleich und regungslos saß die Mutter da, gleich einer Bildsäule: nach und nach regten sich ihre Lippen wieder, ihre Augen schimmerten; wie um eine qualvolle Angst zu bewältigen, drückte sie ihre bleiche Hand fest auf ihr Herz; zuletzt neigte sich ihr Haupt, und aus ihrem Munde strömte Blut. Schnell sprang Philipp herbei, umfasste sie, damit sie nicht zu Boden sank, und legte sie sanft auf das Bett.

„Ach, Mutter“, jammerte er schmerzlich, „was soll dies bedeuten?“ Einige Minuten lang konnte sie kein Wort hervorbringen; sie kehrte sich seitwärts, um nicht zu ersticken, und der blendend weiße Fußboden wurde von dem Blutergusse aus ihrem Munde gerötet.

„So sprich, liebe, liebe Mutter, was ich tun soll! Ewiger, barmherziger Gott, was ist das?“

„Der Tod, mein liebes Kind, der Tod!“, lispelte die arme Frau, deren Bewusstsein schwand. 

Ein habsüchtiger Arzt.

Voll Entsetzen stürzte Philipp zur Türe hinaus, die Nachbarn um Beistand für seine Mutter zu bitten, und als er einige mitleidige Personen um die Leidende sich annehmen sah, rannte er fort zu einem ziemlich weit entfernt wohnenden, geschickten aber äußerst habsüchtigen Arzte Namens Poots, den er aufforderte, ihm augenblicklich zu seiner todkranken Mutter zu folgen.

„Nun ja, ich werde kommen“, erwiderte der erbärmliche Geizhals nach einigem Zögern; „aber wer wird mich bezahlen, Mynherr Vandendecken?“

„Mein Oheim nach seiner Rückkehr.“

„Der Schiffer Vanbrennen? Ei, der schuldet mir ohnehin schon seit langer Zeit 4 Gulden; auch kann ja sein Schiff scheitern.“

„Verlasst euch darauf, von ihm die 4 Gulden zu. erhalten, und auch die Zahlung für den jetzigen Besuch; euer Zögern kann meiner Mutter den Tod bringen.“

„Jetzt gleich aber kann ich nicht kommen“, entgegnete Poots, „da ich zuvor das Kind des Herrn Bürgermeisters zu Terneuse besuchen muss.“

„Nehmt euch in Acht, Mynherr van Poots“, donnerte ihm Philipp zornglühend zu, „entweder geht ihr gutwillig mit mir, oder ich schleppe euch mit Gewalt fort.“

Der Arzt erbebte, da die ganze Gegend die Entschlossenheit des Philipp Vandendecken recht wohl kannte. „Ei, ich bin ja Willens zu kommen“, versetzte er, „sobald es nur an mir liegt.“

„Fort mit mir in diesem Augenblicke!“, tobte der Jüngling, packte ihn am Kragen, und zerrte ihn zur Türe hinaus.

„Mord! Mord!“, kreischte ängstlich der kleine Poots, indessen Philipp ihn mit Ungestüm fortschleppte. Indem er jedoch bemerkte, dass niemand zu Hilfe kam, und sein Entführer um sein Geschrei sich nicht kümmerte, rief er zornig:

„Weg mit der Hand, ihr dreht mir ja den Hals um! Ich will ja mit euch gehen. Aber für eure Gewalttat werdet ihr heute noch ins Gefängnis wandern. Und um eure Mutter will ich mich nicht annehmen, durchaus nicht.“

„Wohlan“, sagte Philipp, indem er ihn losließ, „ihr seid jetzt frei, aber bei Gott im Himmel schwör' ich, euch augenblicklich zu ermorden, wenn ihr nicht mit mir geht, und sorgt ihr nicht für meine Mutter, so gut ihr es vermöget, so erdrossele ich euch dort. Dass ich Wort halte, ist euch bekannt, deshalb nehmt meinen guten Rat an und geht ruhig mit mir; ihr sollet dafür gute Bezahlung bekommen, sollt' ich auch meinen Rock verkaufen müssen.“

Weit mehr als Philipps Drohung bewog seine Zusicherung der Bezahlung den geldsüchtigen Poots zum gutwilligen Mitgehen: eigentlich blieb ihm auch keine andere Wahl. Die Kranke war wieder zur Besinnung gekommen; zwei gutherzige Nachbarinnen rieben ihr eben die Schläfe mit Weinessig. Auf Anordnung des Arztes wurde sie in das obere Stockwerk getragen und zu Bett gebracht; dort flößte Poots ihr säuerliche Tropfen in den Mund, und eilte dann mit Philipp fort, um diesem die nötigen Heilmittel zu verabfolgen.

Er gab ihm ein mit Arznei gefülltes Fläschchen mit den Worten: „Eure Mutter soll dies ohne Verzug einnehmen; nach meinem Besuch bei dem Kinde des Bürgermeisters komm' ich wieder zu euch.“

„Ihr täuschet mich doch nicht?“, fragte mit drohendem Blicke Philipp.

„Nein, Mynherr Philipp, in einer Stunde bin ich wieder bei eurer Mutter, denn ich vertraue auf euer wegen der Bezahlung gegebenes Wort mehr, als auf euern Oheim Vanbrennen: verliert aber jetzt keinen Augenblick!“