Hansen, Konrad Die Rückkehr der Wölfe

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Erstes Kapitel

An einem Winterabend des Jahres 1644 klopfte ein junger Mann an die Tür des Pastorats in Schönberg und bat, zum Herrn Pastor vorgelassen zu werden. Er war über und über mit weißem Staub bedeckt, was er der Magd, die ihm öffnete, damit erklärte, dass er den letzten Teil des Weges auf einer Fuhre Segeberger Kalks zurückgelegt hätte. Im Studierzimmer händigte er dem Pastor ein Schreiben des Preetzer Klosterprobsten aus, in dem zu lesen war, dass Jobst Steen, dies der Name des Überbringers, für unbestimmte Dauer im Pastorat wohnen, daselbst an den Mahlzeiten teilnehmen und Pastor Scheele als Adjunkt zur Hand gehen sollte. Den Geistlichen wandelte Zorn an, als er die Zeilen seines Patronatsherren las. Für einen seiner berüchtigten Ausbrüche war er indes zu müde; er hatte schon die zweite Nacht schlaflos verbracht. Daher beließ er es bei einem ärgerlichen Schnaufen.

Die Magd führte Jobst in eine Kammer neben der Küche. Sie maß fünf Schritte in der Länge und vier in der Breite, der Fußboden war mit Seesand bestreut. Es gab dort einen Tisch, einen dreibeinigen Hocker, eine Bank und, hinter Vorhängen in der Längswand verborgen, ein muffig riechendes Bett. Waschen könne er sich im Spülstein, das tue sie auch, sagte die Magd, die ihn für ihresgleichen hielt.

Wohin hat es mich nur verschlagen, schrieb er an jenem Abend in sein Tagebuch. Er hatte es in schwarzes Leder binden lassen, so dass es einem Gesangbuch glich oder einem Kompendium frommer Texte. Man sollte ihm nicht ansehen, dass es Geheimnisse barg, Aufzeichnungen, die für keines anderen Auge bestimmt waren, die Zwiesprache eines Menschen mit sich selbst. Im Lauf der Jahre füllte Jobst Hunderte von Blättern mit seiner zierlichen Schrift. Jeden Abend machte er sich die Gegenwart erträglicher, indem er sie als etwas Vergangenes beschrieb.

Und so schilderte er nun den Verlauf der Reise von Rostock nach diesem gottverlassenen Dorf. Alles in allem war er neun Tage unterwegs gewesen, die Aufenthalte in Segeberg und Preetz mitgerechnet. War eine Reise im Winter an sich schon eine Strapaze, so geriet der letzte Teil zur Höllenfahrt. In der weißen, von Stürmen durchtobten Einöde schien es nicht Weg noch Steg zu geben, schrieb er. Das Fuhrwerk versank bis zu den Radnaben im Schnee, der Bauer flüchtete sich zu mir unter die schützende Plane, Gott allein weiß, wie die Pferde ihren Weg gefunden haben. Vom Dorf sah ich nichts, bei meiner Ankunft herrschte tiefe Dunkelheit. Wohin hat es mich nur verschlagen, schloss er.

Er legte sich angekleidet auf das Bett und bedeckte sich mit seinem Mantel. In der Küche schürte jemand das Feuer. Die Magd, mutmaßte Jobst. Er wünschte, sie käme zu ihm. Er hatte Angst, allein im Dunkel zu liegen, er fürchtete sich vor undeutbaren Geräuschen, vor bösen Träumen. Aber sie kam nicht. Er hörte sie über den Lehmfußboden schlurfen, eine Tür fiel ins Schloss. Wie stets vor dem Einschlafen sah er Gesichter. Ratssyndikus Pistorius musterte ihn mit eisigem Blick, seine schöne Frau Felicia bot ihm, von der Liebe erhitzt, ihre Lippen dar, der Klosterprobst Otto von Buchwaldt zwirbelte verdrossen die Spitzen seines Schnurrbarts.

 

Spät in der Nacht weckte ihn eine Stimme. Es war die Stimme eines Mannes, der den Teufel beschwor, ihn aus seinen Klauen zu lassen. Die Worte gingen in Ächzen und Stöhnen unter, so dass Jobst Ohrenzeuge eines Ringkampfes zu sein glaubte. Dies geschah, schien es ihm, kaum eine Armlänge entfernt auf der anderen Seite der hölzernen Wand. Gegen Morgen schreckte er abermals aus dem Schlaf. In der Küche schepperten Töpfe, De Sünn is oppegahn, sang es zwischen Schnauben und Prusten, obschon es noch finster war. Der Duft heißer Hafergrütze stieg ihm verlockend in die Nase. Wie lange war es her, dass der Klosterprobst ihn mit Rauchfleisch, Wurst und Bier bewirtet hatte, ein Tag, zwei Tage oder drei? Ein Lichtstrahl stach ins Dunkel. »Bist du wach?« flüsterte es durch den Türspalt. »Ich habe dir was zu essen hingestellt. Gib mir deinen Mantel, ich will sehn, ob ich ihn sauberkriege.«

Auf dem Küchentisch stand ein Napf mit dampfender Grütze. Mittendrauf schmolz ein Stück Butter. Jobst zog Gräben in die Grütze, so hatte er es als Kind gemacht.

»Wer schläft neben meiner Kammer?« fragte er die Magd.

»Keiner«, antwortete sie, »schlafen tut da keiner.« Als wolle sie ihn für die Neugier seines Besitzers strafen, drosch sie mit verbissener Wut auf Jobsts Mantel ein. Wolken von Kalkstaub wirbelten auf. Die Magd hatte sich die braunen Zöpfe wie Schneckengehäuse um die Ohren geflochten. Sie war, wenngleich noch sehr jung, schon breit in den Hüften, eine kaum dem Kindesalter entwachsene Matrone. »Der Herr Pastor darf nichts davon wissen, dass ich dir zu essen gegeben habe«, sagte sie. »Er wird sehr böse, wenn einer vorm Morgengebet was isst.« So bedächtig, wie sie sich bewegte, sprach sie auch. Sie kaute die Wörter, bevor sie ihr vom Munde gingen.

»Lebt ihr allein im Haus, der Pastor und du?« fragte Jobst.

»Ich allein mit dem Herrn Pastor?« entgegnete sie erschrocken. Oh nein, Gott behüte, nicht um alles in der Welt wolle sie mit dem Herrn Pastor allein unter einem Dach wohnen! Sie goss warmes Wasser in eine Schüssel. »Darin kannst du dich waschen«, sagte sie. »Wasch dir wenigstens das Gesicht, du siehst zum Fürchten aus.« Im Hinausgehen nannte sie ihren Namen: Elsche.

