cover

CANTERBURY REQUIEM

 

Ein Krimi aus Kent

von Gitta Edelmann

 

 

dryas_logo_2014 

 

Für Regine, Lynda und Ulrike – Danke!

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Karte

Wissenswertes

Verlagshinweis

Impressum

Kapitel 1


 

Der Wind schlug Ella den kalten Regen ins Gesicht. Sie hielt unwillkürlich die Luft an, trat einen Schritt zurück ins Warme und Trockene und schloss die Tür.

„Hast du was vergessen?“, rief Aileen ihr durch die offene Tür der Teeküche zu, wo sie gerade die letzten gespülten Tassen in den Schrank räumte.

„Nein, nein, ich hatte nur nicht gedacht, dass es so stark regnet“, erklärte Ella.

Aileen lachte, schloss den Geschirrschrank und kam in den Vorraum. Sie nahm ihre Jacke vom Haken und zog sie an. Etwas neidisch sah Ella ihr zu, wie sie den Reißverschluss der gewachsten Barbour-Jacke zuzog und die Kapuze aufsetzte.

„Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung“, sagte Aileen und grinste.

„Na ja, einen Schirm habe ich mit, aber ...“

„Den Schirm kannst du in Canterbury meistens vergessen. Zu viel Wind.“ Aileen schob die Tür auf. „Come on. Geh nach Hause und mach dir einen schönen, heißen Tee. Ich nehm auch gleich den Bus.“

Ella nickte gehorsam und fragte sich zum wohl hundertsten Mal, wie ihre Verlegerin auf die Idee gekommen war, sie, die Erfolgsautorin der Portugal-Romanzen, für eine neue Romantik-Serie ausgerechnet nach England zu schicken. Und vor allem, wie sie selbst auf die Idee gekommen war, dieses Angebot anzunehmen! Immerhin war es nur für sechs Monate und sie würde vor dem Winter wieder zu Hause sein. Vielleicht würde sich der Sommer ja schön gestalten.

Aileen hielt ihr die Tür auf. Nach einem winzigen Zögern trat Ella hinaus in den Regen. Aileen folgte ihr und drehte sich um, um die Tür abzuschließen. Ihr Schlüssel verfehlte das Schlüsselloch und sie fluchte leise.

Hm, zu leise. Schade, dachte Ella. Es wäre für sie höchst interessant gewesen zu wissen, welche Schimpfworte eine Frau um die vierzig so benutzte, die nach allem, was sie inzwischen erfahren hatte, der oberen Mittelschicht angehörte.

Aileen gähnte hinter vorgehaltener Hand, rieb sich kurz die Augen und fand endlich das Schlüsselloch. „Ich hätte vielleicht besser eine Kanne Kaffee trinken sollen statt einer Tasse Tee.“ Sie schüttelte den Kopf. „Oder gleich nach der Chorprobe gehen. Diese Plauderei und Diskutiererei hinterher finde ich doch immer anstrengend. Ich hoffe, du bist nicht abgeschreckt von uns.“

„Aber nein! Ich fand den Abend sehr nett. Mir gefällt es, wenn wir nach der Probe noch ein bisschen zusammensitzen und ich alle kennenlerne.“

Aileen nickte zufrieden. „Gut. Dann sehen wir uns nächste Woche. Ich muss los, bin sowieso schon spät dran wegen der Spülerei. Danke fürs Abtrocknen. See you!“ Sie eilte die Gasse entlang Richtung Busbahnhof.

„See you!“, rief Ella und stemmte sich gegen den nassen Wind, der ihr entgegenschlug. Aileen hatte recht. Sie brauchte unbedingt bessere Kleidung: eine wind- und wasserdichte Jacke und – verflixt noch mal, das war eine tiefe Pfütze! – ein Paar Gummistiefel.

 

Die Mauer um das Gelände der St Augustine’s Abbey schwächte den Wind ein kleines bisschen ab. Ein Taxi fuhr an Ella vorbei. Sie hätte es am liebsten herbeigewunken, allerdings hatte der Taxifahrer bereits Passagiere, also hätte er sowieso nicht für sie gehalten.

Aus der Richtung des Kreisels an der Lower Bridge Street ertönte plötzlich das hysterische Gejaule eines Rettungswagens. Oder war das die Polizei? Gab es da eigentlich einen Unterschied? Oder kam sowohl das langsame, auf- und absteigende Sirenengeheul als auch das hektische Wiuwiuwiu, das sich mit ihm abwechselte, von beiden? Es schien etwas Größeres passiert zu sein; als Ella an der Christ Church University vorüberging, konnte sie mehrere Sirenen unterscheiden.

Bei dem Regen und der schlechten Sicht hatte es wahrscheinlich wieder einen Radfahrer erwischt, der sich auf die Straße gewagt hatte – so wie letzte Woche. Nein, solange es hier keine Radwege gab, würde sie schön brav zu Fuß gehen! Ella zog ihre Jacke enger zu und machte sich an den Aufstieg von St Martin’s Hill.

Kapitel 2


 

Ella warf einen Beutel English Breakfast Tea in einen Becher, goss kochendes Wasser darauf und ließ den Tee ziehen, während ihr Laptop hochfuhr. Ein Blick aus dem Fenster verriet noch nicht allzu viel über das Wetter, da der winzige Rasenfleck hinter dem Haus von einer hohen Hecke umgeben war. So hatte man aus dem Küchenfenster leider keine Sicht auf den Himmel. Immerhin – es regnete nicht und ein graues Eichhörnchen sprang anmutig über das Gras.

Ella fischte den runden Teebeutel aus der Tasse und gab etwas Milch hinein. Dann ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich an den kleinen Esstisch und öffnete ihren Facebook-Account. Na ja, die üblichen Meldungen, nichts, worauf sie reagieren musste. Sie wechselte zur KentOnline-Seite, um die Lokalnachrichten zu lesen: Ein Verkäufer hatte mit Hilfe eines Freundes aus dem Laden, in dem er angestellt war, Elektrogeräte im Wert von rund zehntausend Pfund gestohlen. Eine Fußgängerin war von einem Auto erfasst worden – der Fahrer hatte Fahrerflucht begangen und wurde nun gesucht. Eine Vierundachtzigjährige war von einem Handtaschenräuber geschubst worden und so unglücklich gestürzt, dass sie nun verletzt im Krankenhaus lag. Schönes schien auf den ersten Blick nicht passiert zu sein.

Vorsichtig trank Ella einen Schluck Tee, schloss den Browser und öffnete eine neue Datei in Papyrus Autor. „Canterbury Rose“, schrieb sie und: „Roman von Ella Martin“ Seitenwechsel. Sie nahm einen weiteren Schluck und starrte auf den Bildschirm. Dann begann sie zu schreiben: „Als Rose in Canterbury eintraf, lachte die Sonne vom Himmel und das perlende Geläute der Kathedrale schwebte über der Stadt.“

Hm, so ganz klar war der Plot noch nicht. Aber irgendwie musste die Hauptfigur ja erst einmal an den Handlungsort kommen, und dann würde sich hoffentlich beim Schreiben ergeben, wie es nach dreihundert Seiten auf ein Happy End zulaufen konnte. Allzu genaue Planung lag Ella nicht, aber mit dem Wetter anzufangen war sicher passend. Tatsächlich schien es hier ohne eine Bemerkung über das Wetter keine Unterhaltung zu geben, wobei sie jetzt, nach den ersten vierzehn Tagen, das Gefühl hatte, dass es dabei nicht wirklich ums Wetter ging. War es nicht eher ein höfliches Anzeigen, dass man freundlich und gesprächsbereit war?

