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Paul Jorion

Der Letzte macht das Licht aus

Ein Essay über die Auslöschung der menschlichen Spezies

Aus dem Französischen von Christian Driesen

Zweitausendeins

Die deutschsprachige Ausgabe wird herausgegeben von Zweitausendeins und Ute Höft.
Herzlichen Dank an Frau Höft für ihr Engagement.

Deutsche Erstausgabe.
Die Originalausgabe ist unter dem Titel »Le dernier qui s’en va éteint la lumière: Essai sur l’extinction de l’humanité« bei Librairie Arthème Fayard, Paris, Frankreich erschienen.
Copyright © 2016 by Paul Jorion.
Alle Rechte für die deutsche Ausgabe und Übersetzung
Copyright © 2019 by Zweitausendeins GmbH & Co. KG, Karl-Tauchnitz-Str. 6, 04107 Leipzig.
Umschlaggestaltung: DESIGNPREISZ Jörg Preißinger, Schwetzingen
unter Verwendung einer Illustration von Jan Rieckhoff.
ISBN 978-3-96318-070-5

Inhalt

Warnhinweis

Zu ihrer großen Überraschung steht eine Spezies kurz vor der Auslöschung

Wie ich das Thema behandeln werde

I. Die Auslöschung droht

»Das ist keine Krise, gute Frau, das ist eine Auslöschung!«

Unser Leben in zwei Epochen

Das Soliton

Die »unsichtbare Hand« und die Auslöschung

Die Dinge vom rein kommerziellen Standpunkt aus betrachten

II. Warum wir nicht reagieren

Unsere Stimmen werden nicht mehr gehört

Der Machthaber ist weder jemals Philosoph gewesen, noch hat er je den Philosophen angehört

Der Krieg ist stets und ständig die einzige infrage kommende Lösung für komplizierte Problemlagen

Eine künstliche Intelligenz wird kommen, und die Armee wird sich ihrer annehmen

Die drei Komponenten des Soliton

Es ist höchste Eisenbahn

Der Roboter hat gewonnen!

Der Ultraliberalismus beschleunigt die Ankunft einer Welt, die nur aus Robotern besteht

»Ruhm den zukünftigen Generationen!«

Das kurzfristige Denken ist den Standards im Rechnungswesen eingraviert

Das unabnutzbare Eigentum und das, was sich bei seinem Gebrauch abnutzt

Wachstum ist wichtig, um die Zinsen zu bezahlen

Wachstumsrücknahme ist im kapitalistischen Rahmen unmöglich

Die »Reichtumskonzentrationsmaschine«

Der Anteil des Finanzsektors an der Wirtschaft eines Landes

Der Sozialstaat wird dem Wachstum untergeordnet

Die politische Ökonomie ist eine echte Wirtschaftswissenschaft

Die ökonomische »Wissenschaft« gibt vor, neutral und unpolitisch zu sein

»Bei diesen Leuten erzählt man nicht, mein Herr: Man zählt«

Die ökonomische »Wissenschaft« hat ihre epistemologische Naivität zum Prinzip erhoben

Das Finanzwesen wird durch Prinzipien geregelt, gegen die man nur verstoßen kann

Steueroasen sind das wahre Herz des Finanzsystems

Die wirtschaftliche Kontrolle ist hochgradig konzentriert

Unsere Demokratie hat faktisch »Zensus«-Charakter

Der Sozialabbau wird durch Sperrklinken unumkehrbar gemacht

Der Bourgeois und der Citoyen in uns haben widerstreitende Ansprüche

Die Demokratie liegt nunmehr an der Kette

III. Unsere Spezies, was ist das?

Die Karten sind mittelmäßig und zu unseren Ungunsten verteilt

Die Reproduktion: ewige Quelle der Ablenkung

Die »Frühreife« der Spezies macht die Sache besonders kompliziert

Wille und Intention sind eine Illusion

Das Bewusstsein ermöglicht uns den Aufbau eines adaptiven Gedächtnisses

Die Erfindung des imaginären Ich

»Das Ich ist paranoid«

Die Objekte üben Macht auf uns aus

Die Regeln üben Macht auf uns aus

Die Anforderungen für das Überleben des Individuums und dasjenige der Spezies stehen potenziell in Konflikt miteinander

Was im Inneren unseres Körpers geschieht und wie es Einfluss auf uns ausübt

Muss man sich mit dem Einfluss abfinden?