 

Als der Morgen dämmerte, trat er vor die Tür. Von den Gehöften rings um den Dorfanger, klobige Schneehaufen vor schneeschwangerem Himmel, stiegen Rauchschleier auf. Im kahlen Geäst eines Wäldchens lärmten Krähen, in der Ferne grummelte das Meer. Ein Pferdeschlitten glitt vorüber. Der Mann auf dem Kutschbock hob grüßend die Peitsche. »Kehrt nicht zu sehr den Studiosus hervor«, hatte der Klosterprobst ihm geraten. »Die Probsteier sind ein stolzer Menschenschlag, sie können es nicht leiden, wenn sich einer etwas Besseres dünkt.«

Ein Schwall wohliger Wärme überflutete seinen Rücken. »Komm rein«, hörte er Elsche sagen, »du holst dir den Tod da draußen.«

Am Küchentisch saß ein bleiches Männchen, die Lider verquollen vom Schlaf. Er war nur wenig älter als Jobst, aber seine Züge zeugten von schwächlicher Gesundheit und heimlichen Lastern »Gott zum Gruße«, rief er, als Jobst eintrat. »Setzt Euch zu mir und lasst uns gemeinsam unser Leid beklagen. Denn wie ich erfahren habe, ist uns beiden das nämliche Los beschieden.« Darauf streckte er Jobst seine Hand hin und sagte, er sei Thomas Pale, seines Zeichens Diakon. Letzteres wolle indes nichts weiter besagen, als dass er ein geistlicher Handlanger sei. Im Altertum hätten sich die Hohepriester Sklaven gehalten für die Verrichtung niederer Dienste eine ähnliche Stellung nehme er bei Pastor Scheele ein. »Doch damit genug von mir«, unterbrach er sich, »lasst nun hören, was Ihr ein junger Herr aus gutem Hause, wenn der Augenschein nicht trügt, in diesem entlegenen Winkel zu suchen habt.«

Etwas in den Zügen des Diakons warnte Jobst, sich allzu freimütig zu äußern. So erzählte er, dass sein Lebenswandel bei den sittenstrengen Rostockern Anstoß erregt habe und er demzufolge sein Heil in der Flucht habe suchen müssen. Um seine Familie nicht in die Sache hineinzuziehen, habe er sich statt nach Hamburg in das Kloster zu Preetz begeben, wo man ihm, so sei ihm bedeutet worden, fürs erste Unterschlupf gewähren würde. Der Klosterprobst habe ihn jedoch nach kurzer Unterredung aufgefordert, nach Schönberg weiterzureisen und dem dort amtierenden Pastor ein Handschreiben des Herrn von Buchwaldt zu übergeben.

Er habe es gelesen, bekannte der Diakon. »Mea culpa, mea maxima culpa!« rief er, mit aneinandergelegten Händen um Vergebung bittend. »Ich wollte etwas in der Epistel des Paulus an die Korinther nachschlagen, da sah ich das Schreiben auf dem Tisch liegen. Womit habt Ihr Euch das Wohlwollen des Klosterprobsten erworben? Er gilt sonst als nicht sehr gefällig. Nein, es geht mich nichts an«, fiel er sich abermals ins Wort. »Ich habe Gott auf Knien gelobt, meine Neugier zu bezähmen. Denn Neugier ist aller Sünden Anfang, dies auch Euch zur Mahnung, Herr Adjunkt!«

»Ist er ein Herr wie Ihr?« fragte die Magd verwundert.

»Ja und nein«, erwiderte der Diakon. »Dem Herkommen nach steht er wahrscheinlich über mir. Andererseits wird der Titel eines Diakons nur Studierten zuerkannt, wohingegen jeder Pferdeknecht sich ungestraft Adjunkt nennen dürfte. Damit trete ich Euch doch nicht zu nahe, Herr Adjunkt?«

Weshalb flößt ein Mensch uns auf den ersten Blick Vertrauen ein, während beim andern eine innere Stimme zur Vorsicht rät? notierte Jobst am Abend. Bei Thomas Pale verspüre ich ein körperliches Unbehagen, vergleichbar dem, das mich nach dem Genuss fetter oder zu scharf gewürzter Speisen befällt. Als ich ihn reden sah, kam mir der Satz in den Sinn: Man lügt mit dem Mund, aber mit dem Maule, das man dabei macht, sagt man doch die Wahrheit. Zuweilen lächelt er ohne erkennbaren Grund oder begleitet seine Worte mit einem Mienenspiel, das im Betrachter die unangenehme Empfindung eines Missklangs auslöst. Ich muss auf der Hut vor ihm sein.

Das Morgenmahl wurde, wie die übrigen Mahlzeiten auch, wintertags im Studierzimmer eingenommen. Es war kleiner und somit leichter zu beheizen als die Diele, wo man sich in der wärmeren Jahreszeit zum Essen versammelte. Nach dem Pastor betrat seine Frau den Raum. Sie war ein gutes Dutzend Jahre jünger als ihr Mann, ging aber, damit der Altersunterschied nicht zu sehr ins Auge springe, nach Art älterer Frauen gekleidet. Gleichwohl wirkte sie neben ihrem Gatten wie das blühende Leben.

»Du siehst, liebe Margreta«, sagte der Pastor, nachdem er unter dem Porträt des Reformators Platz genommen hatte, »einen Gast an unserem Tisch. Der Herr Klosterprobst hat geruht, ihn mir als Adjunkt beizugeben. Wie ich dem Schreiben Seiner Gnaden entnommen habe, heißt er Jobst Steen und stammt aus Hamburg. Bleibt zu hoffen, dass ich eine Tätigkeit finden werde, die er nutzbringend auszufüllen vermag.«

Für die Dauer eines Herzschlags hob die Pastorenfrau den Blick und schaute Jobst geradewegs in die Augen. Er erschrak, so tief durchdrang ihn ihr Blick. Gleich darauf aber, als sie die Augen niederschlug, meinte er, einer Täuschung erlegen zu sein.

»Sofern der Adjunkt über hinlängliche Bildung verfügt, wüsste ich ein Amt, das man ihm unter Umständen anvertrauen könnte«, ließ sich der Diakon vernehmen.

»Wir werden sehen«, erwiderte der Pastor. Von den Wendungen, mit denen er sich eine Einmischung zu verbitten pflegte, war dies die höflichste.

»Der derzeitige Inhaber –«, hob dessen ungeachtet Thomas Pale wieder an.

»Herr Diakon!« polterte der Pastor, während ihm das Blut in die Wangen schoss, »es steht Euch nicht zu, mir Ratschläge zu erteilen! Nicht jeder, der aus Hamburg kommt und, aus welchen Gründen immer, die Protektion des Klosterprobsten genießt, ist zum Schulmeister berufen!«

Der Diakon biss sich auf die Unterlippe; der Löffel zitterte in seiner Hand. Die Rolle des geprügelten Hundes ist ihm zur zweiten Natur geworden, schrieb Jobst in sein Tagebuch. In Gegenwart des Pastors schrumpft Thomas Pale sichtlich in sich zusammen; stets in Erwartung eines Tadels oder eines Donnerwortes nimmt er vorsorglich die Haltung des Gemaßregelten ein.

»Womit, glaubt Ihr selbst, könntet Ihr mir von Nutzen sein?« wandte sich Pastor Scheele an Jobst.

»Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht«, versetzte dieser nach kurzem Besinnen. »Gemeinhin obliegt die Entscheidung, was ein Adjunkt zu tun hat, jenem, dem er adjungiert ist.«

»Höre ich womöglich einen Juristen reden?« fragte der Pastor argwöhnisch.