Der Tee wärmte und ein bisschen wacher war sie nun auch. Dafür knurrte ihr Magen. Wie ärgerlich, dass sie gestern nicht mehr daran gedacht hatte, wenigstens noch Toastbrot zu kaufen. Sicher gab es das in dem kleinen Shop oben auf dem Hügel. Aber wenn sie sowieso schon einkaufen musste, konnte sie ebenso gut gleich in die Innenstadt hinunterspazieren, dort irgendwo gemütlich frühstücken gehen und nach einem geeigneten Ort für Roses fiktiven Tea Room schauen. Danach würde sie bei Agatha im Heart of Gold vorbeischauen und sich für die Einladung zum Chor bedanken. Nicht nur das Singen hatte ihr viel Spaß gemacht, die Chorproben waren natürlich auch eine tolle Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen.

Entschlossen klappte Ella den Laptop zu, trank ihren Tee aus und ging ins Bad.

 

„Bist du die Schriftstellerin?“, fragte eine helle Jungenstimme hinter ihr, als sie die Haustür abschloss.

Ella drehte sich um. „Ja, die bin ich. Mein Name ist Ella.“

„Ella?“ Der Junge in der dunkelblauen Schuluniform hatte den Kopf schief gelegt. Eine Strähne seiner braunen Haare stand vom Kopf ab und seine grünen Augen blickten Ella neugierig an.

Die nickte und lächelte. „Und wer bist du?“

„Ich bin George. George McDonald. Aber die Restaurants gehören nicht uns.“

„Dann bist du wohl mein Nachbar? Ich hab schon gehört, dass hier eine Familie McDonald wohnt. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen.“

„Und warum sprichst du wie Onkel Bob? Mummy hat doch gesagt, du kommst aus Deutschland.“

Aha – ein schlaues Kerlchen mit gutem Gehör, dachte Ella. „Und Onkel Bob kommt aus Australien?“, fragte sie.

Der Junge nickte eifrig, er schien diesen Onkel Bob zu mögen.

„Ich habe drei Jahre lang in Australien gelebt“, erklärte Ella.

George strahlte. „Dann kann man ja richtig mit dir reden!“, platzte er heraus.

Ella lachte. „Ja, George, das kann man. Ich war zwar noch nie vorher in England, aber Englisch zu sprechen krieg ich hin.“

George nickte zufrieden. „Gehst du jetzt spazieren?“, fragte er.

„Nicht wirklich. Ich muss einkaufen.“ Ella deutete auf den Rucksack in ihrer Hand, der zum Einkaufen viel praktischer war als ein Handtäschchen. „Außerdem will ich mich noch ein bisschen in der Stadt umsehen.“

„Dann musst du in die Canterbury Tales gehen – das ist cool. Und es passt zu dir, wo du doch Geschichten schreibst, so wie dieser Mann im Mittelalter. Da kann man sich sogar verkleiden und es gibt auch extra Hörführungen für Kinder. Aber das brauchst du ja nicht.“ Er winkte großzügig ab. „Was für Geschichten schreibst du denn?“

„Liebesgeschichten“, gab Ella etwas verlegen Auskunft.

„Keine Abenteuer?“ George verzog enttäuscht den Mund.

Ella zuckte die Achseln. „Vielleicht kann ich noch ein paar Abenteuer dazu erfinden“, sagte sie.

„Mach das! Man braucht immer Abenteuer oder ein Verbrechen oder so, damit es richtig spannend wird.“

„Danke für den Tipp.“

„Dann geh jetzt besser los, damit du gute Ideen bekommst.“

Ella nickte und lächelte. „Bis bald, George!“

„Bye, Ella!“

Bevor Ella vorsichtig aus dem Windmill Close trat, um die vielbefahrene Straße von St Martin’s Hill zu überqueren, weil es auf ihrer Seite keinen Gehweg gab, schaute sie sich noch einmal um. George stand auf der schmalen Straße und sah ihr mit schief gelegtem Kopf nach. Erst als sie die Hand hob, um ihm zu winken, lief er davon.

 

Bergab erschien ihr St Martin’s Hill längst nicht so steil wie bergauf. Überhaupt – ohne Regen war der Weg in die Stadt viel kürzer. Als Ella am Heart of Gold vorbeikam, war der Charity Shop zwar noch geschlossen, doch Agatha war bereits dabei, das Schaufenster in frühlingshaftem Pink neu zu dekorieren. Sie hielt einen ausladenden Hut in der Hand, der sich mit seinem Schwarz-Pink-Kontrast hervorragend für königliche Hochzeiten oder das Pferderennen in Ascot eignete. Als Ella ihr winkte, sah Agatha auf. Oh, wie blass sie war! Und wie seltsam – statt fröhlich zurückzuwinken wie sonst, wenn sie Ella in der Burgate entdeckte, deutete sie auf die Tür und kletterte aus dem Schaufenster, um aufzuschließen.

„Good morning!“, grüßte Ella, als Agatha ihr die Tür öffnete und die altmodischen Glöckchen im Laden läuteten.

„Morning, love“, antwortete Agatha ernst.

Ella erschrak. „Was ist passiert? Bist du krank?“, fragte sie und betrat zögernd das Heart of Gold.

Agatha antwortete nicht, sondern führte sie in den hinteren Teil des Geschäfts, wo hinter einer Regalwand zwei gepolsterte Hocker vor einer Umkleidekabine standen. Sie setzte sich und deutete auf den zweiten Hocker.

„Setz dich!“

Ellas Herz klopfte plötzlich in Hals und Schläfen. Diesen Blick kannte sie. So hatte Sylvias Mutter ausgesehen, als sie ihr von Mamis Unfall erzählt hatte. „Deine Mami ist jetzt im Himmel“, hatte sie gesagt.

„Aileen ist tot“, sagte Agatha leise.

Ella schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein – ich hab ihr doch gestern Abend noch beim Spülen geholfen und ...“

Agatha legte ihre Hand auf Ellas Unterarm. „Es gab einen Unfall. Sie wurde überfahren.“

„Wie – wer ...?“

„Wer, das weiß man noch nicht. Der Fahrer hat Fahrerflucht begangen. Aber die Polizei wird ihn sicher finden.“ Agathas Lippen wirkten schmaler als sonst.

„Sie war so nett ...“ Übelkeit stieg in Ella auf, Angst und Verzweiflung. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Gefühlswelle zu beherrschen, die sie zu überrollen drohte – wie jedes Mal, wenn sie davon hörte, dass eine Frau überfahren worden war. Sie fragte sich dann immer, ob irgendwo ein Kind auf seine Mutter wartete.

