Für Greta

Kapitel 1 Ein Kunstwerk in Gips

Mein großer Bruder Ben hat einen Gips. Er sagt, nach dem Aufwachen kribbelt es darunter so, als ob eine Ameisenstraße unterwegs sei.

»Emma, hilfst du mir?«, fragt er.

Dann hole ich Papas Kochlöffel und schiebe den Stiel oben an Bens Schulter in den Gips, bis ich alle Ameisen vertrieben habe. Das kann dauern! Seit Ben den Gips hat, weiß ich, dass es immer da am schlimmsten juckt, wo man nicht allein rankommt.

Bens Gipsarm sieht natürlich nicht mehr so hübsch und frisch aus wie vor vier Wochen, als der Arm eingegipst wurde. Papa sagt, dass es ein Wunder ist, dass er sich nur den Arm gebrochen hat, als er vom Dach gefallen ist. Und alle in der Nummer 11 wissen, wem wir dieses Wunder zu verdanken haben: dem Grafen, ich meine Herrn Cornelius von Freudenhain, so heißt der Graf nämlich mit vollem Namen. Aber wir dürfen ihn den Grafen nennen. Oma Becker sagt, der Graf ist ein Nachtgeschöpf, das tagsüber schlafen muss. Deshalb sind beim Grafen auch immer die Vorhänge zugezogen. Ein bisschen seltsam ist er schon, aber Aylin und ich finden, dass der Graf wie alle anderen zur Familie gehört, und deshalb hat er auch etwas auf Bens Gips gemalt. Es soll ein Glücksbringer sein, hat der Graf gesagt. Es sieht aber eher wie ein Würstchen aus. Unter dem Würstchen-Dings steht: »Fällt das Fortunameter unter 10 Prozent, niemand aus dem Hause rennt!«

Bens Gips ist ein richtiges Kunstwerk geworden. Wir Mädchen haben ihm auch Glücksbringer gemalt: Da sind mein vierblättriges Kleeblatt, Jojos Herzchen und Aylins Flickenteppich. Der sieht ganz bestimmt so schön aus wie unser echter Flickenteppich, den Oma Becker uns für das Mädchenversteck geschenkt hat.

»Was soll das sein?«, hat mein großer Bruder Aylin gefragt.

»Ein Flickenteppich«, hat Aylin geantwortet.

»Seit wann bringen Teppiche Glück?«, hat Tarek, ihr Zwillingsbruder, gefragt.

»Fliegende Teppiche vielleicht«, hat Freddy vermutet, aber Aylin hat nur den Kopf geschüttelt, und ich konnte sehen, dass sie überlegt, wie sie den Jungs erklärt, wieso unser Flickenteppich in jedem Fall ein Glücksbringer ist. Aber das kann nicht einmal Aylin in zwei Sätzen beantworten.

Da hat Tarek ihr den Stift aus der Hand gezupft und eine Rakete gezeichnet, die über den Gips zischt. Freddy meinte, wenn er zeichnet, wird das nur Krickelkrakel. Deswegen hat er »Cooler Stunt!!!« mit drei Ausrufungszeichen auf den Gips geschrieben. Sogar die Erwachsenen wollten etwas auf den Gips schreiben. Papa fand Bens Sturz nicht ganz so cool und hat geschrieben: »Großer, mach keinen Quatsch!«

Selda, Aylins und Tareks Mama, hat einen kleinen Schutzengel daruntergesetzt.

Oma Becker aus der Oberetage hat Ben in Schnörkelschrift »Gute Besserung« gewünscht und zwei lustige Vögel danebengepinselt. Das sollen Darling und Rosi, ihre zwei Sittiche, sein. Erkennt man aber nur, wenn man es weiß.

Von Doris, die mit Stella neben Oma Becker in der Oberetage lebt, ist der süße Smiley. Das allertollste Bild stammt aber von Stella. Sie hat ja auch Illustration studiert, weil sie so toll malen und zeichnen kann. Für Ben hat sie einen fliegenden Spiderman gezeichnet, mit Bens Gesicht!

»Hammer!«, hat Ben gesagt. »Der darf beim Gipsabnehmen nicht kaputtgehen.«

Als Letzte haben Freddys Großeltern, die Neumanns, sich auf dem Gips verewigt. »Toi, toi, toi!«, hat Opa Neumann geschrieben, und Oma Neumann hat etwas Rundes danebengekritzelt. Es soll bestimmt ein Lachgesicht sein, aber es sieht doch eher wie eine kleine Erbse aus.