»Die Jurisprudenz ist mir trotz emsiger Bemühung ein Buch mit sieben Siegeln geblieben«, erwiderte Jobst. »Daher habe ich mich später der Theologie zugewandt.«

Der Diakon verschluckte sich und wankte nach Atem ringend aus dem Zimmer, die Miene des Pastors spiegelte schieres Erstaunen. »Der Herr Klosterprobst schickt mir einen Theologen als Adjunkt?« rief er mit einer Lautstärke, dass Elsche dienstwillig zur Tür hereinschaute. »Was soll ich nebst dem Diakon noch mit einem weiteren Theologen, zumal ich selbst schon unter diesen Heiden der Rufer in der Wüste bin?« Dabei sah er seine Frau an, als erwarte er Antwort von ihr. Doch sie hielt den Blick gesenkt und schwieg. »Wärt Ihr ein Schnittker, könntet Ihr die Türen und Fenster ausbessern«, fuhr der Pastor fort, »auch ein Schmied käme mir recht, denn wo der Seewind nicht am Gemäuer frisst, frisst er am Eisen, aber ein Theologe, wozu soll mir ein Theologe dienen?«

Johannes Scheele untermalte seine Worte mit ausgreifenden Gebärden. Diese Gewohnheit war ihm nicht angeboren, sondern aus der Erkenntnis erwachsen, dass Worte einer sichtbaren Stütze bedürfen, damit sie in den Köpfen einfacher Menschen haftenbleiben. Er wählte waagerechte Gesten für alles Irdische, während die senkrechten dem Allerhöchsten vorbehalten waren und seinem Widerpart. Aus beiden entstand gelegentlich das Kreuz. Nur selten gestattete er sich Abweichungen in die Schräge, und so gut wie nie kam es vor, dass er Bögen schlug. So sprach er auch auf Jobst Steen beim ersten gemeinsamen Morgenmahl mit klaren Worten und geraden Gebärden ein. Margreta, seine Frau, schwieg zu allem. Als Jobst aber einmal zu ihr hinsah, begegnete er wieder ihrem bohrenden Blick.

»Die Buchwaldts sind eine weitverzweigte Sippe«, sagte der Pastor. »Wie man hört, reichen ihre verwandtschaftlichen Verbindungen bis nach Hamburg und Bremen. Habe ich in Euch möglicherweise einen Verwandten des Herrn Klosterprobsten zu sehen?«

»Ich bin sicher, dass mir mein Ziehvater, wäre dem so, davon erzählt hätte«, antwortete Jobst.

»Nun denn, Gott befohlen«, sagte Pastor Scheele, indem er die Schüssel mit einer Geste des Widerwillens von sich schob. »Leg mir frisches Zeug raus, liebe Margreta, ich bin zum Herrn Klosterprobst bestellt. Elsche soll meine Stiefel einfetten, es sieht nach Tauwetter aus. Euch, Herr Steen, empfehle ich einen Spaziergang durchs Dorf, damit Ihr einen ersten Eindruck von Land und Leuten gewinnt. Der Diakon wird Euch begleiten. Habt Ihr gehört, Herr Diakon?« rief er laut.

Thomas Pale kehrte, noch immer hüstelnd, ins Studierzimmer zurück. »Ja, Herr Pastor«, sagte er, indem er den Kopf einzog.

Unterdessen war die Morgendämmerung einer diffusen Helligkeit gewichen. Ein lauer Wind drückte den Herdrauch zu Boden, der Schnee backte klumpig an den Schuhen, von den tief herabgezogenen Reetdächern tropfte Schmelzwasser. Sie stiegen auf den Kirchhügel, der sich über der Au-Niederung fast wie ein Berg ausnahm und als solcher in den Ortsnamen eingegangen war. Er sei bei Hochwasser in weitem Umkreis der einzig sichere Platz, erläuterte der Diakon und beschwor das Bild einer von den Wogen umspülten Insel, auf der sich Mensch und Vieh zusammendrängen. Wie in anderen Dingen gab Thomas Pale auch hier seinem Hang zur Übertreibung nach. Indessen erblickte man vom Kirchhügel nach drei Seiten hin das Meer, wenn man dem Dorf den Rücken zukehrte. Ein Zipfel Land vor der Unendlichkeit des Meeres, trug Jobst abends in sein Tagebuch ein.

»Im Vertrauen, Herr Kollega«, sagte der Diakon, während sie sich den Weg durch eine Schneewehe bahnten, »es traf mich wie ein Schlag zu hören, dass Ihr Theologe seid. Ich muss doch nicht befürchten, dass Ihr mich auf höhere Weisung ersetzen sollt?«

Weder stehe dies in seiner Absicht, noch habe der Klosterprobst derartiges verlauten lassen, antwortete Jobst. Überdies sei er nicht berechtigt, das Amt eines Diakons zu versehen, da er aus den erwähnten Gründen nicht dazu gekommen sei, die erforderlichen Examina abzulegen.

Die Auskunft stimmte den Diakon heiter. Indem er vertraulich zwinkerte und seine Mahnung vor sündhafter Neugier kurzerhand in den Wind schlug, fragte er, womit Jobst denn um Himmels willen die Rostocker Bürger so gegen sich aufgebracht habe. »Nur zu, Herr Adjunkt, macht aus Eurem Herzen keine Mördergrube«, rief er vergnügt, »ich bin selbst kein Heiliger.« Doch dann hielt er unvermittelt inne, packte Jobst am Arm und sagte: »Lasst mich raten. So wie Ihr ausseht, ich will Euch nicht schmeicheln, aber welche Frau könnte Euch widerstehen! Ergo, es geht um eine Frau. Womöglich gar um eine verheiratete Frau? Ihr braucht nichts zu sagen, Herr Adjunkt, gebt mir nur ein Zeichen, dass ich auf dem richtigen Wege –«

»Wie viele Einwohner hat Schönberg?« fiel ihm Jobst ins Wort.

»Um die vierhundert«, entgegnete der Diakon, ohne sich im geringsten gekränkt zu zeigen. »Zum Kirchspiel gehören jedoch noch andere Dörfer, ich nenne exempli causa Krummbek, Stakendorf, Höhndorf, Fiefbergen, Krokau und Barsbek, so dass unser Sprengel gut und gern an die zwölfhundert Seelen zählt.«

Sie waren inzwischen vom Kirchhügel herab auf den Dorfanger gelangt. Vor den Ställen dampften Misthaufen, von Tür zu Tür tauschten zwei Frauen Neuigkeiten aus. Auf der gegenüberliegenden Seite des Angers stapfte eine dürre Gestalt durch den Schnee. Thomas Pale zog Jobst in einen Hauseingang. »Ich möchte nicht, dass er mich sieht«, flüsterte er. »Zu dieser Stunde ist er für gewöhnlich noch nüchtern und demzufolge nur mit Vorsicht zu genießen.«

»Wer ist das?« fragte Jobst.

