Manfred Schlüter

Das Perpezudum

oder

Wie der alte Morawitz

das Perpetuum mobile

erfand

 

Edition Gegenwind

Books on Demand

Inhalt

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Edition Gegenwind

Originalausgabe

Text: © 2013 Manfred Schlüter

Titelbild: © Manfred Schlüter „Mit kleinem Fingerzeig“ (Ausschnitt)

Gesamtgestaltung: Manfred Schlüter

Auszug aus dem dtv-Lexikon - Seite →:

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Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 978-3-8482-7787-2

aufgeschrieben

in Erinnerung an meinen Großvater,

den Sattler, Polsterer und Tapezierer Adolf S.,

der Zeit seines langen Lebens

dem Perpetuum mobile auf der Spur war.

Das verbindet ihn mit Moses Morawitz.

Den allerdings hab ich erfunden,

auch Hinrich Jürgens und die fromme Helene,

Eiermeier, Krabbenkrischan und Hermann Paster.

Ähnlichkeiten mit Menschen und Orten

unserer wirklichen Welt

sind zufällig und unbeabsichtigt.

M.S.

 

 

aus

Brockhaus Conversations-Lexikon (1809)

Band 3, Seite 390

Vorspiel

Noch ist der Vorhang geschlossen und kein Laut zu hören. Dann hebt der Wind zu pfeifen an, Schafe blöken, Hühner gackern, ab und zu ein Möwenschrei und der schrille Ruf des Falken. Sturm kommt auf und rauscht und zischt und tobt und brüllt. Und wird heiser und wird leiser. Dann wieder Stille. Nichts als Stille. Und in der Ferne Meeresrauschen.

Schließlich hebt der Vorhang sich und zeigt die leere Bühne. Und schon fliegen Wolken herbei, tausend Sterne und der Mond. Ein Deich schiebt sich ins Bild, und hinterm Deich, da wohnt die wilde See. Davor ein Dorf. Ein kleines Kaff mit dreizehn Häusern, wie zufällig in die Landschaft gewürfelt. Heringsand. Hier zogen einst die Heringe in Schwärmen, hier gruben sich Butt und Wattwurm in den Sand, vor langer, langer Zeit, als das Land noch Wasser war und kein Deich die Wellen bremste.

Eine Strickleiter fällt aus den Wolken, schaukelt hin und her, dann steigt ein alter Mann herunter, der sieht wie ein kranker Engel aus. Und er schaut sich um und lächelt. Er kennt das Dorf, der kranke Engel, hat in diesem Dorf gelebt, sein Leben lang. Und sein Leben schiebt sich wie ein Film vor Himmelsblau und Wolkenweiß, vor Meer und Deich und Land und Dorf. Er läuft und läuft, der Film, und zeigt ihm Bilder. Alte, neue, helle, dunkle, verschwommen manche und andere gestochen scharf. Manche Bilder sind ihm sehr vertraut. Bei andren regt sich zaghaft nur Erinnerung, wird langsam wach und wächst und wächst und gießt Licht ins Dunkel. Und dann ist da dies eine Bild, das ist ihm fremd, so fremd, als käme es aus einem andren Leben. Doch taucht es immer wieder auf und drängt sich in den Vordergrund, und er sieht sich und sein Gesicht, sieht seine Augen und den Mund, weit aufgerissen, und dann die Hände vorm Gesicht. Da reißt der Film, zeigt nur noch Schwarz, Schwarz, Schwarz. Und der Engel hebt die Schultern. Er sieht müde aus und bleich.

„Also dann”, sagt er, „das Spiel beginnt.”

AUF DEN WIESEN UND WEIDEN, den Feldern und Äckern liegt noch der Morgennebel, wie ein weicher, weißer Mantel hat er die Erde zugedeckt. Und aus dem Nebel schauen hier und da und dort vom Wind zerzauste Baumkronen, die sich um die Dächer fast versunkner Häuser scharen. Die stählernen Masten der Windenergieanlagen, sie ragen in den Himmel, weit, und der Wind wacht auf. Die Rotorblätter beginnen zu rudern, sie blitzen im Sonnenlicht und werfen lange Schatten.

