Achtung, Mädchen gesucht!

ist der erste Band der Reihe um die drei ungleichen Brüder Mike, Robin und Luke. Die beiden weiteren, bereits erschienenen Bände heißen:

Achtung, Jungs unterwegs!

Polarchaoten

Und der vierte Band ist bereits in Arbeit!

Weitere Informationen unter:

www.karen-susan-fessel.de

 

 

Karen-Susan Fessel, geboren 1964 in Lübeck, aufgewachsen in Siegburg/Mülldorf und Meppen/Ems, wusste schon mit fünf Jahren, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Und das klappte tatsächlich - nach dem Studium der Theaterwissenschaften, Germanistik und Romanistik in Berlin schrieb sie ihr erstes Buch, einen Erwachsenenroman mit dem Titel „Und abends mit Beleuchtung“, der auch prompt gedruckt wurde.

Seitdem hat Karen-Susan Fessel gut zwei Dutzend Bücher veröffentlicht, davon die Hälfte Kinder- und Jugendbücher. Viele ihrer Bücher wurden mit Preisen ausgezeichnet und in zahlreiche Länder übersetzt, zum Beispiel "Ein Stern namens Mama" (erstmals erschienen 1999), das in Japan zum Bestseller wurde, oder "Und wenn schon!" (2002), das für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 1

Habt ihr schon mal was gesucht?

Ich meine, so richtig gesucht, nicht nur hier nachgeguckt und da reingesehen, sondern so richtig gesucht? Mit stundenlangem Wühlen und Nachdenken, bis einem der Kopf raucht? Und dann findet man es trotzdem nicht, weil es einfach weg ist, futsch, auf Nimmerwiedersehen verschwunden? Ja?

Okay, das müsst ihr dann noch mit hundert multiplizieren und dann habt ihr ungefähr eine Ahnung, wie es mir ergangen ist. Und zwar einen ganzen Sommer lang! Über zwei Monate!

Dabei fing es so harmlos an, an einem ganz normalen Dienstagabend im Juni …

„Mike! Bist du mal so lieb und läufst schnell zu Wumpe rüber! Die Milch ist alle!“

Da hatten wir’s mal wieder. Die Stimme, die da rief, gehörte Mama. Und der, den sie rief, das war ich. Obwohl ich doch gerade auf dem Bett lag und las. Ein Comic. Ja gut, keine besonders gebildete Lektüre, aber na und? Lesen ist lesen, oder etwa nicht?

„Mike!“ Mamas Stimme wurde lauter.

„Kann Robin nicht?“, rief ich zurück.

„Nein“, schrie Robin aus Lukes Zimmer nebenan. „Ich lern Mathe! Das ist unheimlich wichtig!“

Komisch, irgendwie hat mein liebes Zwillingsbrüderchen Robin immer was Wichtiges zu tun und ich anscheinend nie. Aber egal – beklagen konnte ich mich nicht so richtig, denn immerhin war ich es, der die Milch ausgetrunken hatte. Auch wenn das keiner wusste.

„Na gut“, sagte ich und seufzte so laut, wie ich nur konnte, damit es auch ja alle hörten. „Ich geh ja schon!“ Grum-melnd schlurfte ich in die Küche.

Mama schnitt gerade Tomaten in Scheiben, und Luke, der am Tisch saß und malte, sah freudestrahlend auf.

„Mikey, guck! Super, oder?“ Er hielt mir sein Bild hin.

Ich warf einen Blick drauf. Sah gar nicht mal so schlecht aus, was er da hinlegte. Gute Umrisse, kaum übergemalt, schön bunt. Luke ist behindert, und das sieht man auf den ersten Blick. Aber malen kann er. Und fit im Kopf ist er auf seine Art auch. „Megasuper“, sagte ich und fischte den Fünfer vom Tisch, den Mama mir hingelegt hatte.

„Mike, du bist wirklich ein Schatz!“ Mama warf mir einen Kussmund zu.

„Klar bin ich ein Schatz“, brummte ich und schnappte mir Lukes Kappe, die rote mit dem asiatischen Schriftzeichen vorne drauf. „Leihst du mir die mal kurz für den Einkauf, Luke?“

„Meinetwegen“, sagte Luke gnädig. „Darf ich denn mit, Mikey?“

„Nein, mein lieber Luke“, sagte Mama energisch. „Du bleibst hier und hilfst mir beim Tischdecken!“

„Mit der blöden Krone da oben auf deinem Schädel würde ich dich eh nicht mitnehmen“, erklärte ich Luke.