»Der Dorn im Auge unseres gemeinsamen Brotherren«, erwiderte der Diakon und entblößte sein lückenhaftes Gebiss. »Ich spreche von Hinrich Wiese, Weber, Schulmeister und Trunkenbold in einer Person. Noch mehr als die Liebe zum Branntwein verübelt der Pastor ihm, dass Wiese seinen Kopf zum Denken gebraucht. Denn wisset und schreibt es Euch hinter die Ohren, Herr Adjunkt«, setzte der Diakon mit erhobenem Zeigefinger hinzu: »Nach Pastor Scheeles unerschütterlicher Überzeugung ist, wer denkt, für den Glauben verloren und somit ein Werkzeug des Teufels.«

Zum Schutz gegen Wölfe war das Dorf von einem Erdwall umgeben, auf dessen Krone man einen aus Reisig geflochtenen Zaun errichtet hatte. In die Umfriedung waren Tore eingelassen, jeweils benannt nach dem Dorf, das dem Tor am nächsten lag. Neben dem Stakendorfer Tor duckte sich, kaum höher als der Zaun, eine kümmerliche Kate. Aus der Klöntür, deren oberer Teil offenstand, gellten Kindergeschrei und das Keifen einer Frau. Der Diakon trat an die Tür und rief: »Komm her, Marlene. Hier ist einer, der dich kennenlernen möchte.«

Vor dem schummrigen Hintergrund wirkte ihr Gesicht leichenblass. Die Augen waren von schwarzen Haarsträhnen verdeckt, auf ihrer Oberlippe glitzerten Schweißperlen. Die Ärmel ihres groben Kleides hatte sie bis zu den Schultern hochgekrempelt. »Ich bin bei der Wäsche, was wollt ihr?« raunzte sie. »Dieser junge Herr kommt aus Hamburg und wird sich für eine Weile bei uns aufhalten«, sagte der Diakon. »Wie man unschwer erkennen kann, ist er ein Freund des zarten Geschlechts. Zeig ihm deine Brüste, Marlene.«

»Ich hab zu tun«, entgegnete die Frau.

»Zeig ihm wenigstens eine«, bat der Diakon. »Du gewinnst einen neuen Kunden, der junge Herr ist gut betucht.«

Marlene knüpfte das Kleid auf und holte eine ihrer Brüste hervor. Währenddessen lauschte sie angestrengt ins Dunkel, offensichtlich beunruhigt über das plötzlich verstummte Geschrei.

»Man sollte sich bei Dirnen immer zuerst den Busen anschauen«, sagte der Diakon. »Am Busen erkennt man, ob sie ihren Preis wert sind. Was schätzt Ihr, wie viel Marlene verlangt?«

»Bedeckt Euch, gute Frau«, stammelte Jobst. »Verzeiht mir, dass ich dem Verlangen des Herrn Diakons nicht sogleich widersprochen habe.«

»Wie redest du mit mir?« fragte die Frau. »Redet man so mit einer Hure?«

»Marlenes Mann ist im Krieg«, sagte der Diakon. »Die Schweden haben ihn zum Kriegsdienst gepresst. Oder waren es die Kaiserlichen?«

»Weiß nich«, sagte die Frau. »Was tut’s auch, wer ihn mitgenommen hat, weg ist weg.«

»Ihr dürft von Marlene keine Kunststücke erwarten«, sagte der Diakon, als sie weitergingen. »Sie macht es so, wie sie es mit ihrem Mann gemacht hat, und der wollte es immer auf die gleiche Art. Wie gefällt Euch übrigens unsere holde Wirtin?«

»Ich begreife nicht, wie Ihr im gleichen Atemzug von der Frau des Pastors reden könnt«, versetzte Jobst ungehalten.

»Die Gedanken gehen manchmal verschlungene Wege, aber selten lenkt sie der Zufall«, sagte der Diakon verschmitzt. »Sie ist, was auch den Altersunterschied erklärt, Pastor Scheeles zweite Frau; die erste ist von der Pest dahingerafft worden.« Er dämpfte seine Stimme zu einem Tuscheln: »Sie schlafen nicht, wie es unter Eheleuten üblich ist, im gleichen Bett. Der Pastor schläft auf der Ofenbank. Was soll man davon halten, Herr Adjunkt?«

Er redet, wie die sprichwörtliche Katze um den heißen Brei geht. Er sagt nichts, auf das man ihn festnageln könnte. Er legt Fäden aus und überlässt es dem anderen, sie zu verknüpfen. Bisweilen erregt er mir solchen Abscheu, dass ich ihn schlagen möchte.

»Glaubt nur ja nicht, mir sei entgangen, wie sie Euch bei Tische angesehen hat«, fuhr der Diakon fort. »Da kann einem schwindlig werden, nicht wahr? Oh, Ihr seid nicht der erste, dem sie tief in die Augen geblickt hat, Herr Adjunkt! Habt Ihr wahrhaftig gedacht, Ihr wärt der erste? Um es rundheraus zu sagen: Auch ich war schon das Ziel solcher Blicke. Nicht dass ich mir darauf etwas einbilde, ganz und gar nicht. In der Not frisst der Teufel Fliegen, ich weiß, ich weiß. Aber ich möchte Euch vor der Hybris bewahren, dass Ihr und nur Ihr allein einer sittsamen Frau unschickliche Blicke entlocken könnt.«

»Ich bin froh zu hören, dass Ihr der Pastorenfrau immerhin noch Sittsamkeit zubilligt«, gab Jobst bärbeißig zurück.

»Das Thema ist Euch unangenehm, wir wollen nicht mehr davon reden«, sagte der Diakon. Er klopfte an die Dielentür eines größeren Bauernhauses. Eine stattliche Frau mit strengen Gesichtszügen öffnete.

»Ist Euer Mann schon auf?« fragte Thomas Pale. »Der junge Herr möchte dem Bauernvogt seine Aufwartung machen.«

»Kommt rein«, sagte die Frau. Der beißende Geruch schwelender Buchenspäne schlug ihnen entgegen. Eine Armlänge über ihren Köpfen hingen dicht an dicht Würste und Schinken von den Deckenbalken herab. Durch die Rauchschwaden tappend gelangten sie in die mit dunklem Holz getäfelte Wohnstube. Am Fenster saß, mit dem Rücken zum Licht, ein alter Mann. Er hielt ein mit Holzschnitten bebildertes Buch auf den Knien.

»Was ich in meiner Sterbestunde am meisten bedauern werde, ist, dass ich nicht Lesen gelernt habe«, sagte er. »So kann ich mir nur die Bilder ansehen und muss mir die Geschichten dazu denken. Aber ich weiß nicht, ob es die richtigen Geschichten sind.«

»Vielleicht kann Euch der junge Herr hin und wieder etwas vorlesen, Claus Ladehoff«, sagte der Diakon. »Jobst Steen ist nämlich ein Studierter, wenn auch ohne akademischen Grad.«

»Dafür bin ich zu alt«, entgegnete der Bauernvogt. »So viel Zeit bleibt mir nicht mehr, dass ich all die ausgedachten Geschichten aus dem Kopf kriege und die wahren hinein.« Er reichte Jobst die Hand und fragte: »Was geht vor, draußen in der Welt?«

Er sei aus Angst um sein Leben vor allem nachts gereist und abseits der großen Straßen, erzählte Jobst. So habe er die Bilder des Grauens nicht mit jener bestürzenden Deutlichkeit wahrgenommen, wie sie sich bei Tage darböten. Gleichwohl habe ihn das Ausmaß der Zerstörung bis ins Innerste aufgewühlt. Ganze Landstriche hätten ihn an die ersten Zeilen der Bibel erinnert, wo geschrieben stehe: Und die Erde war wüst und leer. In den verbrannten Dörfern habe sich kein Leben mehr geregt, nicht einmal Getier, das sich von Aas zu ernähren pflege, habe er dort noch vorgefunden. Beim Anblick der ersten Siedlung, in der Menschen gewesen und ihrer gewohnten Tätigkeit nachgegangen seien, habe sich seiner das Gefühl bemächtigt, er kehre aus dem Totenreich ins Diesseits zurück.