Kuhköpfe schwimmen auf dem Weiß, und ein Lieferwagen schiebt sich durch das Nebelmeer, wie ein Schiff. In der Nähe mancher Häuser stoppt das Schiff, ein Arm langt aus dem Seitenfenster und lässt den Küstenkurier in einer blauen Zeitungsröhre verschwinden. Dann heult der Motor wieder auf und nimmt Kurs aufs nächste Haus. Die meisten Häuser sind verlassen, manche gar verfallen. Die Jungen zogen fort, nur ein paar Alte halten aus.

Die fromme Helene etwa. Die faltet ihre Runzelhände und spricht ein Morgengebet. Oder Eiermeier. Der torkelt in den Stall, ruft putt, putt, putt und füttert seine Hühner. Oder Krabbenkrischan. Der presst den Kopf noch mal ins Kissen und träumt den Traum vom großen Fang. Hermann Paster hustet Schleim aus seiner Kehle und fingert nach dem Zigarrenstummel von gestern Abend. Hinrich Jürgens, der Hüter des Eiergrogs, schlägt die ersten Eier auf. Und Moses Morawitz schlurft im Nachthemd durch den wilden Garten, bahnt sich einen Weg zur Straße und zieht die Zeitung aus der blauen Röhre. Dann schaut er auf die Uhr an seinem Arm und erschrickt. 4.45 Uhr!

SIE WAR EINFACH stehen geblieben. Am 1. September 1939. Die Zahnräder hatten am frühen Morgen, zwischen zwei Augenblicken, den Dienst verweigert, und das feine Ticken, dem der junge Mann so gern lauschte, war einer eigenartigen Stille gewichen, die ihn aus den Träumen riss und beunruhigte. Die müden Augen waren noch verklebt, er fuhr sich durch die wirren Haare und horchte. Es war so still!

Er schaute auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr. Der große Zeiger hatte sich soeben auf die 9 geschoben, der kleine fast die 5 erreicht. Es war 4.45 Uhr. Und es blieb 4.45 Uhr. Die Zeiger hatten plötzlich innegehalten, waren in den Streik getreten und in dieser Position erstarrt. Der junge Mann schüttelte seine Uhr, er drehte am Rad, klopfte auf den gläsernen Deckel und versuchte, ihr neues Leben einzuhauchen. Die Uhr aber lag wie tot an seinem Arm und schlief einen tiefen Schlaf, aus dem sie Jahre später erst erwachte...

Dass in eben diesem Augenblick, um 4.45 Uhr, der deutsche Reichskanzler sein schwarzes Bärtchen zittern ließ und zum Angriff auf Polen rief, das erfuhr der junge Mann erst später. Und er ahnte nicht, dass dieser 1. September der Beginn eines großen Krieges war, der die ganze Welt verbrennen sollte.

Und schon marschierten die Soldaten, und der junge Mann marschierte mit, die Luft war von Geschrei zerfetzt und vom Donner der Geschütze, Sirenen jaulten, Bomben rissen tiefe Krater, toter Qualm kroch aus Ruinen, und Menschen krümmten sich im Dreck und beteten zu Gott, doch der tanzte mit dem Teufel und schaute weg und schwieg, und der Tod schwang seine Sense, fünfzig Millionen Mal, die Erde riss das Maul weit auf, schluckte Blut und wurde rot, und die Zeit fraß Jahr um Jahr, und es war 4.45 Uhr, und es blieb 4.45 Uhr...

Und schließlich war die Welt verbrannt.

ER HAT EIN FEUER ENTFACHT. Im Ofen knackt das Holz und knistert. Der Kessel pfeift. Und Moses Morawitz kippt Kaffee in die Filtertüte, einen gehäuften Löffel pro Tasse und einen für die Kanne. Nichts gegen Wasser, pflegt der Alte zu sagen, aber ungleich wohlschmeckender sei es, wenn es die Färbung einer tiefschwarzen Nacht angenommen habe. Er gibt noch zwei, drei Löffel dazu, sicherheitshalber, gießt heißes Wasser übers braune Pulver und atmet den Duft tief ein.

