Titel der Originalausgabe:

Anthem

©1938, 1946, Ayn Rand

Die Veröffentlichung erfolgt mit Genehmigung von
Peikoff Family Partnership, LP
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LICHTSCHLAG 54

© Natalia Lichtschlag Buchverlag Grevenbroich 2020

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag: Lichtschlag Medien Düsseldorf

Printed in Germany.

ISBN: 978-3-939562-95-5

Books on Demand GmbH

HYMNE

Aus dem Englischen von Philipp Dammer

Das Ende der Welt

Sie existierten nur, um dem Staat zu dienen. Sie wurden empfangen in Paarungsheimen. Sie starben im Haus der Nutzlosen. Von der Wiege bis ins Grab war die Masse eins – ein großes Wir.

In allem, was an Menschlichkeit übrig war, wagte nur einer, zu denken, zu suchen und zu lieben. Er, Gleichheit 7-2521, verlor fast sein Leben, weil sein Wissen als verräterische Blasphemie angesehen wurde... Er hatte es wiederentdeckt, das verlorene und heilige Wort…

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Autorin

Diese Geschichte habe ich 1937 geschrieben. Ich habe sie für diese Auflage überarbeitet, die Überarbeitung aber auf den Stil beschränkt; ich habe einige Abschnitte neu formuliert und gekürzt. Keine Idee oder Begebenheit wurde heraus- oder hinzugenommen; das Thema, der Inhalt und die Struktur sind unberührt. Die Geschichte bleibt, wie sie war. Ihr Gesicht ist neu, nicht aber ihr Rückgrat oder ihr Geist; diese brauchten kein Lifting.

Einige, die die Geschichte in ihrer Urfassung lasen, sagten mir, dass sie unfair den Idealen des Kollektivismus gegenüber sei; dies sei nicht, was Kollektivismus predige oder beabsichtige; Kollektivisten meinten oder befürworteten solche Dinge nicht; niemand befürworte sie.

Ich möchte nur aufzeigen, dass die Parole „Produktion für den Verbrauch und nicht für den Profit“ heute von den meisten als Allgemeinplatz akzeptiert wird, als Allgemeinplatz, der ein legitimes, wünschenswertes Ziel ausdrückt. Falls irgendeine verständliche Bedeutung in dieser Parole steckt, dann nur die Idee, dass das Ziel der Arbeit eines Menschen die Bedürftigkeit anderer ist – nicht die eigene Bedürftigkeit, der eigene Wunsch oder der eigene Gewinn.

Zwangsarbeit wird heute in jedem Land der Welt praktiziert oder befürwortet. Worauf basiert sie, wenn nicht auf der Idee, dass der Staat am besten qualifiziert sei, zu entscheiden, wo ein Mensch für andere nützlich sein könne; dass dieser Nutzen der einzige Gesichtspunkt sei und seine eigenen Ziele, seine eigenen Wünsche und sein Glück als unwichtig ignoriert werden könnten?

Wir haben Räte für Beschäftigung, Räte für Eugenik, alle möglichen Räte, einschließlich eines Weltrates – und wenn diese noch keine absolute Macht über uns haben, liegt das an mangelnden Absichten?

„Gemeinwohl“, „gesellschaftliche Ziele“ und „gesellschaftliche Zwecke“ sind mittlerweile tagtägliche Plattitüden in unserer Sprache. Die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Rechtfertigung aller Aktivitäten ist heute selbstverständlich. Es gibt keinen noch so ungeheuerlichen Vorschlag, für den dessen Urheber nicht eine respektvolle Anhörung und Billigung bekommt, wenn er behauptet, dass er (irgendwie) dem „Allgemeinwohl“ diene.

Einige (nicht jedoch ich) mögen denken, dass es vor neun Jahren eine Entschuldigung dafür gab, nicht zu sehen, in welche Richtung die Welt gegangen ist. Heute ist der Beweis so offenkundig, dass niemand mehr eine Entschuldigung beanspruchen kann. Jene, die nicht sehen wollen, sind weder blind noch unschuldig.