»Wir verdanken es unserer abseitigen Lage, dass wir bisher verschont geblieben sind«, sagte der Bauernvogt. »Aber sie werden auch uns heimsuchen.« Er blätterte in dem Buch, schlug eine Seite auf und winkte Jobst näher. »Seht her, junger Mann: Der Geharnischte hat Tod und Teufel im Gefolge, die drei sind unzertrennlich. Wer vom Geharnischten nicht um sein Hab und Gut gebracht wird und vom Sensenmann nicht ums Leben, fällt dem Satan zum Opfer, und das ist von allen Übeln das schlimmste. Denn der Teufel will unser heiligstes Gut, ein Gut, das ungleich wertvoller ist als Besitz und Leben, er will unsere Seele.«

»Ihr hättet einen guten Pastor abgegeben, Claus Ladehoff«, sagte der Diakon, indem er ihm gönnerhaft auf die Schulter klopfte. »Aber gebt acht, dass Ihr Pastor Scheele nicht ins Gehege kommt. Wo es um den Leibhaftigen und seine schändliche Brut geht, lässt er sich von niemandem ins Handwerk pfuschen.«

»Er hätte es verdient, dass wir ihm mit größerer Achtung begegnen«, sagte der Bauernvogt. »Wenn dereinst die Gerechten vor Gottes Antlitz gerufen werden, wird Johannes Scheele unter ihnen sein.«

Draußen presste sich der Diakon die Faust in den Mund und erstickte ein Kichern. Es hatte zu schneien begonnen, dicke Flocken klatschten Jobst ins Gesicht. Er wünschte sich zurück in seine Dachkammer an der Faulen Grube, linkerhand der Stapel abgegriffener Folianten, zur Rechten der bullernde Ofen. Er wünschte, er wäre weitergegangen, als Felicia ihm den Schlag ihrer Kutsche geöffnet hatte. Gedankenverloren stolperte er über einen Baumstumpf, der Diakon fing ihn auf. »Was ist Euch, Herr Adjunkt? Schlaft Ihr im Gehen?«

»Der Schnee beißt mir in die Augen«, entgegnete Jobst. »Vermutlich leidet er an einer bestimmten Schwäche«, sagte Thomas Pale über die Schulter hinweg. »Was könnte sonst der Grund sein, dass er mit keiner der beiden Frauen ein Kind gezeugt hat?«

Es kam selten vor, dass Jobst in Zorn geriet. Wenn dies aber geschah, gab er ihm ungehemmt nach. »Ich bin es leid, mir Eure zweideutigen Bemerkungen über Pastor Scheele anzuhören, Herr Diakon!« fuhr er ihn an. Ein Hund, der sich ihnen zutraulich nähern wollte, machte sich mit eingeklemmtem Schwanz davon.

»Recht so, kommt nur aus Euch heraus«, sagte der Diakon. »Ich dachte schon, Ihr begnügtet Euch damit, männliche Schönheit zur Schau zu stellen. Doch im Zorn wirkt Ihr durchaus leidenschaftlich. Wir wollen den Rundgang mit einem Gläschen Branntwein beschließen. Erlaubt Ihr, dass ich Euch einlade, Herr Adjunkt?«

Die Schankstube befand sich im Haus des Klostervogts Hans Untied. Da allein sechs der Schönberger Bauern Untied hießen, wurde er wegen seiner trippelnden Gangart Hans Flinkfoot genannt. Man sagte ihm nach, dass er sich das Recht, Schnaps zu brennen, auf ähnliche Weise beschafft habe wie das Amt des Klostervogts: durch Speichelleckerei und fragwürdige Gefälligkeiten.

Kaum dass sie an einem der Tische aus schweren Eichenbohlen Platz genommen hatten, begann der Wirt, einen schmierigen Lappen zu schwingen. Er fuhr mit ihm über Tische und Bänke, wischte Gläser aus und Spinnweben fort, und da er vor lauter Eifer ins Schwitzen kam, wischte er sich zwischendurch auch über Nacken, Stirn und Wangen.

»Gott zum Gruße, Hans Flinkfoot«, sagte der Diakon. »Hast du noch etwas vom Wacholder im Fass?«

»Für einen kleinen Schluck wird’s wohl reichen«, grinste der Wirt und zauberte unter fortwährendem Lappenschwenken zwei volle Becher auf den Tisch.

»Nun erteilt mir Absolution für alles, das mir unbedacht entschlüpfte, Herr Adjunkt«, sagte der Diakon. »Aber wie heißt es bei Matthäus? Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über.«

»Ex abundantia cordis os loquitur«, warf der Wirt beflissen ein. »Ganz recht«, sagte Thomas Pale. »Wir haben es in Hans Flinkfoot mit einem höllisch gebildeten Mann zu tun. Er hat die Kieler Lateinschule besucht, wenn auch gewissermaßen durch die Hintertür. Denn der Rektor schätzte Probsteier Mettwurst, und wenn Hans ihm eine gratis draufgab, durfte er ein Stündchen am Unterricht teilnehmen.«

»Suum cuique«, sagte Hans Flinkfoot, während er die Gläser von Neuem füllte und mit zweimaligem Klopfen zu verstehen gab, dass er dafür keine Bezahlung erwarte.

»Stellt Euch gut mit dem Klostervogt, und Ihr werdet über alles, was in der Probstei geschieht, auf dem laufenden sein«, sagte der Diakon. »Was Hans Flinkfoot nicht weiß, lohnt sich auch nicht zu wissen.«

Indem er wedelnd die Schankstube durchmaß, hin und wieder zur Tür trippelte und dort nach weiteren Gästen Ausschau hielt, berichtete der Wirt von seltsamen Vorfällen. Am Strand, nahe der Dorschbucht, sei ein Fisch mit zwei Köpfen gefunden worden, was nach der Überlieferung ein von See her drohendes Unheil bedeute. Hans Haunerland von Fernwisch sei um Mitternacht von einem riesenhaften Wolf verfolgt worden, der für die Fortbewegung nicht die Beine benutzt habe, sondern mittels zweier fledermausartiger Flügel geflogen sei. Außerdem habe der Wolf Feuer gespien und wild mit den Augen gerollt. Haunerland habe dem Untier eine halb volle Branntweinflasche in den Rachen geschleudert, worauf dieses grässlich heulend in Flammen aufgegangen sei. Auf dem Hof seines Vetters Jochim Arp käme die Milch an gewissen Tagen sauer und klumpig verdickt aus den Eutern seiner Kühe, und dies geschehe just zur gleichen Zeit, wenn seine Magd Gesche Lamp unpässlich sei. Gestern nun habe Jochim Arp der Magd gedroht, er würde sie, falls dies noch einmal geschehe, wegen Zauberei verklagen.

Nachdem er seine Gäste solcherart mit Neuigkeiten versorgt hatte, sah sich Hans Flinkfoot berechtigt, seinerseits eine Auskunft zu erbitten. So fragte er, was Pastor Scheele im Fall des Schulmeisters Hinrich Wiese zu tun gedenke. Seit Martini hätten seine Schüler ihn nicht mehr nüchtern erlebt. Statt die Kinder im Katechismus zu unterweisen, lehre er sie, aus Flintstein Funken zu schlagen, das Bauchreden, eine hierzulande unbekannte Sprache und derlei Unsinn mehr. Auch erzähle man sich im Dorf, Wiese habe den Pastor wortspielerisch mit einem Afterwind verglichen.