Der breitet sich aus in seinem Kopf, wandert in die Lunge, kriecht in Arme, Beine, Hände, Füße und wärmt den alten Körper. Die Nase läuft, das Herz pocht schneller und hüpft in seiner Brust, als wolle es sich auf und davon machen, hopp, hopp, über Hof und Wiese, zur frommen Helene hinüber. Hiergeblieben, murmelt Moses Morawitz, schlürft seine schwarze Brühe, stippt hartes Brot hinein und greift nach dem Küstenkurier.

Unabhängige Tageszeitung mit der größten Auflage in der Nordermarsch, verkündet der Untertitel. Und schon flattern seine Augenlider, der Blick fliegt übers raschelnde Papier, springt von Zeile zu Zeile, von Seite zu Seite, versinkt im Meer der Familienanzeigen, rettet sich auf das weite Feld der regionalen Berichterstattung und taucht endlich im Letternsumpf der großen Politik unter.

Ab und zu taucht er wieder auf, der alte Morawitz, und holt Luft. Mal nickt er begeistert, mal zaust er seinen grauen Bart und kichert, und manchmal stöhnt er laut vor Schmerz. Schließlich knüllt er das Papier zusammen, schlägt es heftig auf den Tisch und seufzt. Höchste Zeit!

NOCH WAR ES NACHT. Der 7. Mai 1945 hatte gerade erst begonnen. Am Himmel zogen schwarze Wolkenfetzen, wie aus Papier gerissen. Ein fahler Mond hing da und sah sein Spiegelbild im Elbefluss. Der schob sich durch die große Stadt, diese Wüste aus Geröll, und wollte weiter bis zum Meer. Der junge Mann senkte den Blick. Wo einst Häuser standen, lagen Trümmer, und aus den Trümmern ragten Stuhlbeine, Reste von Schränken, Tischen, Türen, er entdeckte eine Puppe zwischen schweren Steinen, und in der Luft schwebten die Federn eines zerrissenen Kopfkissens, wie in Zeitlupe, als wüssten sie nicht wohin.

Der junge Mann wollte nach Hause, er sehnte sich nach Lene, nach der Mutter auch, und hoffte, dass es auf dieser Welt, die gänzlich aus den Fugen geraten war, noch Gleise gab und einen Zug, der Richtung Norden fuhr. Unter seinen Stiefeln knirschte der Schutt. Er war müde, unendlich müde, grub das Gesicht in beide Hände und sank in den Staub der Straße. Er schrie. Doch drang kein Laut aus seiner Kehle.

Der junge Mann krallte die Finger zu Fäusten, hob den Kopf und horchte in die Stille. Ratten fiepten. Eine Taube gurrte. Und ein feines Ticken hörte er, das kam von sehr weit her, aus einer andren Zeit. Er lauschte und schaute gebannt auf die Uhr an seinem Arm. 4.45 Uhr. Immer noch. Doch die Zeiger, die in Bewegungslosigkeit erstarrt waren, seit fast sechs Jahren schon, jetzt zitterten sie und krochen langsam vorwärts. Sie fanden ihren alten Rhythmus wieder und wanderten, einem Perpetuum mobile gleich, im Kreis, im Kreis, im Kreis. Der Mond warf fahles Licht vom Himmel, aus dem Dunkel wuchs unversehens die Bahnhofsuhr und zeigte 2.41 Uhr. Der junge Mann drehte am Rad seiner Armbanduhr und stellte die Zeiger entsprechend, dann schloss er die Augen.

Und er sah mit geschlossenen Augen, so als säße er dabei, dass in diesem Augenblick Generaloberst Jodl in Reims die bedingungslose deutsche Kapitulation unterzeichnete, und er sah den toten Körper des deutschen Reichskanzlers, der sich schon vor Tagen aus dem Leben gestohlen hatte und dessen schwarzes Bärtchen nie mehr zittern würde...