 

Heute soll Bens Gips endlich abgenommen werden. Blöderweise findet heute auch das erste Vorbereitungstreffen für den Kochwettbewerb »Die drei goldenen Kochmützen« statt. Das ist ein berühmter Wettbewerb, an dem nur die allerbesten Köche teilnehmen dürfen! Papa will das Treffen schon sausen lassen, doch als Selda vorschlägt, dass sie uns zum Arzt begleitet, gibt er schließlich nach.

»Zum Abendbrot bin ich spätestens wieder da«, sagt er und winkt uns aus dem Auto zu.

Die Praxis ist gar nicht weit von der Nummer 11, und wir machen uns zu Fuß auf den Weg.

Ben, Tarek und Freddy laufen vorneweg, dahinter kommen Aylin und ich, und hinter uns hüpft Jojo an Seldas Hand von einer Fliese zur nächsten.

»Hoffentlich sägt der Arzt auch vorsichtig«, sagt Aylin, die neben mir geht.

»Ganz vorsichtig!«, ruft Jojo. »Er darf nicht in Bennis Arm sägen.«

»Spätzchen«, sagt Selda, »der Arzt kann das.«

Aylin kichert. »Bens Arm hab ich gar nicht gemeint. Ich meinte, der Arzt soll aufpassen, dass er die Kunstwerke nicht kaputt macht.«

Ben schlenkert mit seinem Gipsarm rum. »Och, ich hab mich an das Einarmigsein gerade gewöhnt.«

»Kommt nicht in die Tüte!«, rufe ich. Denn nach vier Wochen habe ich die Nase voll davon, meinem großen Bruder Brote zu schmieren, Schleifen zu binden oder mit dem Kochlöffel unsichtbare Ameisen zu vertreiben.

 

Ben sitzt auf der Liege, die Arzthelferin hält den Gipsarm hoch, und wir stehen alle rundherum und schauen zu.

»Keinen Mucks«, sagt der Arzt zu uns und blickt zu Ben. »Bereit?«

»Bereit«, sagt Ben.

»Ich beginne oben an deiner Schulter«, erklärt der Arzt und schaltet die Säge ein. Es ist eine echte Kreissäge! Mit ruhiger Hand führt der Arzt die Säge genau zwischen Spiderman und den anderen Kunstwerken hindurch, bis er das letzte Stück aufgesägt hat.

»So«, sagt er und biegt den Gips auseinander. »Jetzt zieh mal deinen Arm raus.«

Bens Schulter bewegt sich. Er runzelt die Stirn. »Geht nicht.«

»Ziehen Sie bitte am unteren Ende«, sagt der Arzt zu der Helferin.

Mein Bruder starrt auf seinen Arm. Ich finde auch, dass er komisch aussieht, gar nicht wie ein echter Arm.

»Warum ist der so dünn?«, fragt Ben mit kratziger Stimme.

Jojo berührt ihn vorsichtig. »Ist das dein neuer Arm?«

Ben versucht, seinen Arm zu bewegen. »Wie neu fühlt er sich nicht an.«

»Mann, der ist ja total weiß!«, sagt Freddy. »Wie ’ne Made.«

»Keine Sorge, der wird schon wieder«, sagt der Arzt, während er Bens Arm sorgfältig untersucht. »Der Bruch ist sehr gut verheilt. Wenn du regelmäßig trainierst, solltest du in ein paar Wochen keinen Unterschied mehr merken.«

 

Als wir eine halbe Stunde später nach Hause kommen, geht unten bei den Neumanns die Tür auf.

»Hab ich doch richtig gehört«, sagt Frau Neumann und schaut zu Ben. »Na, zeig mal deinen Flünken. Alles wieder heil?«

Ben nickt und hebt den Arm.

»Ein bisschen spiddelig ist er ja noch«, meint Frau Neumann.

»Ben soll seine Museln trainieren«, sagt Jojo.

»Seine Mus-k-eln!«, verbessert Frau Neumann.

»Der Bruch ist total super verheilt«, sage ich.