Er zog einen Schmollmund. „Die muss ich aber aufhaben!“, sagte er und rückte seine selbst gebastelte Pappkrone gerade, die er schon seit mehreren Tagen fast ununterbrochen trug. „Ich bin doch der König!“

„Du bist der König, ich bin ein Schatz, und was ist dann bitte schön Mama?“

„Die Königinmutter!“, rief Luke begeistert. Mama musste lächeln.

„Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Ich bin einfach nur eure arme, geplagte Mutter. Die sich ganz furchtbar nach Milch sehnt!“

Bei Wumpe tobte mal wieder der Bär. Kurz vor Laden-schluss ist die Bude immer gerammelt voll mit gestressten Leuten, die eilig ihre Einkaufswagen vor sich herschieben, und ich musste höllisch aufpassen, dass ich nicht angefahren wurde.

Die Frischmilch war natürlich schon ausverkauft, also schnappte ich mir eine H-Milch und schlängelte mich zum Ausgang durch. An allen drei Kassen standen lange Schlangen, aber an Kasse zwei saß meine Lieblingskassiererin, die dünne Rothaarige, die immer so nett zu uns ist, besonders zu Luke. Ich stellte mich also dort an, direkt hinter einem dicken Mann mit Stiernacken, der seinen ganzen Wagen voller Billigbier und Schnaps geladen hatte und mürrisch vor sich hin brummelte.

Vor uns standen mindestens noch sechs oder sieben Leute, aber an den anderen Kassen sah es auch nicht besser aus. Ich vertrieb mir die Zeit damit, die Leute anzugucken und zu raten, was sie in ihren Wagen hatten (darin bin ich ganz gut, auf jeden Fall besser als Robin, von Luke sowieso ganz zu schweigen). Und ich war gerade endlich mal ein paar Zentimeter vorgerückt, als mir jemand von hinten mit seinem Wagen voll in die Hacke fuhr.

Schon mal einen Einkaufswagen in die Hacken gekriegt? Oder ein Skateboard, und zwar genau da, wo der Turnschuh hinten aufhört? Ja? Dann wisst ihr auf jeden Fall, wie höllisch weh das tut. Höllisch, wirklich!

Einen Moment lang sah ich nur Sterne. Dann fluchte ich los. „Ej, Scheiße, aua!“ Ich griff nach meinem Fuß und hüpfte herum. „Mann, verdammte Kacke!“

Und im nächsten Moment vergaß ich meinen schmerzenden Fuß gleich wieder. Ich vergaß auch, wie wütend ich war. Und ich vergaß sogar, weiter herumzuhüpfen. Statt dessen konnte ich nur dastehen und glotzen, mit offenem Mund. Denn vor mir stand das süßeste Mädchen der Welt.

Ungelogen, das süßeste Mädchen der Welt!

Sie sah mich schuldbewusst an. „Oh, Entschuldigung“, sagte sie. „Tut mir echt Leid, ehrlich!“

Nicht nur, dass sie so süß aussah, nein, sie hatte auch noch die süßeste Stimme der Welt!

Wahrscheinlich wirkte es total dämlich, wie ich da stand und glotzte, auf einem Bein, mit meinem Fuß in der einen Hand und der H-Milch in der anderen. Aber ich konnte es leider nicht ändern.

„Tut mir wirklich Leid“, wiederholte das Mädchen. „Ich war so in Schwung und die Dinger sind so schrecklich schwer zu lenken, weißt du!“ Sie zeigte auf ihren Einkaufswagen, in dem nur ein paar Sachen lagen, aber ich konnte sie immer noch nur anstarren.

Sie war etwas kleiner als ich und ungefähr gleichaltrig. Ihre dunklen, langen Haare waren in der Mitte gescheitelt, und sie hatte wunderschöne braune Augen und überhaupt ein total niedliches Gesicht. Und jetzt lächelte sie mich auch noch an. Ich musste schnell nach ihrem Einkaufswagen fassen, damit ich nicht umkippte. Natürlich fiel mir die H-Milch dabei fast runter, aber ich fing sie gerade noch auf.