„Es war am Odeon-Kino, sie ging über die Straße und ...“, erklärte Agatha.

„Aber warum sollte sie?“ Ella schüttelte den Kopf. „Ich dachte, sie wollte zum Busbahnhof und nach Hause.“

Agatha zuckte die Achseln.

„Und wieso lief sie über die Straße? Dort sind doch überall Fußgängerunterführungen!“, rief Ella.

„Ich weiß es nicht, Kindchen. Vielleicht hatte sie es eilig und St George’s Place sah gerade leer aus ...“

Ella fühlte einen Stich in der Magengrube. „Ich hab es gehört. Ich hab die Sirenen gehört. Viele.“

Agatha kniff die Lippen zusammen und nickte. Keine der beiden Frauen sprach. Plötzlich ließ das fröhliche Klingeln der Ladenglöckchen sie zusammen-zucken.

„Bleib!“, sagte Agatha und stand auf. Sie nahm die Schultern zurück, setzte ein höfliches Lächeln auf und ging in den vorderen Teil des Ladens. „Hello James! Wir haben leider noch nicht geöffnet, sorry!“

„Oh, Entschuldigung! Ich hatte nur gerade dieses Buch durchs Fenster gesehen und ...“

Die Stimme klang tief und sehr gebildet. So langsam gelang es Ella, verschiedene Akzente einzuordnen. Dieser war einwandfrei „posh“.

„Ach, machen wir das einfach ganz schnell“, sagte Agatha.

Die altmodische Kasse ratterte.

„Du hast von Aileen gehört?“, fragte der Mann.

„Ja, was für eine Tragödie!“, antwortete Agatha.

Einen Moment lang schwiegen beide, dann verabschiedete sich der Kunde. Die Glöckchen klingelten erneut, als er das Heart of Gold verließ. Danach schloss Agatha die Tür ab.

„Das war James“, sagte sie, als sie zu Ella zurückkam. „James Appleton, der Professor. Ist ein Nachbar von Aileen und Steve.“

„Der Professor, der gestern nicht bei der Chorprobe war?“

Agatha nickte. „Er singt im Bass.“

Ella stand auf und nahm ihren Rucksack. Zögernd blieb sie stehen.

„Ich muss einkaufen“, sagte sie schließlich.

„Ich bin bis um eins hier“, erklärte Agatha. „Wenn du nicht allein sein möchtest, komm einfach vorbei.“

„Danke!“ Ella lächelte. „Aber ich bin es gewohnt, allein zu sein. Das macht mir nichts aus. Ist gut fürs Schreiben.“

„Und kommst du mit deinem Roman voran?“

„Ja, ich hab heute Morgen angefangen, nachdem ich jetzt einen ersten Überblick über die Stadt habe. Eigentlich wollte ich in Tiny Tim’s Tearoom frühstücken, weil ich so einen Ort für den Roman brauche, aber ehrlich gesagt hab ich jetzt keinen Appetit mehr.“

„Oh, ich würde sagen: Geh trotzdem hin. Es lohnt sich, selbst wenn du nur einen Tee trinkst. Die Atmosphäre wird dir gefallen.“ Agatha war um einen leichten Ton bemüht.

Ablenkung – ja, das war es, da hatte sie recht.

Ella nickte, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg durch die Stadt. Am Christ Church Gate warf sie unwillkürlich einen kurzen Blick nach rechts durch das Tor auf die grauen Mauern der Kathedrale. Und da war es wieder, das seltsame Gefühl der Vertrautheit. Als wäre sie in einem früheren Leben genau diese Straße entlanggegangen. Als gehörte sie hierher.

Wie konnte das sein? Reinkarnation? Eine Art Seelenverwandtschaft zwischen ihr und diesem Land? Was es auch war, schon ihr allererster Blick von der Fähre auf England hatte dieses Gefühl ausgelöst. Sie fröstelte unwillkürlich, als sie daran dachte ...

Kapitel 3


 

Es war eisig. Die Sonne am blauen Himmel schien keinerlei wärmenden Effekt auf die Luft zu haben, die Ella in Form einer steifen Brise ins Gesicht schlug. Einen Moment lang war sie versucht, wieder hinunter in das warme, stickige Innere der Fähre zu steigen. Doch sie merkte, dass die leichte Übelkeit, die sie in der letzten halben Stunde geplagt hatte, fast augenblicklich verschwunden war, als sie über die erhöhte Schwelle an Deck getreten war.

Ella wickelte ihren Schal fester um den Kopf und machte sich auf den Weg nach vorn. Hoffentlich hatte Inga recht und man sah wirklich schon die weißen Klippen von Dover; sie hatte keine Lust, allzu lange in der Kälte zu stehen. Aber diesen berühmten ersten Blick auf England wollte sie auf keinen Fall verpassen. Sicher war er romantisch genug, um ihn in einem ihrer neuen Romane zu verwenden.

Mit diesem Argument hatte sie auch Inga und Stefan um eine Mitfahrgelegenheit gebeten, als sie von deren Urlaubsreise Richtung Cornwall gehört hatte: „Ihr fahrt doch sowieso mit dem Auto, da könnt ihr mich unterwegs abladen. Mit dem Zug durch den Tunnel oder mit dem Flieger ist es einfach nicht dasselbe, da fehlt die Atmosphäre.“

Inga hatte gelacht und ihr zugezwinkert, aber zugestimmt. Sie kannte Ellas Angst vorm Fliegen.

Zwei kleine Jungen rannten an Ella vorbei, dicht gefolgt von einem dritten und einem Mann, dessen „Stop! Come here!“ ungehört im Wind verhallte. Möwen kreisten über der Fähre und kreischten, die Luft schmeckte salzig und da – da waren sie: the White Cliffs of Dover!

Und Ella war es, als käme sie nach Hause.

Kapitel 4


 

In den Tagen nach Aileens Unfall war es zwar windig und kühl, aber immerhin trocken. Ella kaufte sich dennoch eine wind- und wasserdichte Jacke mit Kapuze, dazu eine rote Mütze und einen langen Schal in derselben Farbe und streifte durch die Stadt. Dabei interessierten sie weniger die großen Touristen-Attraktionen als vielmehr die Orte, die für die Einwohner von Canterbury für ihr tägliches Leben von Bedeutung waren – ganz normale Wohngebiete und deren Entfernung zu Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, zum Bahnhof oder Krankenhaus und die Lage der Parkplätze. Sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit auch mit George zu reden und ihn zu fragen, wie er die Stadt aus dem Blickwinkel eines Kindes sah.

Kurz schweiften ihre Gedanken nach Lissabon, zu ihrer Freundin Maria-José und dem kleinen Nando. Die beiden hatten ihr vor fünf Jahren geholfen, die portugiesische Hauptstadt zu entdecken und sie zum Hintergrund von sechs Romanen zu machen. Ein kleiner Stich der Sehnsucht durchzuckte Ella und gleich darauf fühlte sie wieder die alte Wut auf João. Hätte er nicht diese dämliche Affäre hinter ihrem Rücken angefangen und dazu auch noch gelogen, als sie alles entdeckt hatte, säße sie wahrscheinlich nach wie vor in Portugal. Inzwischen war es dort schon wieder richtig warm, während hier ...

