Susette Schumann, Gesundheits- und Krankenpflegerin, Master of Business Administration Gesundheitsmanagement, Tätig in der Fort- und Weiterbildung beim Evangelischen Diakonieverein Berlin-Zehlendorf, stellv. Vorstand der Deutschen Fachgesellschaft Aktivierend-therapeutische Pflege e. V.
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1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-036348-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-036349-6
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Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und soziale Teilhabe
Die Überschrift der gesamten Buchreihe »Altenhilfe verstehen und umsetzten« bietet eine willkommene Möglichkeit, die Unterstützung älterer Menschen trotz körperlicher, psychischer und sozialer Einschränkungen nicht aus der Perspektive ihrer Schwäche heraus zu beschreiben, sondern vielmehr aus ihrer Position der Stärke. Sie findet ihren Ausdruck in der eingehenden Beschäftigung mit den Kompetenzen älterer Menschen, die sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung im Laufe ihres Lebens erworben haben und von der die Pflegenden in der Altenhilfe profitieren können, um Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und soziale Teilhabe im Rahmen des Möglichen zu verwirklichen und durch Anstöße zur persönlichen Weiterentwicklung nachhaltig zu sichern.
Es scheint kein Zufall zu sein, dass auch pflegewissenschaftliche Veröffentlichungen und sozialpolitische Vorgaben den Fokus auf die Kompetenzen älterer Menschen und damit der Gestaltung der Lebenspanne Alter, die sich zwischen persönlicher Abhängigkeit und Unabhängigkeit bewegen kann, richten. Am deutlichsten wird dies an der wissenschaftlich-systematischen Entwicklung des noch »neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes«, der treffender als der »umfassendere Pflegebedürftigkeitsbegriff« beschrieben werden könnte. An seinem Beispiel wird deutlich, dass sich Altenpflege zukünftig inhaltlich mehr auf die zentralen Begriffe wie individuelle Ressourcen, Kompetenzen und in der Folge mit der Betonung der Selbstbestimmung bei älteren Menschen durch die Fokussierung auf ihre Selbstständigkeit konzentrieren wird. Für den Bereich der Selbstbestimmung schließt er an die schon länger gültige Zusage im SGB X an.
Altenpflege befasst sich von daher nur in Ausnahmesituationen und vorrübergehend, wie z. B. bei akuten gesundheitlichen Einschränkungen oder bei Phasen von körperlicher und geistiger Abhängigkeit von Dritten, mit der Kompensation der Selbstbestimmung der älteren Menschen.
Auswirkungen auf das Altersbild
Reflexion der eigenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten
Die Fokussierung auf die Selbstbestimmung von älteren Menschen hat dann möglicherweise auch Auswirkungen auf das gängige Altersbild der Schwäche, was gerade professionelle Personen in ihrem Handeln beeinflusst und so Auswirkung auf die Gestaltung der pflegerischen Versorgung haben kann. Damit verbunden ist die Reflexion der eigenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten als ein wichtiger Schritt für die Gestaltung der pflegerischen Versorgung. Einschränkungen durch institutionelle Gegebenheiten, z. B. in stationären Pflegeeinrichtungen durch gesetzliche oder innerbetriebliche Vorgaben, beschränken die Selbstbestimmung von älteren Menschen und der Pflegenden gleichermaßen.
persönliche Entscheidungen
Die reflektierte Berücksichtigung von Selbstbestimmung liegt sicherlich auch im Interesse der älteren Menschen, die ihre Lebenszufriedenheit eher aus einer von persönlicher Autonomie geprägten Lebensgestaltung ziehen können und die Phasen der persönlichen Abhängigkeit auf das absolute Minimum reduzieren möchten. Wünschenswert wäre deshalb auch, dass ihre Perspektive Eingang in zukünftige Empfehlungen zur qualitätsorientierten pflegerischen Versorgung finden würde und auf diesem Weg ihre Präferenzen und die damit verbundenen persönlichen Entscheidungen Gegenstand des pflegerischen Aushandlungs- und Gestaltungsprozesses werden.
Verknüpfung von pflegerischem Wissen und methodischer Vorgehensweise
In der vorliegenden Buchreihe »Altenhilfe verstehen und umsetzten« findet sich zum einen die Aufbereitung von aktuellem Wissen zur Selbstbestimmung bei älteren Menschen und zum anderen ein Überblick über Vorgehensweisen, ihre Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung zu identifizieren, sie mit ihnen gemeinsam und aus einer professionellen Perspektive zu bewerten, um im Anschluss daran Interventionen zu verabreden, die den Wünschen und Zielen der älteren Menschen entsprechen. Die Verknüpfung von pflegerischem Wissen und methodischer Vorgehensweise verbindet Theorie mit pflegewissenschaftlichen Inhalten und der persönlichen Bedeutung für den einzelnen älteren Menschen.
Fachkompetenz
Die Aufbereitung des aktuellen Wissens zur Selbstbestimmung erfolgt durch eine breit angelegte Darstellung der Inhalte mit dem Ziel der Erweiterung der eigenen Fachkompetenz. Darunter können inhaltliche Fakten, Grundsätze, Grundprinzipien, aber auch Konzepte oder Theorien verstanden werden (vgl. Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen 2011). Mit dieser Basis wird es möglich, professionelle Aufgaben zu bewältigen, die sich aus den individuellen Bedürfnissen nach Selbstbestimmung der älteren Menschen ergeben. Eine professionelle Aufgabe bewältigen bedeutet in diesem Kontext, die Identifikation der Einschränkung der Selbstbestimmung bei der Einzelperson, die angemessene und gemeinsame Erarbeitung einer persönlichen Entscheidung unter besonderer Berücksichtigung der individuellen Wünsche und Ziele der älteren Menschen und der begründeten Darstellung eines pflegefachlichen Lösungsangebots. Die sich anschließende Umsetzung des Lösungsangebots, ggf. mit personeller Unterstützung anderer professioneller oder auch nicht professionellen Personen und die Evaluation des erzielten Ergebnisses runden diesen Prozess ab (vgl. ebd.).