Die größte Schuld liegt heute bei denen, die den Kollektivismus durch moralische Unterlassung annehmen; bei denen, die Schutz suchen vor der Notwendigkeit, für etwas einzustehen, indem sie sich weigern, sich selbst einzugestehen, was sie akzeptieren; bei denen, die Pläne unterstützen, die nur dafür entworfen wurden, Knechtschaft einzuführen, sich aber hinter der leeren Behauptung verstecken, dass sie die Freiheit lieben, ohne diesem Wort eine konkrete Bedeutung zu verleihen; bei denen, die glauben, dass der Inhalt von Ideen nicht untersucht werden müsse, dass Prinzipien nicht definiert werden müssten und dass Tatsachen ausgelöscht werden könnten, wenn man seine Augen geschlossen hält. Wenn sie sich dann in einer Welt aus Ruinen und Konzentrationslagern wiederfinden, erwarten sie, ihrer moralischen Verantwortung zu entkommen, indem sie jammern: „Aber das wollte ich nicht!“

Jene, die Sklaverei wollen, sollten den Anstand besitzen, sie beim Namen zu nennen. Sie müssen der vollen Bedeutung dessen ins Auge sehen, was sie befürworten oder dulden; die volle, exakte, spezifische Bedeutung des Kollektivismus, seine logischen Implikationen, die Prinzipien, auf denen er basiert, und die letzten Konsequenzen, zu denen diese Prinzipien führen.

Dem müssen sie ins Auge sehen und dann entscheiden, ob sie das wollen oder nicht.

Ayn Rand

April 1946

I

Es ist eine Sünde, dies zu schreiben. Es ist Sünde, Worte zu denken, die niemand anderes denkt, und sie zu Papier zu bringen, wo niemand anderes sie sieht. Es ist schlecht und böse. Es ist, als sprächen wir zu keinen anderen Ohren als unseren eigenen. Und wir wissen, dass es kein schlimmeres Vergehen gibt, als allein zu handeln oder zu denken. Wir haben die Gesetze gebrochen. Die Gesetze sagen, dass die Menschen nicht schreiben dürfen, außer wenn der Rat der Berufe es gebietet. Möge uns vergeben werden!

Jedoch ist dies nicht die einzige Sünde, die auf uns lastet. Wir haben ein größeres Verbrechen begangen, und für dieses Verbrechen gibt es keinen Namen. Welche Strafe uns erwartet, wenn wir entdeckt werden, wissen wir nicht, denn seit Menschengedenken ist kein solches Verbrechen vorgekommen, und es gibt keine Gesetze dafür.

Es ist dunkel hier. Die Flamme der Kerze steht still in der Luft. Nichts regt sich in diesem Tunnel, außer unserer Hand auf dem Papier. Wir sind allein hier unter der Erde. Allein! Ein schlimmes Wort. Die Gesetze sagen, dass kein Mensch allein sein darf, niemals und zu keiner Zeit, denn dies ist das große Vergehen und die Wurzel allen Übels. Doch wir haben viele Gesetze gebrochen. Und nun ist hier nichts außer unserem einen Körper, und es ist seltsam, nur zwei Beine auf dem Boden ausgestreckt zu sehen, und auf der Wand vor uns nur den Schatten unseres einen Kopfes.

Die Wände haben Risse, und Wasser läuft in dünnen Fäden an ihnen herab, lautlos, schwarz und glitzernd wie Blut. Wir stahlen die Kerze aus der Vorratskammer im Haus der Straßenkehrer. Wir würden zu zehn Jahren im Palast der Besserungshaft verurteilt, sei es entdeckt. Aber das zählt nicht. Es zählt nur, dass das Licht wertvoll ist, und wir würden es nicht verschwenden, um zu schreiben, da wir es für die Arbeit brauchen, die unser Verbrechen ist. Nichts zählt außer der Arbeit – unsere geheime, unsere böse, unsere wertvolle Arbeit. Aber wir müssen auch schreiben, da – möge der Rat uns gnädig sein – wir einmal nur zu unseren eigenen Ohren sprechen wollen.

Unser Name ist Gleichheit 7-2521, wie es auch auf dem eisernen Armband steht, das alle Menschen an ihrem linken Handgelenk tragen, mit ihrem Namen darauf. Wir sind einundzwanzig Jahre alt. Wir sind sechs Fuß groß, und dies ist eine Last, da nur wenige Menschen sechs Fuß groß sind. Immer haben die Lehrer und die Führer auf uns gedeutet, die Stirn gerunzelt und gesagt: „Es ist Böses in deinen Knochen, Gleichheit 7-2521, da dein Körper über die Körper deiner Brüder hinausgewachsen ist.“ Aber wir können weder unsere Knochen noch unseren Körper ändern.