Auf der Suche nach einer Zuflucht vor dem kalten Wind landete Ella auf ihrem Rückweg durch die High Street im Beaney House of Art and Knowledge. Das prunkvolle Haus aus Sandstein und Fachwerk beherbergte neben dem Tourist Office, das sie aus ihren allerersten Tagen in Canterbury bereits kannte, und einem Kunstmuseum auch die öffentliche Bücherei. Und wo konnte man Wissensdurst und Wärmebedürfnis besser stillen als in einer Bücherei? Schnell entdeckte Ella die Ecke mit der Aufschrift „Local History“ und machte es sich bequem, um in Canterburys Vergangenheit zu stöbern.

 

Als sie auf die Uhr sah, war es bereits fünf. Das reichte für heute. Sie packte ihre Notizen ein und hüllte sich wieder in Jacke, Mütze und Schal. Draußen dämmerte es – oder waren das nur die dunklen Wolken, die von neuem Regen kündeten? Sie seufzte.

Die Hauptstraße war voller Menschen, die noch schnell in die Läden strömten oder mit dicken Tüten in der Hand aus Geschäften herausquollen. Auch erste Touristengruppen waren jetzt so kurz vor Ostern schon unterwegs. Ella schnappte ein paar Brocken Französisch auf und bahnte sich ihren Weg durch eine Gruppe asiatischer Männer, die den St George’s Tower anstarrten und andächtig einem Tourist Guide zuhörten.

Die Fußgängerzone mündete in einen großen Kreisverkehr, in dem sich die Fahrzeuge nur im Schneckentempo bewegten – der Kreisverkehr, wo sich das Odeon Cinema befand und Aileens Unfall geschehen war. Ella schluckte und versuchte, an etwas anderes zu denken. Mit energischen Schritten betrat sie die Unterführung und hoffte, dass sie an der richtigen Stelle wieder nach oben gelangen würde. Hinweisschilder gab es hier keine und bei ihrem ersten Versuch war sie an einer ganz anderen Straßenecke herausgekommen als geplant. Wie schade, dass Agatha um diese Zeit nicht mehr im Heart of Gold war! Jetzt hätte Ella gern jemanden zum Reden gehabt. Es wurde Zeit, dass sie ein paar Freunde fand.

Als sie gerade den White Swan in der Ivy Lane passieren wollte, kamen zwei Männer mittleren Alters direkt vor ihr aus dem Pub. Ella blieb kurz stehen, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Die Männer grüßten freundlich und hielten die Tür für sie auf. Warum eigentlich nicht? Hier ein Glas Weißwein zu trinken, war gar keine schlechte Idee. Auf jeden Fall besser, als allein zu Hause zu sitzen und zu grübeln. Sie ging hinein.

 

Die Luft war zum Schneiden. Ella konnte sich gar nicht vorstellen, wie man hier vor dem Rauchverbot geatmet haben mochte. Nun roch es zumindest nur nach vielen Menschen, Bier und Frittiertem und dem etwas zu üppigen Parfüm der jungen Frau, die sich gerade an ihr vorbei in den White Swan gedrängt hatte. Ella zögerte einen Moment, dann trat sie an die Bar. Sie hatte schon den Mund geöffnet, um ein Glas Weißwein zu bestellen, als der bärtige Mann hinter dem Tresen sich ihrem Nachbarn zuwandte.

„Hiya! Two bitters, Brian?“, fragte er.

Brian wies auf einen kleinen Zweiertisch in der Ecke, an dem eine blasse Frau saß und in ihrer Handtasche wühlte. „Yeah, Canny. Die Missis ist wieder zu Hause“, erklärte er.

Canny nickte anerkennend und schob zwei Pintgläser zu Brian hin. Der grinste, legte ein paar Pfundstücke auf den Tresen, nahm das Bier und ging damit hinüber zu seiner Frau.

Ella holte erneut Luft, um nach ihrem Weißwein zu fragen, doch Canny schien sie nicht zu sehen. Er zapfte eine Runde Bier für eine Gruppe von Leuten unterschiedlichen Alters, die in ihren Anzügen und Kostümen sehr nach Bankmenschen aussahen. Dann schenkte er einem alten Herrn in kariertem Jackett einen Whisky ein. „Laphroaig“, entzifferte Ella auf dem Etikett der hängenden Flasche und wunderte sich, wie diese Ansammlung von Buchstaben wohl auszusprechen war.

„Und jetzt bist du dran, love“, erklärte Canny, als Ella gerade aufgeben und gehen wollte.

Sie war so überrascht, dass sie einen Moment lang ratlos in seine zwinkernden Augen sah, bevor sie verstand: die queue – die Schlange, in der man wartete! Und die manchmal gar nicht wie eine Schlange aussah. Hier zum Beispiel. Aber Canny hatte genau gewusst, in welcher Reihenfolge seine Gäste gekommen waren.

Ella errötete. Nach der nicht ganz glücklich verlaufenen Bestellung hätte sie sich mit ihrem Wein gerne in ein ruhiges Eckchen verzogen, doch der Pub war inzwischen so voll geworden, dass sie froh sein konnte, einen Hocker an der Seite der Bar zu ergattern. Aber eigentlich war das ein guter Platz mit Blick auf den gesamten Raum. Während sie von da aus eine Weile die Menschen beobachtete, würde sie sicher einige Romanfiguren basteln können. Dort zum Beispiel, die junge Frau im grauen Kostüm aus der Bankerclique. Wenn sie der statt des exakt geschnittenen Bobs lange, weich fallende Locken gab, könnte sie für Rose Modell stehen: rotblondes Haar, helle Haut, möglicherweise ein paar Sommersprossen, grüne Augen. Die tatsächliche Augenfarbe konnte Ella zwar aus dieser Entfernung nicht erkennen, aber wozu war Kreativität da, wenn nicht dazu, die Realität zu ergänzen? Rose, oder wie auch immer sie in Wirklichkeit heißen mochte, wirkte etwas verloren zwischen ihren laut lachenden Kollegen – vielleicht arbeitete sie noch nicht lange mit ihnen? Ella wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Notizbuch und einem Bleistift.

In der Ecke stand nun das Paar auf, das sie bereits zuvor gesehen hatte: Brian und seine Frau. Er hatte eine Stirnglatze und war vermutlich Lehrer, sie wirkte ein wenig unsicher auf den Beinen, als sei sie gerade von einer langen Krankheit genesen – oder so ähnlich. Manchmal lag Ella mit ihrer Einschätzung genau richtig, andere Male auch völlig daneben. Aber das war eigentlich noch besser, denn dann waren es wirklich ihre eigenen Figuren und sie konnte mit ihnen machen, was sie wollte.