Der Diakon bückte sich, um sein Schuhband fester zu knüpfen. Unter dem Tisch und somit den Blicken des Wirts entzogen, sah Jobst ihn feixen. Als er sich aber wieder aufrichtete, lag Zurechtweisung in seiner Miene. »Pastor Scheele hat den Herrn Klosterprobst schon verschiedentlich auf diese Missstände aufmerksam gemacht«, sagte er. »Doch Herr von Buchwaldt behandelt den Trunkenbold unerklärlicherweise mit Nachsicht. Wie also kann der Pastor etwas unternehmen, solange der Klosterprobst seine Hand über Hinrich Wiese hält?«

»Dafür gibt es durchaus eine Erklärung«, sagte der Wirt, während er vom ziellosen Wischen zu emsigem Rubbeln überging. »In jungen Jahren war Hinrich Wiese Reitknecht bei Herrn von Buchwaldt, der damals noch kein Klosterprobst, sondern ein rechter Hansdampf in allen Gassen war. Es heißt, der Knecht hätte dem Junker aus so mancher Klemme geholfen. Kurzum«, schloss Hans Flinkfoot, »manus manum lavat.«

»Da hört Ihr’s, Herr Adjunkt«, sagte der Diakon. »Ihr werdet dieses Haus in aller Regel klüger verlassen, als Ihr hereingekommen seid. Mit jedem Schluck von Hans Flinkfoots Wacholder dringt Ihr ein Stück tiefer in Zusammenhänge ein, die ein Fremder sonst nicht durchschauen würde.«

»Hat sich in Eurer Sache etwas getan?« fragte Hans Flinkfoot den Diakon, als er sie zur Tür geleitete.

»Ich weiß, du bist sehr um mein Fortkommen besorgt, und dafür danke ich dir«, entgegnete Thomas Pale. »Ich fürchte indes, der Diakon wird sich noch auf meinem Grabstein wiederfinden.« Danach lachte er bitter auf und ballte, halb im Ärmel verborgen, die Faust.

Gegen Mittag kehrten sie ins Pastorat zurück. Da der Herr Pastor außer Haus sei, werde am Abend warm gegessen, richtete Elsche ihnen aus, bis dahin möge man sich je nach Belieben an Brot und Wurst oder gepökeltem Fisch gütlich tun. Jobst begab sich in seine Kammer. Sie kam ihm anheimelnder vor als am Morgen, irgendetwas hatte sich verändert. Auf dem Tisch gewahrte er ein gehäkeltes Deckchen, und das Bett war frisch bezogen. Wie ihm schien, hatte auch das kleine Bild zuvor nicht an der Wand gehangen. Es war ein bunt ausgemalter Holzschnitt, Eva im Zwiegespräch mit der Schlange, während Adam augenfällig Bedenken trug. Das Bild hätte er bemerkt, wäre es am Morgen schon dort gewesen.

Elsche steckte den Kopf zur Tür herein: »Wollt Ihr nichts essen?« Und als Jobst den Kopf schüttelte, trat sie hinter ihn: »Gefällt Euch das Bild?«

»Hast du es da aufgehängt?« fragte Jobst.

»Ich hab nur das Bett bezogen«, sagte die Magd. »Das übrige hat sie gemacht.«

Als Elsche gegangen war, dachte Jobst, er hätte fragen müssen, wer mit sie gemeint sei. So erweckte er den Eindruck, die Antwort zu kennen, und dies gab Anlass für weitere Vermutungen.

Eva, die Schlange und der Apfel. Welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist. Der Sündenfall. Weshalb gerade dieses Bild? dachte Jobst. Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Schneefall war dichter geworden. Eine Weile konnte er noch die Umrisse des Nachbarhauses erkennen, dann versanken auch diese im wirbelnden Weiß.

Lange nach dem Dunkelwerden kehrte der Pastor heim. Johannes Scheele war missgestimmt und gab sich keine Mühe, es zu verhehlen. Nachdem er das Tischgebet gesprochen hatte, fiel kein weiteres Wort mehr.

Ich fühlte ihren Blick auf meinem Gesicht. Aus Angst, dass sich unsere Blicke kreuzen könnten, starrte ich die ganze Zeit auf meinen Teller. Ich komme mir lächerlich vor. Meine Befangenheit dieser völlig fremden Frau gegenüber kann ich mir nur damit erklären, dass ich ein gebranntes Kind bin. Was berechtigt sonst zu der Annahme, die Pastorenfrau könnte ähnliche Absichten hegen wie die lebenslustige Gattin des Ratssyndikus?

Tief in der Nacht wurde Jobst im Schlaf von Unruhe ergriffen. Als er erwachte, schlug ihm das Herz bis zum Hals. So ging es ihm oft, wenn er schlecht geträumt hatte. Aber diesmal hatte ihn kein Traum erschreckt, sondern das Gefühl, dass neben ihm, jenseits der dünnen Holzwand, jemand war. Jobst glaubte, ihn atmen zu hören, flach und stoßweise. In das Atmen mengte sich ein wortloses Stammeln. Dann ein unterdrückter Schrei, hastige Schritte, Gläsernes zerbarst mit lautem Knall. Etwas später glitt ein Lichtschein durch die Kammer, jemand schien draußen mit einer Laterne vorbeizugehen.

Beim Morgenmahl trug Scheele einen Verband an seiner Rechten. Die Frage des Diakons nach Ursache und Art der Verletzung wehrte er mit unwirschen Gesten ab. Doch Elsche hatte die Eheleute in der Schlafkammer miteinander reden hören. Während sie sein Bett aufschüttelte, erzählte sie Jobst, der Herr Pastor habe nächtens die Fratze eines Dämons gesehen. Als der Unhold nicht, wie es der Pastor mit starken Worten verlangt habe, verschwunden sei, habe der Pastor nach ihm geschlagen, nicht ahnend, dass zwischen ihm und dem Dämon das Fenster war.

»Was tut der Pastor nachts in dem Raum neben meiner Kammer, wenn er dort nicht schläft?« fragte Jobst die Magd.

»Das war früher die Geschirrkammer«, sagte Elsche. »Da hegt noch immer allerhand Zeug rum, was man für die Pferde braucht. Auch Peitschen«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu. Als ob seine Frage damit beantwortet sei, ging sie hinaus. Doch gleich darauf kam sie zurück und sagte, der Herr Pastor erwarte Jobst im Studierzimmer.

»Da Ihr nun einmal hier seid und voraussichtlich für länger bleiben werdet«, hob Johannes Scheele ohne Umschweife an, »nehme ich mir das Recht, Euch zur Person zu befragen und mit Euren Auskünften jene zu ergänzen, die mir Seine Gnaden gab. So erfuhr ich, dass Ihr ein Findelkind seid und nach der Gemarkung, in der man Euch aussetzte, den Namen Steen erhieltet. Die ersten Monate kamt Ihr im Waisenhaus des Klosters unter, dann aber – und hier stellt sich in Eurer Vita zum ersten Mal die Frage nach dem Grund – gab Euch die Priörin im Einverständnis mit dem damaligen Klosterprobst nach Hamburg in die Familie des Tuchhändlers van der Meulen. Warum, Herr Steen? Wie erklärt Ihr Euch die Bevorzugung, die meines Wissens noch keinem anderen Findelkind zuteil wurde?«

»Die Antwort muss ich Euch schuldig bleiben, Herr Pastor«, sagte Jobst. »Wenn ich meinen Ziehvater mit diesen und ähnlichen Fragen bedrängte, versicherte er mir hoch und heilig, dass ihm aufgetragen sei, mir für gutes Geld eine gute Erziehung zu geben, mehr wisse er nicht und mehr wolle er nicht wissen.«

»Und das Geld kam vom Kloster zu Preetz?«

»Ich nehme es an.«

Der Pastor versank eine Weile in Grübeln, bevor er fortfuhr: »Ihr habt in Hamburg das Akademische Gymnasium besucht und Euch anschließend in der Universität zu Rostock immatrikuliert. Nach anderthalb Jahren mehr oder weniger emsigen Studiums saht Ihr Euch gezwungen, Rostock Hals über Kopf zu verlassen. Der Herr Klosterprobst sprach andeutungsweise von einem Verstoß gegen Sitte und Moral, womit Ihr Euch die erbitterte Feindschaft eines einflussreichen Rostocker Bürgers zugezogen hättet. Vermute ich richtig, dass Ihr gegen das zehnte Gebot verstoßen habt, Herr Steen?«

Jobst fühlte Ärger in sich aufsteigen. Aber er fasste sich und schwieg.