Selda legt Ben die Hand auf die Schulter. »Er braucht nur ein bisschen Training.«

»Na, man soll die Hoffnung ja nie aufgeben«, sagt Frau Neumann und sieht zu Freddy. »Hausaufgabenzeit.«

»Jetzt schon? Oma, darf ich für eine halbe Stunde mit zu Tarek und Ben rauf?«

»Du durftest schon mit zum Arzt. Deine Hausaufgaben sollen vor dem Abendessen fertig sein.«

»Das schaff ich, Oma. Wir haben nicht viel auf.« Freddy sieht Hilfe suchend zu Ben.

»Nur zwei Türme rechnen«, sagt Ben.

»Nee, nee, du hast auch noch nicht Trompete geübt.«

Freddy stöhnt und geht mit seiner Oma rein. »Tschüss, Leute, bis morgen«, sagt er.

 

Was für ein Glück, dass Freddy nicht weiß, dass Ben und Tarek zur Feier des Tages gleich an die PS4 dürfen. Dann hätte er bestimmt doppelt so laut gestöhnt.

»Ich muss ja meinen Arm trainieren«, sagt Ben mit zufriedenem Gesicht.

»Genau, das ist nur Training«, sagt Tarek.

»Nicht vergessen, in einer Viertelstunde sind die Mädchen dran!«, ruft Selda aus ihrem Arbeitszimmer.

»Ja, Mama«, hören wir Tareks Antwort.

Bis wir dran sind, gehen wir in Aylins Zimmer.

Und noch bevor Aylin und ich uns einen Platz in der hellblauen Hängematte sichern können, ist Jojo schon hineingeklettert.

»Macht ihr Anschwung?«

Sehr viel Platz zum Schaukeln ist zwischen Aylins Schrank und Bett auch nicht, aber Jojo juchzt bei jedem Schwung, den wir ihr geben.

»Ratet mal, was ich heute in der Kita bekommen hab.«

»Ein Tattoo?«, frage ich, weil ich weiß, wie sehr Jojo Abziehtattoos liebt.

»Neee.«

»Ein Eis zum Nachtisch«, tippt Aylin.

»Neee.«

»Du bist mit Krümel dran?«, rate ich. Krümel ist eine superweiche Puppe, die Jojos ganzer Kita-Gruppe gehört und die jedes Kind abwechselnd mit nach Hause nehmen darf.

»Neee!« Jojo setzt sich auf und hält uns stolz eine zerknitterte Karte hin. »Eine Einladung. Von Paulina.«

»Die ist aber schön!«, sage ich.

»Sie feiert einen Piratengeburtstag!«

»Und wie alt wird sie?«, will Aylin wissen.

»Fünf!« Jojo reckt sich. »Genau wie ich.«

»Na, du hast aber erst in ein paar Wochen Geburtstag«, erinnere ich sie.

»In ganz wenigen Wochen! Und dann werde ich auch fünf!«, sagt Jojo. »Und zu meinem Geburtstag mach ich eine große Feier, und dann kommen alle! Paulina und Max«, sie sieht zu Aylin. »Du, Tarek, eure Mama, Oma Becker, mein Papa, meine …«

Die Zimmertür geht auf, und Aylins Mama schaut herein. »Jojo, Emma, euer Papa ist da.«

Kapitel 2 Wir haben Post

Der Ordner mit den drei goldenen Kochmützen liegt hinten auf Papas Schreibtisch vor dem Fenster. Ich bin so neugierig, wie das Treffen war, aber Papa weicht immer wieder aus. Erst soll Ben ihm seinen Arm zeigen und haarklein berichten, wie es beim Arzt war. Dann, als wir schon fast mit dem Abendessen fertig sind, frage ich wieder: »Papa, wie war dein Treffen?«

»Ich muss mich bis Montag melden«, sagt Papa knapp. »Ob ich mitmache, oder …«

Im nächsten Augenblick piepst der Backofen, und Papa springt vom Stuhl. »Wer will noch Pommes?«

»Ich!«, rufen Ben, Jojo und ich gleichzeitig.

Papas selbst gemachte Pommes sind so lecker, da esse ich sogar freiwillig ein Stück Fisch und quietschgrünes Erbsenmus mit Minze dazu. Nach der nächsten Pommes-Portion versuche ich noch einmal, mehr über Papas Treffen bei den drei goldenen Kochmützen herauszufinden, doch da liegt schon Jojos Geburtstagseinladung auf dem Tisch.