Brian half seiner Frau in den Mantel und die beiden verließen den White Swan mit einem freundlichen Gruß in Richtung Bar. Die drei jungen Mädchen in viel zu kurzen Röcken und mit blaugefrorenen Beinen, die nun in den Pub stöckelten, streifte Ella nur mit einem Blick. Zum einen passten sie nicht in ihren Roman, zum anderen löste sich gerade ein Mann aus der Anzugträgerclique, um eine neue Runde zu holen.

Er schien direkt auf sie zuzukommen und ihre Blicke trafen sich. Einen Moment lang lächelte er und wandte sich dann an Canny, um seine Bestellung aufzugeben. Schnell sah Ella auf ihr Notizbuch und begann eifrig zu schreiben, um ihre Fassung wiederzufinden. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert, dieser Stich in der Magengrube beim ersten Blick. Unter ihren Ponyfransen versuchte sie, ihn unbemerkt zu beobachten. Er war vielleicht zwei bis drei Jahre älter als sie, Mitte dreißig, hatte kurze, dunkle Haare und war glattrasiert. Außerdem war er ziemlich groß, eins fünfundachtzig mindestens, schätzte sie. Unter dem grauen Anzugjackett konnte sie breite Schultern erkennen. Seine kobaltblaue Krawatte hatte er gelockert. Hm, ja, den konnte sie gebrauchen. Als Lord Irgendwas für ihre Canterbury Rose natürlich. Obwohl ...

Als sie es wagte aufzublicken, stand ihr neuer Held bereits wieder in seiner Gruppe und wandte ihr den Rücken zu. Schade!

Eine knappe Stunde, mehrere Seiten Notizen und ein weiteres Glas Wein später kam er an die Bar und ließ sich mit einem interessierten Seitenblick auf dem Hocker neben ihr nieder. Sie hoffte, er würde sie ansprechen, doch sie wurde enttäuscht. Seine Kollegen waren zwar inzwischen gegangen, aber ihm folgte ein anderer Mann, den er zuvor mit freundschaftlichem Schulterklopfen begrüßt hatte und dem er sich nun zuwandte. Wieder hatte sie nur seinen Rücken im Blick. Na ja, es war derzeit sowieso besser für sie, über Romantik nur zu schreiben und sie nicht zu erleben.

Der zweite Mann bildete einen interessanten Gegensatz zu Lord Irgendwas. Er war eher der Typ „blonder Seemann“ und trug einen hellen Strickpullover mit Aran-Muster und einen dunkelgrauen Schal. Vielleicht war er ein wenig zu gut genährt, aber er sah nicht schlecht aus. Sicher hatte er blaue Augen und Lachfalten. Das Licht im Pub erlaubte es Ella allerdings nicht, das herauszufinden, ohne offensichtlich zu starren. Zudem lachte er nicht, sondern schien zwischen kräftigen Schlucken sein Pintglas von allen Seiten ernsthaft zu studieren. Konnte sie ihn als Nebenfigur gebrauchen? Dennis, so hatte Canny ihn begrüßt. Dennis the menace, ein Frauenheld?

Plötzlich sah Dennis auf und zwinkerte ihr zu. Mist, nun hatte sie doch gestarrt. Sie leerte ihr Glas und packte ihr Notizbuch in die Handtasche. Lord Irgendwas drehte sich um und lächelte sie an.

„Sie sehen aber noch durstig aus. Können wir Ihnen einen Drink spendieren?“, fragte er.

Ella zögerte.

„Einen Weißwein für die Lady!“ Dennis hob die Hand und Canny griff nach einem Weinglas, bevor sie ablehnen konnte.

„Sie sind neu hier“, stellte Lord Irgendwas fest. „Urlaub?“

„Nicht ganz“, antwortete Ella. „Ich werde ein halbes Jahr in Canterbury arbeiten.“

Die beiden Männer nickten, fragten aber nicht weiter nach Details. Die englische Zurückhaltung kam Ella gut zupass. Ihr australischer Akzent, das Wetter und Canterburys Sehenswürdigkeiten waren wesentlich einfachere Themen als romantische Liebesromane. Vielleicht sollte sie lieber mal das Genre wechseln und es mit einem Krimi versuchen. Darüber im Beisein von attraktiven Männern zu sprechen, wäre sicher weniger peinlich.

„Wo bleibt eigentlich der Bill?“, fragte Dennis schließlich mit einem Blick auf seine Armbanduhr.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich wieder mal Überstunden.“ Der Mann im Anzug zuckte mit den Schultern.

Er hieß Tom, wie Ella mittlerweile erfahren hatte. Die Wahrheit war, wie zu erwarten, etwas enttäuschend. Tom war natürlich kein Lord. Und nach dem längeren Gespräch war bei Ella auch das Kribbeln verschwunden, das seine ersten Blicke ausgelöst hatten, obwohl er ausgesprochen sympathisch war und auf angenehm zurückhaltende Art flirtete.

„Da war doch vor ein paar Tagen dieser Unfall mit Fahrerflucht“, erklärte er gerade Dennis.

Ella horchte auf. Ging es um Aileen? Was war mit dem Unfall? Am Morgen erst hatte sie in der Online-Zeitung gelesen, dass die Polizei den Fahrer gefasst hatte.

„Ja, und?“ Dennis starrte Tom an und runzelte die Stirn. „Was hat er denn damit zu tun?“

„Weiß nicht genau. Aber es war vielleicht eben doch kein Unfall, sondern Mord.“

Dennis zuckte zusammen und starrte erneut in sein Bier.

Ella war plötzlich übel. Sie schob ihr halbvolles Glas von sich, rutschte von ihrem Hocker, verabschiedete sich mit mechanischem Lächeln und höflichem Dank für den Wein und eilte hinaus.

Wieder empfing sie draußen kalter Regen. Dieses Mal jedoch kam er ihr gelegen und es kümmerte sie nicht, dass ihre Haare schon nach wenigen Metern am Kopf klebten. Der Regen wusch den leichten Wein-Nebel weg und auf dem Heimweg hatte sie Gelegenheit nachzudenken.

Kein Unfall? Aileen war ermordet worden? Aber wie hatte der Autofahrer wissen können, dass sie so unvorsichtig sein würde, die Straße zu überqueren, statt die Unterführung zu nehmen? Kannte er sie? Hatte er gewusst, wann sie unterwegs sein würde? Hatte er irgendwo gewartet, um sie zu erwischen?

Ella schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Der Plot war völlig undicht. Halt! Sie erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Dies war kein Plot für irgendeine ihrer Geschichten! Der Unfall war wirklich passiert. Und Aileen, die nette, hilfsbereite Aileen, die ihre Freundin hätte werden können, war tot.

Kapitel 5


 

Das Wochenende verbrachte Ella mit Sightseeing und ihr Notizbuch füllte sich mit möglichen Schauplätzen und Ideen für ihren Roman. Sie ließ sich, da sie innerhalb des Vier-Meilen-Radius des Bell Harry Tower der Kathedrale wohnte, einen Pass ausstellen, der ihr den kostenlosen Zutritt zum Cathedral Precinct ermöglichte. Die Kathedrale faszinierte sie nicht nur wegen ihrer langen Geschichte und ihrer Architektur, sondern auch wegen des charakteristischen Wechselläutens, das so anders klang als die Kirchenglocken in Deutschland. Das ständige Auf- und Absteigen der verschiedenen Tonfolgen löste ein willkommenes Gefühl von Vertrautheit, Geborgenheit und Frieden in ihr aus und half ihr, nicht allzu oft an Aileen zu denken.