Wir sind mit einem Fluch geboren. Er hat uns immer zu Gedanken getrieben, die verboten sind. Er hat uns immer Wünsche eingegeben, die Menschen nicht haben dürfen. Wir wissen, dass wir böse sind, aber es gibt keinen Willen und keine Macht in uns, zu widerstehen. Dies ist unser Erstaunen und unsere geheime Angst, die wir kennen und der wir nicht widerstehen. Wir bemühen uns, wie alle unsere Brüder zu sein, da alle Menschen gleich sein müssen. Über dem Portal des Palastes des Weltrates sind jene Worte in Stein gemeißelt, die wir für uns wiederholen, wann immer wir versucht sind:

„Wir sind in allem eins und eins in allem.

Es gibt keine Menschen außer dem großen WIR,

Eins, unteilbar und ewig.“

Wir wiederholen es für uns, aber es hilft uns nicht.

Diese Worte wurden vor langer Zeit eingemeißelt. Es liegt Grünspan in den Rillen der Worte, und es sind gelbe Streifen auf dem Marmor, von mehr Jahren, als Menschen zählen können. Und diese Worte sind die Wahrheit, da sie auf dem Palast des Weltrates stehen, und der Weltrat verkörpert alle Wahrheit. So ist es seit der Großen Wiedergeburt gewesen, und weiter als das kann keine Erinnerung reichen.

Aber wir dürfen nie von den Zeiten vor der Großen Wiedergeburt sprechen, sonst werden wir zu drei Jahren im Palast der Besserungshaft verurteilt. Nur die Alten im Haus der Nutzlosen flüstern nachts davon. Sie flüstern viele seltsame Dinge, von den Türmen, die in den Himmel ragten, in jenen Unerwähnbaren Zeiten, und von den Wagen, die ohne Pferde fuhren, und von den Lichtern, die ohne Flamme brannten. Aber diese Zeiten waren böse. Und diese Zeiten endeten, als die Menschen die Große Wahrheit sahen: dass alle Menschen eins sind und dass es keinen Willen gibt, außer dem gemeinsamen Willen aller Menschen.

Alle Menschen sind gut und weise. Nur wir, Gleichheit 7-2521, wir allein wurden mit einem Fluch geboren. Wir sind nicht wie unsere Brüder. Und wenn wir zurückblicken auf unser Leben, sehen wir, dass es immer so war und er uns Schritt um Schritt zu unserem letzten, größten Vergehen gebracht hat, dem Verbrechen unserer Verbrechen, verborgen hier unter der Erde.

Wir erinnern uns an das Haus der Säuglinge, wo wir zusammen mit allen Kindern der Stadt lebten, die im gleichen Jahr geboren wurden, bis wir fünf Jahre alt waren. Die Schlafsäle waren weiß und sauber und leer, bis auf einhundert Betten. Damals waren wir noch wie alle unsere Brüder, bis auf unser eines Vergehen: Wir stritten mit unseren Brüdern. Es gibt kaum schlimmere Vergehen, in welchem Alter und aus welchem Grund auch immer. Der Rat des Hauses sagte es uns, und von allen Kindern dieses Jahres wurden wir am häufigsten in den Keller gesperrt.

Als wir fünf Jahre alt waren, wurden wir ins Haus der Schüler geschickt, in dem es zehn Stationen gibt, für zehn Jahre des Lernens. Die Menschen müssen lernen, bis sie fünfzehn sind. Dann gehen sie zur Arbeit. Im Haus der Schüler standen wir auf, wenn die große Glocke im Turm läutete, und wir gingen zu Bett, wenn sie erneut erklang. Bevor wir unsere Kleider auszogen, standen wir im großen Schlafsaal, und wir hoben unseren rechten Arm und sagten zusammen mit den drei Lehrern am Kopf der Reihe:

„Wir sind nichts. Die Menschheit ist alles.

Wir leben durch die Gnade unserer Brüder.

Wir leben durch, von und für unsere Brüder,

die der Staat sind. Amen.“

Dann schliefen wir. Der Schlafsaal war weiß und sauber und leer, bis auf einhundert Betten.