„Hups!“, sagte das Mädchen und schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh Mann! Tut mir wirklich Leid, war keine Absicht. Hab ich dir wehgetan?“

Meine arme lädierte Hacke brannte immer noch wie Hölle, aber ich schüttelte natürlich den Kopf und versuchte, cool auszusehen. Keine Ahnung, ob mir das gelang. Wahrscheinlich nicht. „Nö“, krächzte ich schließlich. „Nö, überhaupt gar nicht.“ Und dann ließ ich endlich meinen Fuß los und stellte mich normal hin.

Das Mädchen lächelte immer noch. „Ach so, dann hast du nur einfach so rumgebrüllt?“

Ich musste schlucken. „Wie, ich hab gebrüllt?“

„Ja klar! ‚Aua, ej, Scheiße! Verdammte Kacke!‘“, machte sie mich nach. Leider kriegte sie das sogar richtig gut hin.

Ich spürte, wie ich rot anlief. „Echt, das hab ich gesagt?“

Sie grinste breit, und dabei zeigte sie eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. „Ja“, beteuerte sie. „Ja, echt!“

Tja, das sagen Robin und ich auch immer. Manchmal bringen wir Mama damit zur Weißglut. „Echt! Echt! Echt!“, rufen wir, solange, bis Luke auch noch einfällt und Mama die Augen zur Decke verdreht und uns alles mögliche androht, wenn wir nicht sofort mit dem Spektakel aufhören.

Und jetzt brachte das süßeste Mädchen der Welt genau diesen Spruch! Wenn das mal kein Zeichen war!

„He!“ Sie beugte sich vor und tippte mir auf den Schirm.

„Nette Kappe! Bisschen klein vielleicht, sieht aber gut aus. Was bedeutet denn das da vorne drauf?“

„Öh … keine Ahnung“, sagte ich blöd. „Ist aber japanisch. Glaub ich zumindest.“

Sie lächelte schon wieder. „Cool. Aber jetzt solltest du trotzdem mal besser ein paar Schritte vorgehen, sonst stehen wir morgen früh hier noch rum.“

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Die Schlange war tatsächlich schon ein ganzes Stück vorgerückt, und der Mann mit dem Stiernacken machte bereits Anstalten, seine Bierflaschen auf das Laufband zu stellen. Also trottete ich wie benebelt ein paar Schritte vorwärts.

„Aber gehen kannst du schon noch, oder?“, fragte das Mädchen und schob ihren Wagen hinter mir her.

„Ja, sicher. Ist nicht so schlimm.“

Sie kicherte. „Na, dafür hast du aber ganz schön losgebrüllt!“

Wie, hielt sie mich etwa für eine Memme? „Ich hab mich bloß erschrocken“, sagte ich und riskierte rasch einen unauffälligen Blick in ihren Wagen. Lauter komisches Zeug lag drin: Schwarzbrot, Knäckebrot, eingelegte Spreewälder Gurken, Margarine, Cherrytomaten. Das einzige, was nicht dazupasste, war die Colaflasche.

Das Mädchen hatte meinen Blick mitbekommen. „Das ist nicht für mich“, sagte sie. „Ich kauf bloß für meine Oma ein.“

„Wär ja auch irgendwie schräg, wenn dir das Zeug da schmecken würde!“

„Och, Spreewälder Gurken esse ich gerne. Und Knäckebrot auch.“

„Echt?“

Sie lächelte schon wieder. „Ja“, sagte sie. „Echt. Guck mal, du bist dran!“

Der Mann mit dem Stiernacken schob bereits seinen Wagen davon, und die rothaarige Kassiererin lächelte mir freundlich entgegen. „Na, junger Mann, da war bei euch anscheinend die Milch zum Abendbrot alle, was?“, sagte sie und tippte mit schnellen Fingern den Preis ein. „Das macht 55 Cent. Grüß mal zu Hause, ja?“

„Sicher, mache ich.“

Es gab leider überhaupt keinen Grund, an der Kasse stehen zu bleiben. Also bückte ich mich und schnürte meine Turnschuhe neu, während die Kassiererin bei dem süßesten Mädchen der Welt abkassierte. Unauffällig betrachtete ich die Klamotten des Mädchens. Zu ihrem grünen Top trug sie ausgebleichte Jeans, mit einem Flicken am rechten Knie, und rote Chucks. Süße Klamotten, das auch noch!