Per E-Mail informierte der Chorleiter am Sonntagabend, dass die Probe am folgenden Dienstag ausfallen würde. Das gab Ella ein bisschen Luft, um sich noch einmal zu überlegen, ob sie überhaupt weiter zu den Chorproben gehen wollte. Ja, es waren alle sehr nett zu ihr gewesen, und natürlich hatte es Spaß gemacht zu singen, aber den Trauerfall wollten die Chormitglieder vielleicht lieber ohne sie als Neue verarbeiten?

Eigentlich, so hatte sie auf ihren Streifzügen durch die Stadt überlegt, ging sie das Ganze ja auch gar nichts an. Es war purer Zufall gewesen, dass sie Aileen an jenem Abend kennengelernt hatte. Andererseits begann sie, sich ein winziges bisschen allein zu fühlen, und sie konnte nicht täglich im Pub rumhängen und irgendwelche Männer kennenlernen. Vielleicht konnte sie ihre Canterbury Rose einfach ein bisschen schneller schreiben und früher aus England abreisen?

Mit dieser nicht unbedingt unangenehmen Idee ging Ella erneut an die Arbeit. Sie musste endlich ihre männliche Hauptfigur entwickeln, Lord Irgendwas. Lord A – Abercrombie? Nein. B – Blackadder? Quatsch! C – Constable? Nee. Aber C war gut. Das konnte man sich elegant auf einem Büttenpapier-Briefkopf vorstellen. Vielleicht ein Städtename? Canterbury fiel natürlich aus, aber wie wäre es mit – Carlisle? Ja, das klang schick: Lord Robert Carlisle.

Ella öffnete eine Datei auf ihrem Laptop und begann mit der Personenbeschreibung: groß, dunkelhaarig, breite Schultern, dunkle Augen mit geraden Brauen ... Für das untergründige Unglücklichsein, das er, anders als sein reales Vorbild Tom, ausstrahlen sollte und mit dem er Roses Herz gewinnen würde, konnte sie sicher noch einen tragischen Grund finden. Und morgen früh würde sie richtig loslegen!

Kapitel 6


 

Ella nahm einen großen Schluck Tee und starrte auf den Bildschirm ihres Laptops. Nur ein einziger neuer Satz stand da, obwohl sie gehofft hatte, ihre fünf täglichen Seiten bis zum Mittag geschrieben zu haben. Doch die Szene, in der Rose erstmals ihrem Lord begegnen sollte, war kniffliger, als sie gedacht hatte.

Warum musste es auch ausgerechnet ein Lord sein?! Aber da war die Programmleiterin ihres Verlags ganz entschieden gewesen – zumindest im ersten Buch der neuen Reihe mit English Romances musste ein attraktiver Adliger vorkommen. Dass Ella in Canterbury nicht unbedingt unter Adligen verkehren würde, war für die Programmleiterin kein Argument gewesen. Die Leserinnen wollten das so, hatte sie behauptet, Klischee hin oder her.

„Und Sie haben ja genug Erfahrung mit Liebesgeschichten!“

Ja, die hatte sie. Sieben erfolgreiche in Buchform und eine Reihe alles andere als erfolgreiche im echten Leben. Immerhin gab es ein paar nette Überbleibsel. So hatte sie von ihrer zweijährigen Ehe mit Lucas seinen schlichten, aber klangvollen Nachnamen zurückbehalten. Martin gefiel ihr immer noch ausgesprochen gut. Na ja, eigentlich gefiel ihr fast alles besser als ihr Mädchenname Schmitz. Das war ein Allerweltsname, zu dem es üblerweise in Bonn, wo sie aufgewachsen war, auch noch einen passenden Karnevalsschlager gab, den ihre Klassenkameraden nur zu gerne gesungen hatten: „Jetz hät dat Schmitze Billa en Poppelsdorf en Villa ...“ Natürlich war in ihrem Fall „dat Schmitze Ella“ daraus geworden.

Mist, jetzt hatte sie den uralten Ohrwurm im Kopf! Und an Lucas dachte sie auch wieder. Wenn sie nicht aufpasste, würde gleich noch João dazukommen, und dann wäre es völlig vorbei mit der Konzentration auf Roses erste Begegnung mit dem Lord.

Ella atmete tief ein und aus, fuhr sich zum wiederholten Mal mit den Fingern durchs Haar und trank einen weiteren Schluck Tee. Warum die Figur des Lords ihr solche Schwierigkeiten bereitete, konnte sie sich nicht erklären. Sie hatte mit Tom aus dem Pub zumindest fürs Äußerliche ein ganz passendes Modell und ...

Es klopfte dreimal kräftig an der Haustür. Ella zuckte zusammen. Dass dieser kleine Türklopfer einen derartigen Lärm machte! Hatten die Leute hier extra Schallverstärker in den Türen?

Mit gespreizten Fingern strich Ella ihr zerrauftes Haar glatt und knöpfte die Strickjacke über ihrem Schlabber-Shirt zu. Die Leggings waren ganz okay. Na, wahrscheinlich war es sowieso nur der Postmann. Vielleicht kam das angekündigte Päckchen vom Verlag?

Ella entriegelte und öffnete die Tür. Die beiden Herren, die vor ihr standen, sahen nicht aus wie Briefträger. Sie trugen unauffällige Anzüge und machten ernste Gesichter. Oje, hoffentlich keine Zeugen Jehovas!

„Ms Martin?“, fragte der Dunkelhaarige mit dem Bart.

„Ja?“

„Ich bin Detective Inspector Drake von der Kent Police und dies ist mein Kollege Detective Sergeant Patil. Können wir reinkommen?“

Überrascht trat Ella zur Seite und ließ die beiden ins Haus. Polizei? Sie ging voraus ins Wohnzimmer und deutete auf zwei Sessel. Moment, wie war das immer in den englischen Kriminalfilmen?

„Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragte sie höflich und versuchte noch einmal unauffällig, ihre Haare zu glätten.

„Nein, danke“, antwortete der Detective Inspector.

Wie ein stummes Echo schüttelte der Sergeant den Kopf. Er hatte wunderschöne dunkle Augen – vielleicht sollte sie das nächste Mal einen indischstämmigen Helden wählen? Im Moment schaute er sich im Raum um und schien alles und jedes zu registrieren. Sein Blick blieb kurz am Laptop auf dem kleinen Esstisch hängen, auf dessen Monitor inzwischen die bunten Linien des Bildschirmschoners tanzten.

Ella drehte ihren Stuhl und setzte sich ihren Besuchern gegenüber. Sie bemühte sich, die überraschten Blicke auf ihre rot-schwarz-blau geringelten, dicken Wollsocken zu ignorieren.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie höflich.