Methodenkompetenz
Die Orientierung am person-orientierten pflegerischen Ansatz erfordert die Verfeinerung der eigenen Methodenkompetenz im Sinne professioneller Vorgehensweisen, sich den möglichen Einschränkungen der Selbstbestimmung der älteren Menschen systematisch zu nähern. Sie beinhaltet die Kenntnis um ein an Systematiken oder Prinzipien orientiertes reflektiertes Handeln. Beides stellt in den Mittelpunkt, professionelle Gestaltungs-, Entscheidungs- und Handlungsoptionen unter Einbeziehung der älteren Menschen zu erkennen und zu nutzen (vgl. Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen 2011).
Pflegerischer Qualifikationserwerb
Es ist zu begrüßen, dass mit dem Pflegeberufegesetz (PflBG) im Jahr 2020 die Qualifikationserfordernisse des Deutschen Qualifikationsrahmens darin Eingang finden. Mit diesem Schritt basieren der berufliche und der hochschulische pflegerische Qualifikationserwerb aller zukünftigen Pflegenden auf einheitlichen Anforderungen, die den Dialog und die Kooperation zwischen den Absolventen beider Qualifikationswege zum Nutzen der älteren Menschen verbessern helfen.
Vorbehaltstätigkeiten
Die dazu unterstützend eingeführten Vorbehaltstätigkeiten müssen von beruflich pflegenden Personen ausgeführt werden, die eine Berufserlaubnis haben (vgl. Bundesgesetzblatt Juli 2017) und umfassen:
• Die Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs.
• Die Organisation, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses.
• Die Analyse, Evaluation, Sicherung und Entwicklung von Qualität der Pflege (vgl. Bundesgesetzblatt Juli 2017).
Konkretisiert werden die pflegerischen Vorbehaltstätigkeiten durch die Beschreibung des zukünftigen Ausbildungsziels, das im Rahmen der Ausbildung zu erreichen sein wird, um als professionell Pflegende tätig werden zu dürfen.
Die Ausbildung soll Pflegende insbesondere im Umgang mit der Selbstbestimmung der älteren Menschen dazu befähigen, die Vorbehaltstätigkeiten im Detail auszuführen. Dazu gehören:
• Die Bedarfserhebung und Durchführung präventiver und gesundheitsfördernder Maßnahmen.
• Die Beratung, Anleitung und Unterstützung von älteren Menschen bei der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit sowie bei der Erhaltung und Stärkung der eigenständigen Lebensführung und Alltagskompetenz unter Einbeziehung ihrer sozialen Bezugspersonen.
• Die Erhaltung, Wiederherstellung, Förderung, Aktivierung und Stabilisierung individueller Fähigkeiten der zu pflegenden Menschen insbesondere im Rahmen von Rehabilitationskonzepten sowie die Pflege und Betreuung bei Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten (vgl. Bundesgesetzblatt Juli 2017).
Ausbildungsziel
Das in Zukunft zu erreichende Ausbildungsziel orientiert sich im Bereich der Fachkompetenz an Prävention und Gesundheitsförderung in der Pflege, an der Befähigung älterer Menschen zu einer eigenständigen Lebensführung und zur Wiedererlangung verlorengegangener Kompetenzen durch einen Rehabilitationsprozess. Das Ziel der künftigen Ausbildung fokussiert auf den Erhalt oder die Wiedererlangung von Selbstständigkeit zur eigenständigen Lebensführung, die die größtmögliche Selbstbestimmung und ihren Respekt vor dieser bei älteren Menschen mit einschließt.
Den Einzelfall verstehen
Den Einzelfall verstehen: es stellt sich zu Beginn die Frage, was im Zusammenhang mit Selbstbestimmung des älteren Menschen als »Einzel« und was als »Fall« bezeichnet werden kann?
»Einzel« kann für ein singuläres Ereignis, eine individuelle Situation, einen persönlichen Wunsch, ein persönliches Ziel, eine persönliche Entscheidung, für eine am einzelnen älteren Menschen ausgerichtete professionelle Aufgabe, Anforderung und deren erzieltes Ergebnis stehen. Grundlage ist die Einschätzung der persönlichen Entscheidungskompetenz, um die persönliche Selbstbestimmung zu leben.
Als »Fall« kann etwas bezeichnet werden, womit eine Person rechnen muss, z. B. eine bestimmte Entscheidung treffen zu müssen oder das Auftreten oder Vorhandensein einer Erkrankung oder Einschränkung in Alltagskompetenzen, die der professionellen Unterstützung bedarf.
Person-orientierter Ansatz
Das »Verstehen« des Einzelfalls als person-orientierter Ansatz bezieht sich auf die Wahrnehmung und die Deutung von verbal kommunizierten Worten, als beobachtete Handlungen oder Situationen als Ausdruck nonverbaler Kommunikation. Dazu zählt, etwas sowohl kognitiv als auch intuitiv zu erfassen oder zu durchdringen, etwas deutlich wahrnehmen zu können, eine gute, vom gegenseitigen Verständnis getragene Beziehung zu haben oder etwas gut und sicher zu können.
Den »Einzelfall verstehen« zeichnet sich deshalb durch seine facettenreiche Bedeutung aus, die sich mithilfe verschiedener Methoden erschließen lässt ( Abb. 1).
Kennenlernen und Wahrnehmen einer Person