Himmelherrgottnochmal, was konnte ich denn jetzt bloß sagen oder fragen? Das hatte ich jetzt davon, dass ich kein großer Redner bin. Bei uns zu Hause bin ich der Stillste von allen. Ich finde immer, die anderen quatschen genug. Luke ist eine totale Quasselstrippe, Robin labert auch ganz gern und wenn Mama in Fahrt kommt, na dann – gute Nacht.

Also, ich hör lieber zu. Manchmal schalte ich allerdings auch auf Durchzug, ist ja klar.

Aber jetzt hätte ich liebend gern etwas zu reden gewusst. Irgendwas, eine Frage, ein Spruch oder so. Nur leider fiel mir nichts ein. Absolut nichts. Und irgendwann sind auch die längsten Schnürsenkel zu Ende geknotet, also richtete ich mich schließlich wieder auf. Das Mädchen hatte schon fertig eingepackt und warf sich gerade ihren Rucksack über die Schulter.

„Tja, also dann – ich muss los“, sagte sie. „Meine Oma wartet schon. Aber noch mal: Tut mir Leid, dass ich dich angefahren habe!“

„Ja, nee, schon gut.“

Sie lächelte mich an, und mir wurde richtig schwach in den Knien. Ehrlich, ihr Lächeln war umwerfend, das könnt ihr mir glauben.

„Also dann“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Hier, kleines Trostpflaster. Und tschüss! Vielleicht sieht man sich ja mal wieder!“ Sie drückte mir etwas in die Hand, winkte zum Abschied und lief hinaus.

Ich starrte ihr einen Moment nach, dann sah ich vorsichtig auf meine Hand hinunter. Ein Milky Way lag drin, der Schokoriegel, ein ganz normales Milky Way, blau mit der Milchstraße drauf. Ich schob es in die Vordertasche meiner Kapuzenjacke, und dann wankte ich wie benommen zur Tür.

„Hallo, junger Mann!“, rief die Kassiererin mir hinterher. „Vergiss deine Milch nicht!“

„He, was ist los, Mike? Hast du einen Geist gesehen? Oder hast du dich verknallt?“, fragte Mama, als ich in die Küche kam. Manchmal denke ich wirklich, sie hat hellseherische Fähigkeiten. Irre, echt.

„Mike doch nicht!“, sagte Robin und stellte drei Teller auf den Tisch. „Der verknallt sich höchstens in seinen Gameboy.“

Ich streckte ihm die Zunge raus. Gameboy! Damit spiele ich doch schon seit Jahren nicht mehr! „Verwechselst du mich mit Luke, oder was?“

Robin lachte und schnitt mir eine Grimasse, und Luke, der uns beiden neugierig zugesehen hatte, sprang begeistert auf und zog sich die Ohren lang, um gleichzeitig mit den Augen zu rollen. Natürlich fiel ihm dabei seine dämliche Krone vom Kopf und genau in den Brotkorb, und Mama setzte die Salatschüssel mit einem harten Knall auf dem Tisch ab.

„Schluss damit!“, rief sie. „Hinsetzen, essen, sonst setzt es was, klar?“

Das war natürlich nur ein Spruch. Abgesehen davon, dass Mama hellseherische Fähigkeiten hat, ist sie auch noch die beste Mutter der Welt. Finde ich jedenfalls, und ich glaube, Robin und Luke sehen das genauso. Das einzige, was ich an Mama auszusetzen habe, ist, dass sie so selten zu Hause ist. Aber dafür kann sie ja nichts.

Mama arbeitet als Altenpflegerin in einem Seniorenheim nicht weit von uns entfernt, und sie hat ziemlich oft Nachtschicht. Da verdient man eben mehr, und das ist auch nötig, denn schließlich kommt sonst ja kein Geld rein. Unser Vater zahlt nicht für uns, schon seit hundert Jahren nicht mehr. Erst wollte er nicht, dann konnte er nicht. Und jetzt hat er ja eine neue Familie. Aber das ist eine andere Geschichte und nicht gerade mein Lieblingsthema.