»Was ist das Hübsches?«, fragt Papa.

»Paulinas Einladung«, verkündet Jojo. »So eine will ich für meinen Geburtstag auch machen. Hilfst du mir dabei, Papa?«

»Beim Malen hab ich zwei linke Hände«, sagt Papa.

Deshalb hat sich auch immer Mama um unsere Einladungen gekümmert, aber das sage ich jetzt lieber nicht.

Papa rührt eine Weile still in dem Rest Erbsenmus auf seinem Teller, dann schaut er zu mir und Ben. »Könnt ihr euch nicht eine schöne Einladung für Jojo ausdenken?«

Ben verschluckt sich an seiner Apfelschorle. »Mit meinem Arm, Papa?«

»Aylin hilft bestimmt«, sage ich. »Vielleicht dürfen wir uns sogar in Seldas Schublade ein schönes Bastelpapier aussuchen.«

»Na, ist das was?«, fragt Papa Jojo.

Sie klettert auf seinen Schoß und kuschelt sich an. »Das wird super.«

So geht das Abendbrot zu Ende, und ich weiß immer noch nicht, ob Papa bei dem Wettbewerb der drei goldenen Kochmützen zusagen will oder nicht.

»Wer deckt ab?«, fragt er. »Wer hilft mir beim Abwasch?«

»Ich will abwaschen!«, ruft Jojo.

»Mein Arm tut noch ziemlich weh. ’tschuldigung«, sagt Ben. »Mit einer Hand geht es ja leider nicht.«

»Aber PS4 spielen!«, flüstere ich ihm zu und drehe mich zu Papa. »Ich deck ab.«

»Super.« Papa schaut zu Ben. »Sieh mal nach, ob wir etwas im Briefkasten haben.«

 

Wir haben Post: Es ist eine Postkarte von Mama. Ben ist so überrascht, dass er uns die Karte einfach vorliest, als er wieder nach oben kommt. Jojo steht auf dem Tritt am Waschbecken, Papa lehnt mit dem Geschirrhandtuch in der Hand an der Arbeitsfläche, ich mache den Kühlschrank zu. Wir stehen alle so still da, dass ich an Dornröschen denken muss, als alle im Schloss in einen hundertjährigen Schlaf fallen.

»Hello, mein Lieblingssohn«, liest Ben. »Meine zwei Sweetie-Mädchen, ich hoffe, es geht euch allen gut und ihr habt euch inzwischen von dem großen Schreck erholt, als Ben vom Dach geplumpst ist.«

Geplumpst, denke ich. Ben ist nicht geplumpst, der ist gestürzt, aber das kann Mama da unten in Australien natürlich nicht wissen.

»Ist dein Arm wieder verheilt? Ich schicke dir jeden Tag eine große Portion Sonnenschein, denn Knochen brauchen viel Sonne, um zu heilen. Eine dicke Koala-Umarmung für euch und einen lieben Gruß an Papa. Eure Mama.«

 

Ich atme ein und denke daran, wie es war, als Mama uns alle drei gleichzeitig in eine große Mama-Umarmung gezogen hat.

Am Waschbecken nimmt Jojo einen Teller aus dem Wasser und stellt ihn scheppernd auf das Abtropfgestell. »Papa, weißt du? Mama muss auch zu meinem Geburtstag kommen. Das wünsche ich mir.«

Ben und ich sehen uns an.

Papa nimmt den Teller von dem Abtropfgestell und beginnt, ihn abzutrocknen. »Mal sehen, Kleines«, sagt er leise, und als er denkt, wir sehen nicht hin, wischt er sich schnell mit dem Handtuch über die Augen.

Jojo dreht sich zu ihm. »Hörst du, Papa? Das ist mein allergrößter Herzenswunsch.«

Und obwohl ich es überhaupt nicht will und total sauer auf Mama bin, weiß ich in diesem Augenblick, dass es auch mein Herzenswunsch ist.

Kapitel 3 Wir lassen den Frühling ins Haus

Freddys Skateboard sirrt über die Gehwegplatten. »Hilfe! Könnt ihr mir die Haustür aufhalten?«, ruft er und springt im letzten Moment von seinem Board. Direkt hinter ihm kommen Tarek und Ben angelaufen.