„Ihr Name ist Ella Martin und Sie sind Deutsche?“, vergewisserte sich der Inspector.

Ella nickte.

„Und Sie sind hier, um für ein Buch zu recherchieren?“ Das klang eher skeptisch und nicht besonders freundlich.

Ella nickte erneut.

„Sie kannten Aileen Crayford?“, fragte der Inspector weiter.

Ella nickte ein drittes Mal und ergänzte: „Nur flüchtig. Ich hab sie erst am Dienstag bei der Chorprobe kennengelernt. Und an dem Abend ist sie ja ...“

Sergeant Patil zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts. Er wollte wohl ihre Aussage notieren.

„Andere Chormitglieder haben ausgesagt, dass Sie und Mrs Crayford noch länger geblieben sind“, stellte der Inspector fest.

„Ja, Aileen war dran, die Tassen zu spülen, und ich hab ihr angeboten zu helfen und abzutrocknen. Sie war so nett und ich dachte, ich finde so leichter Kontakt ...“

„Sie wollten Kontakt zu Aileen Crayford? Warum?“, unterbrach sie der Inspector.

Sergeant Patil hauchte den Stift an. Sein Notizblock war leer, obwohl er eben noch heftig darauf herumgekritzelt hatte.

„Moment, ich hab da was für Sie“, sagte Ella, stand auf und ging zur Fensterbank. Dort lag eine längliche, bunte Schachtel, aus der sie einen Kugelschreiber mit dem Aufdruck www.ella-martin.de herausnahm. Sie reichte ihn Sergeant Patil, der sie überrascht ansah, aber sofort zugriff. „Ist kein Bestechungsversuch“, sagte Ella und lächelte. „Und er ist gebraucht.“ Sie setzte sich wieder.

Der Inspector räusperte sich. Er hatte seine Brauen zusammengezogen und eine steile Falte zeigte sich auf seiner Stirn.

„Also, noch einmal: Sie wollten Kontakt zu Aileen Crayford? Warum?“

„Warum nicht? Sie war sehr sympathisch. Ich bin noch keine drei Wochen in Canterbury und kenne nicht so viele Leute hier. Außerdem bin ich nun mal ein hilfsbereiter Mensch.“

„Und worüber haben Sie gesprochen?“

„Na, worüber wohl? Über das Wetter! Es hat ja fürchterlich gegossen.“

„Nur über das Wetter?“ Der Inspector wirkte skeptisch.

„Nein, natürlich nicht. Als wir beide allein waren, hat sie nach meinen Büchern gefragt. Ich bin nämlich Autorin.“

„Das wissen wir. Uns interessiert mehr, ob Mrs Crayford über private Dinge mit Ihnen gesprochen hat. Private Dinge, die sie betreffen. Hat sie Ärger erwähnt oder Feinde?“

Ella schüttelte den Kopf. „Nein, da war sie sehr ... englisch.“

Die Falte zwischen den Brauen des Inspectors wurde tiefer. „Und wie sah es mit ihren Plänen aus? Hatte sie an dem Abend noch etwas vor?“

„Mir hat sie nur gesagt, sie sei müde und wolle zum Busbahnhof.“ Ella schob ihr Kinn vor. „Was soll eigentlich die Fragerei, was wollen Sie von mir?“

„Sie haben vielleicht schon gehört, dass Mrs Crayfords Tod kein Unfall war.“ Der Inspector stand auf und kam auf sie zu.

Unwillkürlich erhob sich auch Ella. Wenn er dachte, er könne von so weit oben auf sie herabblicken, hatte er sich getäuscht. Zwar war er immer noch ein Stück größer als sie, doch mit zehn, zwölf Zentimetern kam sie zurecht.

„Ja, ich hab gehört, dass sie ermordet worden sein soll. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie der Autofahrer das abgepasst haben soll. Normalerweise nehmen doch alle Fußgänger dort an dem Kreisel die Unterführung, oder?“

Der Inspector nickte langsam. „Genau.“ Er sah sie forschend an.

„Dann verstehe ich nicht ... Und was hab ich überhaupt damit zu tun? Ich besitze nicht einmal ein Auto. Außerdem – in der Zeitung stand, Sie hätten den Fahrer des Unfallwagens gefunden. Dann haben Sie doch den Mörder!“

„Tja, sehen Sie, Ms Martin: Den Fahrer haben wir tatsächlich rasch gefunden. Nur was er anschließend zu Protokoll gegeben hat, war sehr seltsam. Er sagte, dass die Frau am Straßenrand entlangging, plötzlich schwankte und direkt vor seinem Auto auf die Straße stürzte. Er konnte nicht mehr ausweichen.“

„Aber er hätte anhalten können – und Hilfe holen!“

Der Inspector nickte langsam. Ella warf einen Blick auf Sergeant Patil, der immer noch im Sessel saß. Er notierte jetzt nichts mehr, sondern starrte in ihr Gesicht, als warte er auf eine bestimmte Reaktion.

Sie sah wieder den Inspector an. „Was ist hier los?“, fragte sie. „Was wollen Sie von mir?“

„Heute Morgen kam der Obduktionsbericht. Es war kein Zufall, dass Mrs Crayford auf die Straße stürzte; sie stand unter dem Einfluss von Diazepam. Es muss eine hohe Dosis gewesen sein.“

„Was?“ Ella riss die Augen auf. Diazepam kannte man in Deutschland unter anderem als Valium, das hatte sie für „Insel der Liebe“ recherchiert. Aileen ein Junkie?

„Ja. Und leider besteht nun aufgrund verschiedener Aussagen die Vermutung, dass sie das Medikament nicht freiwillig genommen hat. Jemand könnte es ihr etwa eine bis eine halbe Stunde vor ihrem Unfall verabreicht haben.“

Ella ließ sich auf ihren Stuhl fallen. „Im Chor“, flüsterte sie. „Beim Tee nach der Probe.“

Die Polizisten schwiegen.

„Aber wer sollte ...? Ich habe nicht bemerkt, dass ... Sie glauben doch nicht etwa, ich ...?“ Sie schaute zu dem Inspector hoch. Aus diesem Blickwinkel sah er noch grimmiger aus.

„Sie waren die Letzte, die Aileen Crayford lebend gesehen hat.“

Ella schüttelte den Kopf und starrte ins Leere.

„Wir hätten gerne eine DNA-Probe von Ihnen zum Abgleich von Spuren“, sagte der Inspector und zog ein Plastikröhrchen aus seiner Jackentasche. Es war bereits mit ihrem Namen beschriftet.

„Das verstehe ich nicht. Eben haben Sie erklärt, Aileen sei vergiftet worden. Dabei hinterlässt doch niemand seine DNA, oder?“

„Das ist reine Routine. Werden Sie uns freiwillig eine Speichelprobe geben oder nicht?“

Ella schnaubte. „Natürlich, ich hab ja niemanden vergiftet, erstochen oder erwürgt. Bitte schön!“ Sie stand auf und öffnete den Mund.

Der Inspector strich mit einem Wattestäbchen über ihre Mundschleimhaut und steckte es dann in das Röhrchen.