„Nee, Mama, wir können noch nicht essen!“, rief Luke so aufgeregt, dass er ein wenig Spucke dabei versprühte. „Ich will Mike erst… erst meine Rolle vor… vormachen! Ja, Mike? Meine Rolle?“ Meine Antwort wartete er natürlich gar nicht erst ab, sondern er breitete die Arme aus und wedelte mit seinem Kostüm, einem roten Umhang mit weißem Besatz. Den hatte er selbst genäht, mit Mamas Hilfe natürlich, und er war unglaublich stolz darauf. „Also, ich komme so rein …“, er hüpfte zur Tür, verbeugte sich bis zu Boden und stolzierte dann mit ernster Miene auf mich zu, „und dann kommt da die Zo… Zo…“

„Zofe“, sagte Mama und schnitt eine Brotscheibe ab.

„Ja, Zofe! Da kommt eine Zofe, und da muss ich wieder so runter“, er verneigte sich erneut bis zum Boden, aber weiter kam er nicht, denn Mama gab ihm einen Klaps auf den Hintern und schob ihn in Richtung Tisch.

„Umhang aus, Luki“, befahl sie. „Den ziehst du erst wieder zur Aufführung an. Und dann hinsetzen!“

„Außerdem wirkt dein Vortrag sowieso viel besser mit Krone“, sagte Robin und grinste.

Luke griff auf seinen Kopf und blickte verdutzt drein. Robin hob den Brotkorb, in dem immer noch Lukes Krone lag.

„Bitte sehr!“

Luke langte nach seiner Krone und stülpte sie sich wieder auf den Kopf. Dann zog er seinen Mantel aus und hängte ihn sich über die Lehne, und wir setzten uns hin. Im Hintergrund brummte die Waschmaschine, und Mama pfiff geschäftig ein Liedchen, während sie noch ein paar Scheiben Brot schnitt und in den Korb legte.

„Cool, Tomatensalat!“, sagte Robin und haute sich eine Riesenportion auf den Teller.

Ich betrachte die Salatschüssel, die direkt vor meiner Nase stand. Normalerweise esse ich auch gern Tomatensalat, aber heute hatte ich absolut keinen Hunger. Mein Magen war wie abgeschnürt. Das lag an dem Mädchen. Ich muss die ganze Zeit an sie denken, und irgendwie war mir ganz komisch im Bauch.

„Lecker Tomaten!“, rief Luke. „Gib her, Robin! Gib!“

„Bitte heißt das“, sagte Robin streng.

„Bitte!“, rief Luke. „Bitte! Bitte! Gib, Robin! Bitte!“

„Jaja, schon gut! Willst du nichts oder was?“, fragte Robin mich und reichte die Schüssel zu Luke, als ich nur mit den Schultern zuckte. Luke stürzte sich sofort darauf, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen.

Mama betrachtete ihn schmunzelnd. „Lieber Luke, würdest du bitte deine Krone absetzen?“, sagte sie und blickte dann zu mir. „Und du bitte die Kappe.“

Mechanisch nahm ich das Basecap ab und legte es weg.

Mama sah mich immer noch an. „Was ist los, Mike? Geht‘s dir nicht gut?“

„Ich weiß nicht“, sagte ich zögernd. Irgendwie schien meine Stimme seltsam zu klingen, denn sowohl Luke als auch Robin hoben die Köpfe und sahen mich verwundert an. Im gleichen Moment fing die Waschmaschine laut an zu rumpeln, und dann knallte es plötzlich. Mama ließ ihre Brotscheibe fallen und sprang auf.

„Oh nein!“, rief sie entsetzt. „Nicht auch noch das!“

Jetzt ist es vielleicht angebracht, mal kurz von der Pechsträhne zu erzählen, die uns gerade erwischt hatte. Die Waschmaschine war nämlich schon Katastrophe Nummer drei. Als Erstes war zwei Wochen zuvor Mamas Fahrrad kaputtgegangen (ja, genau, das, mit dem sie immer zur Arbeit fährt!), und zwar so richtig: Kugellager hinüber, nichts mehr zu machen. Dann gab unser Computer den Geist auf (was vor allem Luke ärgerte, der damit besonders gern spielte), und nun war die Waschmaschine hinüber. Das war Robin, Mama und mir sonnenklar, als wir kurz darauf um sie herumstanden und die Buntwäsche betrachteten, die schlaff in der Lauge herumlag.