»Schon gut, ich bestehe nicht auf einer Antwort. Erklärt mir statt dessen, weshalb Ihr im Kloster zu Preetz Unterschlupf gesucht habt. Was zog Euch zu dem Ort, an den Ihr Euch unmöglich erinnern könnt?«

»Man riet mir, mich nach Preetz zu wenden, da besagter Rostocker Bürger in Hamburg eine Reihe guter Freunde habe.«

»Wer riet es Euch?«

»Dieselben Leute, denen ich es verdanke, dass ich unbeschadet aus Rostock entkommen bin.«

»Was wisst Ihr über diese Leute? Wer waren sie, was bewog sie, Euch zu helfen?«

»Ich habe sie weder gefragt, noch haben sie von sich aus irgendwelche Auskünfte gegeben.«

Johannes Scheele strich sich nachdenklich über das Gesicht. »Seine Gnaden hat Euch inständig meiner Obhut empfohlen«, sagte er. »Das Kloster wird für Eure Unterbringung und Beköstigung aufkommen. Ich soll dafür Sorge tragen, dass Ihr die Probstei nicht verlasst, denn nur innerhalb des klösterlichen Bezirks könne der Herr Klosterprobst Eure Sicherheit gewährleisten. Hand aufs Herz, Herr Steen: Macht Euch so viel Fürsorge nicht auch stutzig?«

»Nicht so sehr, dass ich mir darüber das Gehirn zermartern müsste.«

»Nun ja, das mag sowohl auf Eure Jugend als auch darauf zurückzuführen sein, dass Ihr der Nutznießer seid«, sagte Pastor Scheele. »Ich hingegen kann Ungewissheit nicht ertragen. Mein ganzes Wesen ist auf Klarheit gerichtet. Denn wo keine Klarheit herrscht, nistet sich das Böse ein.« Sein Blick heftete sich auf das Bildnis des Reformators. Der Firnis war von feinen Rissen durchzogen, so dass Luthers Gesicht gesprungenem Porzellan ähnelte. Davor Pastor Scheeles kantiger Schädel: Dieser Mann warf nicht mit Tintenfässern, er drosch mit der bloßen Faust auf das Teufelsgelichter ein.

»Wie firm seid Ihr im Kleinen Katechismus?« fragte der Pastor.

»Ihr brächtet mich in Verlegenheit, wenn Ihr nach anderem als den Zehn Geboten fragtet«, bekannte Jobst.

»Ich möchte, dass Ihr Euch die fünf Hauptstücke einprägt, und zwar auf Punkt und Komma, Herr Adjunkt. Aber bevor Ihr geht, noch ein Wort im Vertrauen.« Er sog die schmalen Lippen ein, was eine sorgfältige Wortwahl verhieß. »Ich bin ein Mann, der, wo es um den Glauben und die Kirche geht, keine Halbheiten duldet. Damit habe ich mir unter den Hiesigen mehr Feinde als Freunde gemacht. Nun gibt es aber einen, der die Kluft zwischen meiner Gemeinde und mir noch zu vertiefen sucht, indem er mich verunglimpft, wann immer er eine Gelegenheit dafür findet. Dies berührt mich umso schmerzlicher, als gerade er mir zu Dankbarkeit verpflichtet wäre. Denn wie oft schon habe ich den Mantel des Schweigens über seine Verfehlungen gebreitet. Doch er gibt keine Ruhe, er will meine Autorität untergraben, und um das zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht.« Mit einem plötzlichen Ruck warf er den Kopf in den Nacken, durchbohrte Jobst mit einem Blick aus seinen eisgrauen Augen, hob das eckige Kinn. Es war die gleiche Geste, mit der er von der Kanzel Aufmerksamkeit forderte, wenn da unten getuschelt und gekichert wurde oder Müdigkeit die Köpfe beugte. »Ich will Euch den Umgang mit Hinrich Wiese nicht verbieten. Ihr sollt selbst entscheiden, wessen Partei Ihr ergreifen wollt, Herr Adjunkt. Wenn Ihr Euch aber aus freien Stücken entschieden habt, müsst Ihr auch dafür geradestehen.«

»Es überrascht mich, dass Ihr in dem Schulmeister einen ernst zu nehmenden Kontrahenten seht«, sagte Jobst.

»Menschen wie er sind vortrefflich geeignet, das Gehäuse für einen anderen zu sein, ihm ihren Geist, ihre Zunge zu leihen«, entgegnete der Pastor. Jobst ahnte dunkel, wen er mit dem anderen meinte. Der Gedanke erschien ihm indes so absonderlich, dass er sich durch eine Nachfrage zu blamieren fürchtete. Doch unversehens sollte er Gewissheit erlangen.

»Wie ein schwächlicher Körper empfänglich ist für Krankheiten, so ist es ein sündiger Mensch für den Satan«, fuhr der Pastor fort. »Hinrich Wiese trägt den Keim des Bösen in sich. Eines nicht allzufernen Tages wird der Antichrist ihn ganz in seinen Klauen haben. Und dann gnade Gott ihm und allen, die zu ihm halten!« Die letzten Worte sprach er in feierlichem Ton, den Blick zur Decke gerichtet. So bemerkte er nicht, dass hinter ihm das Bildnis des Doktor Martin Luther von der Wand fiel. Der Pastor schrak zusammen, als es auf den Boden schlug, und beäugte verstört den Nagel, der schräg nach unten gebogen aus der Wand ragte.

»Behemoth«, stammelte er. »Das war Behemoth, der Schelm unter den Dämonen.« Mit zittrigen Fingern drehte er den Nagel herum und hängte das Bild wieder auf. Jobst kam es vor, als ob der Reformator abgründig lächelte; vermutlich hatte sich die Leinwand durch den Aufprall verzogen.