»Ich hab heute Schwimmtraining«, höre ich Tarek sagen. »Wollen wir alle zusammen gehen?«

»Mit meinem Labberarm?«, fragt Ben. »Ich will doch nicht ertrinken.«

»Quatsch«, sagt Tarek. »Schwimmen ist das beste Armtraining für dich. Das gibt Muckis!«

»Ich hab auch Lust, zu schwimmen«, sage ich.

Aylin schüttelt den Kopf. »Die schwimmen nur Bahnen. Auf Zeit.«

Das ist vielleicht doch nicht ganz das, wozu ich heute Nachmittag Lust habe.

Freddy tippt sein Brett hoch, und wir gehen gemeinsam ins Haus. »Ich würde auch gern mitkommen, aber Oma will, dass ich ihr heute bei der Treppe helfe.«

»Das dauert doch nicht Stunden«, meint Ben.

Freddy macht dicke Backen. »Da kennst du meine Oma aber schlecht.«

»Wollen wir uns nicht einen Mädchennachmittag machen?«, fragt Aylin mich leise, als wir die halbe Treppe in die Mitteletage raufgelaufen sind. Nach vier Wochen, in denen wir Ben jeden Tag geholfen haben, klingt ein Nachmittag ohne Jungs ziemlich gut.

»Dann gehen wir ein anderes Mal mit schwimmen?«, frage ich halb Aylin und halb Tarek, der noch mit Freddy und Ben im Erdgeschoss steht.

Doch ehe sie antworten können, geht unten die Kellertür auf, und jemand ruft: »Freddy!«

Ich finde, die Erbsenzählerin klingt ganz schön außer Atem.

»Oma?«, fragt Freddy.

Aylin zupft mich am Ärmel und gibt mir ein Zeichen, schnell hoch in die Mitteletage zu laufen. Aber Ben und Tarek sind auch noch unten. Ich bleibe auf dem Treppenabsatz stehen.

Frau Neumann kommt schnaufend um die Ecke. Sie geht ganz krumm und schleppt einen vollgepackten Putzeimer und einen Feudel heran.

Freddy nimmt ihr die Sachen ab. »Oma, was ist los?«

»Mich hat die Hexe erwischt«, sagt sie mit einem Ächzen und wirft einen Blick in die Runde. »Prima, dass ihr alle da seid. Dann könnt ihr dem Freddy heute mit der Treppe helfen. Ich schaffe das nicht. Mein Knie ist dick, und mein Rücken …!«

Freddy schiebt sein Käppi nach hinten. »Aber Oma!«

Wir sind doch gar nicht mit der Treppe dran, will ich sagen. Aber dann sehe ich noch mal zu Freddys Oma, die wirklich aussieht wie eine Buckelhexe. Und ich sehe zu Freddy, der rot geworden ist.

Als er meinen Blick spürt, sagt er: »Leute, das krieg ich schon allein hin. Echt wahr, kein Thema.«

»Quatsch, Mann«, widerspricht Tarek.

»Ich wische mit links«, sagt Ben mit einem breiten Grinsen.

»Wir helfen auch«, sage ich.

»Zusammen geht es ja auch viel schneller!«, meint sie.

Frau Neumann hebt ihren Zeigefinger. »Schnell geht hier gar nichts! Das Treppenhaus soll tipptopp werden.«

So kommt es, dass wir weder schwimmen gehen noch Zeit für einen Mädchennachmittag haben, sondern gemeinsam die Treppe putzen.

Tarek und Ben haben sich den Eimer mit dem Feudelwasser geschnappt und wollen Freddy helfen, die Treppe vom Obergeschoss bis in den Keller zu wischen. Ben hat noch nicht genug Kraft in seinem rechten Arm und kann deswegen alles nur mit links machen.

»Lass mich den hochheben«, hören wir Freddy sagen. Aber da scheppert es auch schon, und eine Fuhre Wasser schwappt durch das offene Treppenhaus nach unten. Wir können gerade noch zur Seite springen.

»Hey, passt doch auf, ihr da oben!«, rufe ich.

Wir fangen unten im Erdgeschoss mit dem Putzen an. Freddy hat uns erklärt, dass zum richtigen Treppeputzen, so wie seine Oma es macht, auch die Türen und die Türrahmen gehören. Die müssen wir einseifen und polieren, bis sie blitzen.