Mama drückte alle möglichen Knöpfe hintereinander und versuchte, die Tür zu öffnen, aber nichts ging. Absolut zero.

„Shit, meine Lieblingsjeans!“ Robin beäugte das Stück blauen Stoffs, das sich an die Glaswand der Trommel schmiegte. „Gefangen in der Trommel!“

„Na ja, die kriegen wir schon wieder raus“, sagte Mama.

„Man muss den Notstopp öffnen und dann ungefähr zwei Minuten warten …“ Sie sah auf ihre Uhr und schrie auf.

„Oh nein! Ich muss sofort los! Meint ihr beiden, ihr könntet …“

Robin und ich seufzten gleichzeitig auf. „Na klar“, sagten wir wie aus einem Mund.

„Ich helf auch!“, rief Luke aufgeregt. „Ich helf auch, ja?“

Mama sah uns der Reihe nach an. „Ach, Jungs“, sagte sie und lächelte schief. „Danke! Ihr seid echt meine Helden!“

„Und ich bin der größte Held!“, rief Luke und begann augenblicklich im Kreis herumzuspringen, mit wedelnden Armen, sodass sein Umhang durch die Küche fegte. „Der größte Held, oder, Mama?“

„Na klar“, nickte Mama. „Vielleicht nicht gerade der größte, aber der süßeste Held auf jeden Fall!“

„Und jetzt kannst du schon mal die Schüssel holen, Luki, die große aus dem Bad“, sagte Robin, und Luke flitzte davon.

Mama legte die Arme um Robin und mich. „Wenn ich euch nicht hätte!“

Wir wussten genau, was Mama meinte. Wenn wir nicht wären, ja, dann wäre es schwierig für Mama mit der Versorgung von Luke. Aber Robin und ich kümmern uns gerne um ihn. Auch wenn er manchmal echt nervt, unser Kleiner.

„Und um neun …“, fuhr sie fort.

… bringen wir Luki ins Bett“, sagten wir wieder wie aus einem Mund.

Robin und ich brauchten eine geschlagene Stunde, um die Waschmaschine aufzukriegen, die Wäsche rauszuholen, auszuwringen und aufzuhängen.

Währenddessen führte Luke uns dreimal hintereinander seine Rolle aus dem Theaterstück vor, für das er mit seiner Theater-AG gerade probte. Sie wollten es zum Ende der Sommerferien aufführen, und es machten nur Kinder mit, die in den Ferien zu Hause blieben. Soweit ich mitbekam, war es ein Stück, das sich die Gruppe selbst ausgedacht hatte. Es ging darin um einen König, sich in eine Prinzessin verliebt, die weit entfernt wohnt. Vor Liebeskummer isst der König lauter Sahnetorten, bis er so dick ist, dass er den Berg runterkullert und seiner Angebeteten genau vor die Füße und dann sind alle glücklich oder so ähnlich. Genau kapierte ich es nämlich nicht, weil ich gar nicht richtig zuhören konnte.

Erstens war ich ja schließlich mit der Waschmaschine beschäftigt. Und zweitens musste ich immer wieder an das Mädchen von Wumpe denken. Wie süß sie ausgesehen hatte!

Mir war richtig warm im Bauch, und gleichzeitig fühlte er sich irgendwie hohl an. Fast so, als ob ich Hunger hatte. Aber das stimmte gar nicht. Obwohl ich kaum was gegessen hatte.

„Seht ihr, alles wird gut!“, rief Luke schließlich zum dritten Mal und breitete die Arme aus. „Ich bin der glück… der glücklichste Mann auf der Welt!“

„Wunderbar“, seufzte Robin und hob die letzte Ladung nasse, ausgewrungene Wäsche hoch. „Und jetzt macht sich der glücklichste Mann der Welt bettfertig, okay?“

„Darf ich bei euch schlafen?“, bettelte Luke, und Robin und ich sahen uns an. Dann zuckten wir beide gleichzeitig mit den Schultern.