Wenn das, was man tut, und die Person, die man zu sein glaubt, in eins fallen

Was ist Ethik?

Was heißt Verantwortung?

Wir sind nie auf dem letzten Stand

IV. Besitzt unsere Spezies die Mittel, um ihre Auslöschung zu verhindern?

Wir können immer noch nicht glauben, dass wir sterben werden

Das Himmelreich hemmt

Wir gehören einer unglücklichen Spezies an

»Nach uns die Sintflut!«

Beim Warten auf die Unsterblichkeit schlagen wir lieber die Zeit tot

Weisheit, Heiligkeit, Heldentum: Welche Wahl treffen?

Schönheit ist die Zeit, die stillsteht

Die Schönheit unserer Gemeinplätze

Die Bedeutung der Tragödie

»Die sokratische Lust der Erkenntnis«

Ist der Mensch aus freien Stücken, aufgrund seiner Natur oder durch göttlichen Eingriff ein soziales Wesen?

Der wahre Feind: Benthams Ultraliberalismus

Die Lösung ist also eine Religion … aber dann eine atheistische?

Wenn wir zur Rettung der Spezies entschlossen wären, könnten wir es dann auch?

V. Abschied nehmen vom Menschengeschlecht?

Und wenn es viele Welten gäbe?

Die Natur löst ihre Probleme nicht: Sie versucht es später noch einmal, das ist alles

Gott liegt nicht hinter, sondern vielleicht vor uns

Welche Optionen wir haben

Trauer um das Menschengeschlecht

»Verachten Sie nichts, aber ahmen Sie auch nichts nach, was vor uns gewesen ist.«

Könnte die Auslöschung nicht vielleicht ein Fortschritt sein?

War es die Aufgabe des Menschen, die intelligente Maschine hervorzubringen?

»Ist außerirdische Intelligenz ein weit verbreitetes Phänomen, so ist es ihre selbstzerstörerische Tendenz mit Sicherheit ebenso.«

Ist Hilfe unterwegs?

»Wie alles zugrunde gehen kann«

VI. Schlussfolgerung

»Hoffnung ist ein Fehler:
Wenn du nicht reparieren kannst,
was kaputt ist, wirst du verrückt.«

Mad Max. Fury Road, 2015.

»›Panikmacher‹ werden wir genannt.
Ja, das versuchen wir zu sein.
Das Wort ist ein Ehrenwort.
In der Tat besteht heute die wichtigste
moralische Aufgabe darin,
den Menschen klarzumachen,
dass sie sich zu ängstigen und
dass sie ihre legitime Angst
offen zu proklamieren haben.«

Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an?,
Günther Anders
, 1979.

Warnhinweis
Zu ihrer großen Überraschung steht eine Spezies kurz vor der Auslöschung

Es ist kaum fünfzig Jahre her, dass sich das Menschengeschlecht überlegen gefühlt hat. Heute befindet es sich kurz vor seiner Auslöschung. Dieser Bedrohung steht es willenlos, ja fast schon gleichgültig gegenüber, oder – was aus praktischer Sicht auf dasselbe hinausläuft – es versucht, kommerziellen Gewinn aus allen bislang ergriffenen Gegenmaßnahmen zu schlagen. Kurz, es verkennt de facto das Dräuen und das Ausmaß der Gefahr.

Wie lässt sich das erklären? Ein erster Ansatz müsste versuchen, das Wesen der menschlichen Gattung zu charakterisieren.

Wurde die erste Frage beleuchtet, stellt sich sogleich eine zweite: Besitzt unsere Art überhaupt die Mittel, um ihre eigene Auslöschung zu verhindern? Leider lässt diese Frage nur eine einzige Antwort zu: Ihre psychische Ausstattung und ihre bisherige Geschichte legen nahe, dass sie der Aufgabe nicht gewachsen ist.