„Denken Sie, jemand hat Aileen vor das Auto geschubst? Oder sie gezwungen, das Zeug zu nehmen, und dabei Spuren hinterlassen? Sie schien mir aber ganz normal bei der Chorprobe. Vermutlich hätte sie doch Hilfe gesucht, wenn jemand sie gezwungen hätte, oder?“

„Ich fürchte, wir können über laufende Ermittlungen keine Auskünfte geben“, erwiderte der Inspector routiniert.

Ella schüttelte den Kopf und ging zur Wohnzimmertür. Dort drehte sie sich zu den Polizisten um.

„Würden Sie jetzt bitte gehen? Ich ...“

Sergeant Patil sprang auf und legte den Kugelschreiber zurück auf den Tisch.

„Behalten Sie ihn“, sagte Ella mechanisch und sah zu, wie er seinen Block und ihren Stift in sein Jackett steckte.

Dann nickte er freundlich.

Ella führte die Männer zur Haustür und öffnete sie.

„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte“, sagte der Inspector. „Und Sie sollten jetzt nicht unbedingt die Stadt verlassen.“

Ella zuckte zusammen. Sie kam sich vor wie in einem nicht allzu genialen Kriminalfilm. Doch es gelang ihr, höflich zu nicken.

„Es tut mir leid, ich habe Ihren Namen vergessen“, erklärte sie. „Nur Sergeant Patil habe ich behalten.“

„Detective Sergeant Jay Patil“, sagte dieser zur Bestätigung und lächelte leicht, als er ihr seine Karte überreichte.

„Detective Inspector Alex Drake“, antwortete der Inspector und gab ihr ebenfalls eine Karte. „Good bye, Ms Martin.“

„Bye.“ Ella schloss die Tür und schob den Riegel vor. Die Visitenkarten legte sie auf das Tischchen in der kleinen Diele.

DI Alex Drake – irgendwie schien ihr das vertraut, obwohl ihr der Mann völlig unbekannt gewesen war. Na, egal. Sie musste unter die Dusche und sich anziehen. Mit dem Schreiben würde es erst mal nichts mehr werden, dazu war sie zu aufgewühlt. Sie würde hinunter in die Stadt spazieren und im Heart of Gold stöbern. Dort konnte sie auch mit Agatha sprechen. Vielleicht wusste die mehr.

Unter der Dusche kam ihr die Erleuchtung: DI Alex Drake war eine Figur aus einer britischen Fernsehserie, die ihr Sylvia zur Einstimmung auf ihren Englandaufenthalt auf DVD geschenkt hatte. Und es war kein Wunder, dass sie den Zusammenhang nicht gleich erkannt hatte: DI Drake war dort eine Frau.

Ella grinste und begann den alten Bowie-Song zu singen, der den Titel der Serie inspiriert hatte: „Ashes to ashes, funk to funky – We know Major Tom’s a junkie ...“ 1

Erschrocken brach sie ab. Ein Bild stand ihr vor Augen: Aileen hatte Schwierigkeiten gehabt, die Tür abzuschließen. Sie hatte über ihre Müdigkeit gescherzt. Das Diazepam hatte da bereits angefangen zu wirken. Und wenn Ella sie zum Busbahnhof begleitet hätte, wäre Aileen heute noch am Leben.

 

1. David Bowie: „Ashes to Ashes“ aus dem Album „Scary Monsters (and Super Creeps)

Kapitel 7


 

Eigentlich hatte Ella geplant, auf dem Weg hinunter ins Stadtzentrum noch einen Abstecher zu machen und endlich St Martin’s zu besichtigen. Die Pfarrkirche galt als die älteste Englands und lag nur ein Gässchen abseits der viel befahrenen Straße, die Ella in die Stadt führte. Vielleicht konnte ein wenig Recherche sie von ihren kreisenden Gedanken ablenken. Doch wie bereits mehrere Male zuvor war sie am Abzweig zur Kirche vorbeigegangen und schon ein ganzes Stück entfernt, als ihr ihr Vorhaben wieder einfiel.

Sollte sie zurückgehen? Nein, so wichtig war das nicht. Wichtiger war, dass sie mit jemandem redete. Sie hatte zwar, nachdem der Inspector und sein Sergeant gegangen waren und sie geduscht hatte, spontan ihrer Adoptivschwester Sylvia eine Mail geschrieben, aber bis Sylvia die las und beantwortete, konnte einige Zeit vergehen. Seit die Zwillinge da waren, kam sie fast gar nicht mehr an den Computer. Andererseits waren die Ereignisse nicht gerade das, was Ella mit Facebook-Freunden besprechen wollte.

 

Im Heart of Gold herrschte Betrieb. Eine Frau stöberte die Kleiderstange mit den Secondhand-Blusen durch, zwei junge Mädchen probierten Hüte auf. Ein älterer Mann stand vor dem Bücherregal, den Kopf schief gelegt, und las die Titel auf den Buchrücken.

Ella hielt Ausschau nach Agatha, aber an der Kasse tat eine andere Frau Dienst. Sie nahm gerade Geld von einer jungen Mutter mit Kleinkind entgegen und wechselte ein paar herzliche Worte mit ihr. Ella stellte sich zu ihnen und lächelte das Kind an, das daraufhin verlegen hinter seiner Mutter Schutz suchte, bis sie fertig war und es an die Hand nahm.

„Und was kann ich für Sie tun, love?“, fragte die Frau an der Kasse schließlich an Ella gewandt. Auf ihrem Namensschild an der altrosa Bluse stand: „Helen, Volunteer“. Auch sie gehörte also zu denen, die hier freiwillig Dienst taten und die Projekte von Heart of Gold unterstützten.

„Ich suche Agatha Summerfield. Ist sie heute nicht hier?“, fragte Ella.

„Agatha? Doch, aber sicher. Sie ist irgendwo hinten. Möchte heute nicht so viele Menschen treffen, sagte sie. Jemand, den sie kannte ... Ach, gehen Sie doch einfach durch.“

Sie deutete in Richtung Umkleidekabine. Und tatsächlich saß Agatha dort häkelnd auf einem Stuhl mit hoher Lehne, der einen der niedrigen Hocker ersetzt hatte. Als Ella auf sie zuging, sah sie von ihrem Häkelzeug auf.

„Ella! Wie schön, dich zu sehen!“

„Hello Agatha!“ Ella bemerkte erschrocken, wie blass und müde Agatha aussah. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Jaja, ich hab einfach nur schlecht geschlafen“, erklärte Agatha und bot Ella einen Platz auf dem freien Hocker an.

Ella setzte sich und überlegte, wie sie am besten auf den Unfall zu sprechen kommen konnte. Agatha begann wieder zu häkeln, irgendetwas Weißes, Duftiges. Sehr weit war sie noch nicht gekommen, aber Ella tippte auf einen Schal.

„Das Häkeln beruhigt mich“, sagte Agatha und sah Ella aufmerksam an. „Könntest du auch mal versuchen.“

Ella nickte.

„Ich kann es dir gerne zeigen“, bot Agatha an.