„Klar“, sagte Robin. „Oder, Mikey, was meinst du?“

„Klar“, sagte auch ich. „Sonnenklar, Baby!“

Um das mal aufzuklären: Unsere Wohnung ist nicht besonders groß, sie besteht aus drei Zimmern plus Küche und Bad. Ein Wohnzimmer ist bei uns Fehlanzeige – nein, Mama und Luke haben jeder ein eigenes Zimmer und Robin und ich teilen uns eins. Dass Luke ein eigenes Zimmer hat, obwohl er der Jüngste ist, liegt daran, dass er seine Ruhe braucht; jedenfalls sagt Mama das immer. Obwohl ich nicht gerade finde, dass Robin und ich nicht unsere Ruhe bräuchten. Aber vielleicht ist es tatsächlich besser so, denn unser guter Luki-Luke schnarcht und sabbert und brabbelt im Schlaf wie ein Weltmeister.

Aber ab und zu schläft er trotzdem bei Robin und mir mit im Zimmer, meistens, wenn Mama Nachtschicht hat (was, wie gesagt, ja ziemlich oft vorkommt). Und Schnarchen und Sabbern hin oder her, es ist trotzdem irgendwie ganz schön gemütlich, wenn Luke dann so auf seiner Matratze zwischen Robins und meinem Bett liegt, seinen Teddybär fest im Arm.

Das sind übrigens auch die Abende, an denen Robin und ich uns garantiert nie streiten. Dann quatschen wir über dies und das und machen Ratespiele und singen und irgendwann schläft Luke ein, immer als Erster. Wenn wir dann sein Geschnarche und Gegrunze hören, kichert Robin jedesmal, seufzt zufrieden und sagt leise zu mir:

„Nacht, Blödmann.“

„Nacht, Knallkopp.“

„Schlaf gut, Stoppelkopf.“

„Du auch, Zottelhaar-Robin!“

Robin kichert dann immer. „Also, penn man gut, Dämlack.“

„Selber.“

Dann ist eine Weile Ruhe, nur Luke schnarcht vor sich hin.

„Du, Mike?“, fragt Robin dann schließlich.

„Ja?“

„Schlaf schön.“

„Du auch.“

Normalerweise bin ich in solchen Momenten immer total zufrieden. Alles ist okay, Luke schnarcht leise neben mir, Robin liest noch ein Manga oder schläft gerade ein, Mama ist zwar nicht hier, sondern auf der Arbeit, aber eben trotzdem nicht weit, und uns allen geht’s gut.

Aber an diesem Abend war ich nicht richtig zufrieden. Ganz im Gegenteil. Ich war total nervös. Und ich fühlte mich seltsam.

Wie aufgezogen. In mir summte und brummte es nur so.

Als wär ich ein Kreisel.

Platt auf dem Rücken ausgestreckt lag ich da und hörte mit halbem Ohr zu, wie Robin und Luke miteinander über Robins Surfer-Plakat redeten, das er seit ein paar Wochen über dem Bett hängen hatte (Robin will unbedingt surfen lernen, wie unser Vater, der das prima kann und sogar Surflehrer ist. Aber ich glaube, da kann er lange drauf warten. Surfen kostet gigantisch, allein schon die Ausrüstung und dann noch das Reisen und so). Aber in Gedanken war ich woanders.

Bei diesem Mädchen natürlich!

Ich wusste eigentlich bloß, wie sie aussah (total süß!), was für eine Stimme sie hatte (eine total süße!), und dass sie gerne Spreewälder Gurken und Knäckebrot aß.

Na ja, und dass sie ‘ne Oma hatte, das auch. Für die sie einkaufen ging.

Nicht gerade reichlich Informationen.

Ich rollte mich zur Wand und befühlte vorsichtig meine Hacke. Sie war ein bisschen geschwollen und tat immer noch weh. Aber nur, wenn ich drückte.

Plötzlich fiel mir etwas siedendheiß ein. Ich setzte mich auf, griff nach meiner Kapuzenjacke und fasste in die Vordertasche. Wow, es war tatsächlich noch da!

Ich fischte das Milky Way heraus und legte mich wieder hin. Langsam drehte ich den weißblauen Riegel in meiner Hand hin und her.

Dieses Milky Way hatte sie angefasst. Und mir geschenkt. Ob sie mich auch gut fand? Ja, Lukes rote Kappe hatte sie gut gefunden, aber mich auch? Ob sie vielleicht sogar auch an mich dachte? Und ob ich das jemals herausfinden würde?