Das Wasser in unserem Putzeimer duftet nach Apfel. Ich stelle den Eimer ganz nah vor die Tür des Grafen, damit wir nicht so eine Kleckerei veranstalten, und tauche den Schwamm in das warme Wasser.

»Guck mal«, sagt Aylin und zieht etwas vom Türrahmen ab. »Ein Klebezettel.«

Ich fühle so ein ganz prickeliges Gefühl im Bauch. »Vom Grafen?«

Sie hält mir den gelben Zettel hin. »Aktueller Stand: 33 Prozent«, liest sie vor.

Aus dem Schwamm tropft das Wasser auf meine Schuhe. »Was das wohl heißt?«

»Ob es wieder etwas mit dem Radio zu tun hat?«, überlegt Aylin.

Bevor ich antworten kann, steht plötzlich Frau Neumann auf der anderen Seite in der Tür. »Mädchen, was trödelt ihr denn da rum? Ich dachte, ihr wollt Freddy helfen.«

Aylin lässt den Klebezettel in ihrer Hosentasche verschwinden.

»Sind schon dabei«, sagt sie.

Ich tauche den Schwamm noch einmal in das Apfelwasser. »Wir sind schon fast fertig.«

»Aber …«, fängt die bucklige Erbsenzählerin noch mal an.

Da fällt Aylin ihr ins Wort. »Ruh dich schön aus, Frau Neumann«, sagt sie mit einem ganz lieben Lächeln. »Wir wollen gleich deine Tür sauber machen.«

»Ach so, aber vergesst nicht, die Fußmatten auszuschütteln!«

»Machen wir«, sagt Aylin, und dann ist die Tür zu.

So sauber wie heute war die Nummer 11 bestimmt noch nie. In der Mitteletage treffen wir die Jungs. Ben wischt die Streben des Geländers, und dann kommen Tarek und Freddy mit Feudel und Eimer hinterher.

Tarek feudelt einmal direkt über Aylins Hausschuhe. »Blödi! Lass das!«

Tarek macht ein unschuldiges Gesicht. »Das war der Feudel!«

»Komm, Aylin, wir warten mit der Mitteletage, bis die Jungs hier fertig sind«, sage ich, und bevor Tarek, Ben und Freddy sich wegducken können, spritze ich sie mit einer Handvoll Apfelwasser an.

Als wir in der Oberetage ankommen, schnappt Aylin sich die Kokosmatte von Doris und Stella, öffnet das Fenster in der Nische hinter der Zimmerlinde und schüttelt die Matte tüchtig aus. In diesem Augenblick geht die Tür bei Oma Becker auf.

»Vorsicht!«, sage ich. »Das Fenster ist auf.«

Oma Becker macht die Tür bis auf einen kleinen Spalt wieder zu.

»Gut, dass du Bescheid gibst. Wenn Darling und Rosi das mitbekommen, sind die zwei weg wie der Frühlingswind.«

Hinter mir klappt Aylin das Fenster zu und legt die Fußmatte zurück. Oma Becker schiebt die Nase ein Stückchen weiter aus der Tür und schnuppert. »Wieso riecht es hier so herrlich frisch nach Frühling?«

»Das ist der Apfelduft im Wasser«, erkläre ich.

»Wir helfen Freddy mit dem Treppeputzen«, sagt Aylin.

»Seiner Oma tut nämlich der Rücken und das Knie weh«, sage ich.

Oma Becker macht einen kleinen Wiegeschritt. »Jaja, ich rate ihr schon seit Jahren, mit Otto tanzen zu gehen. Tanzen hält jung.«

Ich wusste gar nicht, dass Freddys Opa Otto heißt, und mal ehrlich, beim Tanzen kann ich mir die Erbsenzähler überhaupt nicht vorstellen.

»Ich tanz auch gern«, sagt Aylin. »Frau Weiß übt mit uns manchmal Tänze in Sport.«

Ich stelle den Putzeimer mit dem Apfelduftwasser vor Oma Beckers Tür. »Aber nicht seit ich in der Klasse bin.«

»Vor den Ferien kommt das bestimmt noch mal dran«, sagt Aylin.

»Wenn ihr mögt, kann ich euch einen Tanz zeigen«, schlägt Oma Becker vor.

»Jetzt gleich?«, frage ich und wische meine Hände an meiner Jeans ab.