»Noch etwas«, sagte der Pastor, nachdem er sich gefasst hatte: »Ihr werdet beim Gottesdienst rechts neben der Kanzel sitzen, und zwar so, dass Ihr die Gemeinde im Auge behalten könnt. Ich möchte, dass Ihr Euch die ärgsten Unruhestifter merkt und sie mir nach dem Gottesdienst beschreibt. Merkt Euch auch jene, die während meiner Predigt schlafen, denn ganz gleich, ob sie wirklich schlafen oder sich nur schlafend stellen, in jedem Fall versagen sie mir den schuldigen Respekt. Dies wird Eure erste Aufgabe sein, Herr Adjunkt. Und falls Ihr darin etwas Anrüchiges sehen solltet, dann lasst Euch gesagt sein, dass es die heilige Pflicht eines Christen ist, im Hause Gottes jeglicher Unbotmäßigkeit Einhalt zu tun.«

 

Am Sonntag saß Jobst auf dem Platz neben der Kanzel, während sich die Kirche allmählich füllte. Ihm war unbehaglich zumute im Schnittpunkt so vieler Blicke, er spürte, dass ihm Misstrauen entgegenschlug. Ihm gegenüber in der vorderen Reihe saß die Pastorenfrau, ein Stück weiter zur Wand hin der Diakon. Die alten Probsteier Bauerngeschlechter hatten ihre festen Plätze in den ersten Reihen. Dort saßen die Vollhufner Arp, Wiese, Stoltenberg, Lamp, Fink, Heuer, Mundt, Untied, Ladehoff, Vöge, Schneekloth, Göttsch und Sindt, hinter ihnen die Halbhumer und Kätner, die in der Mehrzahl dieselben Namen trugen, und dahinter die große Schar der Handwerker und Tagelöhner. Ganz vorn am Gang, der die Bankreihen teilte, war ein Platz leer. Diesen nahm, wenn er noch rechtzeitig den Weg vom Wirtshaus zur Kirche fand, der großspurige Hans Haunerland von Fernwisch ein. Er galt als der reichste unter den Bauern, wenngleich die Quelle seines Reichtums im dunkeln lag.

Am Verhalten der Gottesdienstbesucher war abzulesen, dass die Gemeinde in zwei Lager gespalten war. Die einen sammelten sich ernst und schweigsam, Gottes Wort zu vernehmen, die anderen, deutlich in der Überzahl, setzten ungerührt ihre Plaudereien fort, als Pastor Scheele mit langen Schritten zum Altar eilte. Er begann zu beten, rang betend um Fassung, doch er wurde seines hitzigen Temperaments nicht Herr. Mit dröhnender Stimme befahl er Ruhe, wies die lautesten Klatschmäuler namentlich zurecht und weckte im Häuflein seiner Getreuen die Besorgnis, er könnte, wie schon einmal, aus schierer Wut einen Herzanfall erleiden.

Von der Kanzel ging er dann mit den Sündern ins Gericht, indem er mit deutlichen Worten so wenig sparte wie mit ausgreifenden Gebärden, waagerechten zumeist, aber auch senkrechten, wo es die Anrufung des Höchsten gebot. Statt biblische Gleichnisse zu wählen, griff er Vorfälle aus dem dörflichen Leben auf, um darzulegen, was Gottes Missfallen erregte. Nicht gottgefällig war, dass die Probsteier Bauern ihre Säue in den Pastoratswald trieben. Nicht gottgefällig war, dass ein Muhs eine Muhs, ein Schlapkohl eine Schlapkohl ehelichte, damit nicht Land vom eigenen Land in den Besitz einer anderen Familie gelangte. Nicht gottgefällig war, dass man betrunken in die Kirche kam und zwischen den Grabsteinen sein Wasser abschlug. Nicht gottgefällig war, dass etliche der Anwesenden ihre fleischlichen Begierden woanders stillten als bei den eigenen Weibern. Am allerwenigsten aber konnte es Gott gefallen, dass einer – und da jeder wüsste, wer gemeint sei, wolle er auch seinen Namen nennen –, dass also Hinrich Lamp seinen Amtsbruder in Probsteierhagen, Pastor Laurentius, gebeten habe, die Klopfgeister aus seinem Haus zu vertreiben. Als ob er, Johannes Scheele, nicht imstande sei, dem dämonischen Gelichter mit Gottes Hilfe das Handwerk zu legen! Hier und jetzt, vor der versammelten Gemeinde möge Hinrich Lamp begründen, weshalb er sich an einen auswärtigen Pastor gewandt hatte statt an ihn, den hiesigen Geistlichen. »Sall ick?« fragte Hinrich Lamp die neben ihm sitzenden Bauern. Und als diese zustimmend nickten, rief er zur Kanzel empor: »Der ist Euch über, Herr Pastor. Dem könnt Ihr nicht das Wasser reichen. Den haben sie sogar schon nach Kiel geholt, als es im Schloss gespukt hat.«

Johannes Scheele verzog das Gesicht, als habe ihn ein heimtückischer Hieb getroffen. Für kurze Zeit war die Gemeinde geeint in gespannter Erwartung. In diesem Augenblick begriff Jobst, dass nicht Frömmigkeit die Probsteier so zahlreich in die Kirche getrieben hatte, sondern die Hoffnung, einen der maßlosen Ausbrüche ihres Pastors zu erleben. Und Johannes Scheele enttäuschte sie nicht. Er geriet dermaßen außer sich, dass jener, der dort tobte, mit Pastor Scheele allenfalls noch den Talar und die rechtwinkligen Gebärden gemein zu haben schien. Was er an Worten von der Kanzel schleuderte, vermengte sich im Hall des Kirchenraumes zu einer Mixtur von Lauten, die dem Kläffen einer Hundemeute ähnelte. Obwohl ihn demzufolge niemand verstand, zeigte sich doch Befriedigung auf den Gesichtern. Man war Zeuge eines Wutausbruchs geworden, zu dem sich ein achtbarer Mann niemals würde hinreißen lassen, der Kirchgang hatte sich gelohnt.

Seine Ausbrüche müssen tiefere Ursachen haben als jene, an denen sie sich entzünden, anders kann ich mir seine dem Anlass gänzlich unangemessene Erregung nicht erklären. Es ist, als verlöre er die Gewalt über sich und setze dadurch etwas frei, das stärker ist ab er. Im Dorf geht das Gerücht, er habe bei einem seiner Anfälle den Abendmahlskelch nach Hinrich Wiese geworfen; seither sei der Schulmeister nicht mehr in der Kirche gesehen worden.

Nach dem Gottesdienst stellte sich der Diakon vor das Portal, um Hände zu schütteln, Schultern zu klopfen, diesem einige Worte mit auf den Weg zu geben, jenem sein Ohr zu leihen. Einer stillschweigenden Übereinkunft gemäß verabschiedete der Diakon die Gottesdienstbesucher, wenn der Pastor vom Jähzorn heimgesucht worden war. Der Herr Pastor, hörte Jobst ihn verschiedentlich sagen, befinde sich nicht wohl, vermutlich die Galle, vielleicht sei auch der Braten vom Vorabend zu stark gesalzen gewesen, zu viel Salz fördere bekanntlich die Reizbarkeit. Er sagte dies in einem Ton, der seine Worte nur ja nicht für bare Münze zu nehmen empfahl, und dort, wo er nicht ganz sicher war, dass er verstanden würde, half er mit einem Blinzeln nach. Die meisten lachten denn auch und trugen Thomas Pale Grüße an die Frau Pastor auf und baten, ihr auszurichten, sie möge doch auch am nächsten Sonnabend mehr Salz als nötig an den Braten tun.

Sie kam als letzte aus der Kirche. Der schwarze Umhang, die schwarze Haube, der Widerschein des Schnees ließen ihr Gesicht sehr bleich erscheinen. Sie blickte angestrengt zu Boden, als fürchte sie, auf dem festgetretenen Schnee auszugleiten. Als sie aufsah und den Bauernvogt mit einem leichten Neigen des Kopfes grüßte, bemerkte Jobst, dass ihr Blick nach kurzem Suchen an ihm haftenblieb.