„He, Mike?“

Ich zuckte erschrocken zusammen und drehte mich um.

Luke war eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin, aber Robin hatte sich auf dem Ellenbogen aufgestützt und sah zu mir herüber.

„Ja?“, fragte ich und schloss die Hand um das Milky Way.

„Alles okay?“

„Ja, klar.“

„Was hast du denn da?“

„Wo?“

„Na da!“, sagte Robin. „Du hast doch was in der Hand, oder nicht?“

„Ach, das … Das ist bloß ein Milky Way“, sagte ich und spürte mal wieder, dass ich rot anlief.

Robin schüttelte den Kopf und knipste das Licht aus.

„Neues Kuscheltier, oder wie?“

„Blödian“, sagte ich und zog mir die Decke über den Kopf.

Nach ein paar Sekunden hob ich sie noch mal ein bisschen an und legte das Milky Way doch lieber vorsichtig auf meinen Nachttisch.

Kapitel 2

Mama schlief noch, als wir am nächsten Morgen aufstanden. Robin machte das Frühstück, während ich Lukes Pausenbrot schmierte. Kann er auch alleine, klar. Aber er freut sich immer, wenn er seine Brote gemacht bekommt. Dafür füllt er unsere Trinkflaschen auf, mit Sprudelwasser aus dem Automat. Das kann er gut. Auch wenn er meistens dabei rumkleckert.

„Mensch, Luki! Pass doch mal auf!“ Robin hatte schon den Lappen zur Hand. Luke versuchte, schuldbewusst dreinzublicken, aber natürlich musste er grinsen.

„War nicht extra“, flötete er und verbeugt sich zum Boden. Dann richtete er sich wieder auf, und seine Augen funkelten listig. „Wisst ihr was? Ich bin der … der glück… der glücklichste Mann auf der Welt!“

Robin verdrehte die Augen zur Decke. „Oh, Luke, verschon uns! Wann führt ihr euer Stück denn nun endlich auf?“

Luke runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern. Mit Zahlen und Daten hat er’s nicht so, das merkt man besonders beim Rechnen. Auch jetzt musste er sich ziemlich viel Mühe geben, bis er drauf kam. „Am 12. August“, rief er schließlich. „Das ist ein Samstag! Und dann noch mal eine Woche später! Das ist der … der … der 19. August!“ Luke strahlte, wie immer, wenn er was Schwieriges weiß. „Oder, stimmt doch, oder?“

Robin nickte. „O Gott, das sind ja noch über acht Wochen!“

„Zum Glück!“, rief Luke. „Da kann ich noch viel üben! Und wenn ich viel übe, dann … dann vergess ich meine Rolle ja nicht! Oder, Mike?“

„Klar“, sagte ich und musste über Robins abgenervte Miene echt lachen. „Ich wette, du wirst es perfekt hinkriegen!“

Heute war Robin dran, Luke zur Schule zu bringen. Seine Schule liegt gleich in der Nähe, unsere ist ein Stückchen weiter entfernt. Um Luke wegzubringen, muss man einen Schlenker machen, und deshalb wechseln wir uns damit meistens ab. An der Ecke bei Wumpe verabschiedeten wir uns.

„Wer holt mich ab?“, fragte Luke, der seine Krone ausnahmsweise mal nicht aufgesetzt hatte. Dafür aber seine Kappe, die rote mit dem japanischen Schriftzeichen. Ich hätte sie mir zu gerne noch mal geliehen, aber diesmal gab Luke sie nicht her.

Robin deutete mit dem Daumen auf mich. „Mike. Ich hab Film-AG.“

„Um vier! Da ist die Probe aus“, erinnerte mich Luke. „Du kommst um vier, oder?“

„Na klar! Wie könnte ich dich denn jemals vergessen, Nervbolzen!“ Ich zog Luke seine Kappe tief in die Stirn, und er schnippte sie naserümpfend wieder zurück.

„Mann, Mike! Das sollst du nicht immer!“ Er langte nach meiner Strickmütze, aber ich duckte mich weg und streckte ihm die Zunge raus.

„Tschüs, Kleiner!“ Dann klatschte ich Robin ab. „Ciao, Alter. Bis nachher!“