Was also tun? Auf einen Sprung hoffen: dass sich die Art endlich für ihr Schicksal interessiert – etwas, das bis heute nicht der Fall gewesen ist, da sie die Entdeckung unser aller Sterblichkeit zwar zutiefst bestürzt hat, doch mehrere Jahrtausende des Grübelns nicht dazu geführt haben, dass ein Ende des Nachdenkens in Sicht wäre.

Bevor man sich die mutmaßliche Auslöschung bewusst machen und ihr anschließend die Stirn bieten kann, muss die menschliche Gattung zu allererst ihre chronische Depression überwinden. Sie wird ihr Schicksal nur dann in die Hände nehmen können, wenn sie einen gewissen Stolz erlangt und verstanden hat, was die wahre Bedeutung eines erfüllten Lebens ist, welches als volle und selbstgenügsame Einheit, von der Geburt bis zum Tod, ohne Vorher und Nachher, für sich allein Sinn ergibt.

Wie ich das Thema behandeln werde

Es gibt den geläufigen Ausdruck einer »Unterhaltung über dieses und jenes«, aber kann man sich einen »Monolog über dieses und jenes« vorstellen? Wenn die Sache überhaupt Sinn ergeben soll, dann wäre man nicht weit entfernt von dem, was die Psychoanalyse als »freie Assoziation« bezeichnet. Doch die freie Assoziation ist, zumindest für den Gesprächspartner, durch den Gedankensprung gekennzeichnet, und es ist Freuds Verdienst, unterstrichen zu haben, dass für den Sprechenden nichts mehr Sinn ergibt als das, was er ohne offenkundigen Zusammenhang dahinsagt. Denn verborgen unter dem, was Sprünge im kontinuierlichen Verlauf zu sein scheinen, findet sich die implizite Verknüpfung: der Sinn des gesamten bisherigen Lebens eines menschlichen Wesens, das keine andere Wahl hat, als zu sagen, was es sich in eben diesem Moment sagen hört.

Ein »Monolog über dieses und jenes« funktioniert nach anderen Regeln: Wer etwas äußert, weiß, dass er gehört wird, und zwar nicht von einem Psychoanalytiker, der ihn doch ausdrücklich aufgefordert hat, »alles zu sagen, was ihm in den Sinn kommt, ohne dabei auf etwaige Unstimmigkeiten zu achten«, sondern von jemandem, der anderer Ansicht sein könnte. Er muss also mit möglichen Einwänden rechnen und sie im Vorhinein sich selbst gegenüber machen, um einem Kontrahenten zuvorzukommen, der eventuell widersprechen könnte.

Ich werde mein Bestes geben.

I. Die Auslöschung droht
»Das ist keine Krise, gute Frau, das ist eine Auslöschung!«

Im Folgenden werde ich Ihnen die – tragische – Geschichte einer Spezies erzählen, der einst ihre eigene Auslöschung bevorstand. Sie war sich dessen vollkommen bewusst, doch fand sie sich hoffnungslos schlecht ausgerüstet, um einer solchen Ablauffrist die Stirn zu bieten. Zum Leidwesen dieser unglückseligen Art waren ihre Anführer der Meinung, dass die sich stellende pharaonische Aufgabe einzig und allein »von einem rein kommerziellen« Standpunkt aus angegangen werden könne. So besiegelte die Beschränkung auf »rein kommerzielle« Sicht ihr unheilvolles Schicksal, denn dies konnte nur eins bedeuten: dass sie sich auf den Weg der Selbstzerstörung begab. Die gewählten Anführer der Spezies machten das Problem des Überlebens schlichtweg unlösbar. Ihre Lage war also desolat.

Die Spezies, um die es hier geht, ist die menschliche Gattung. Ich bin eines ihrer Exemplare. Ich werde versuchen, folgende paradoxe Frage zu beantworten: Warum hat das Genie des Menschen ihm erlaubt, intelligente Maschinen zu erschaffen, die ihn bei weitem überdauern werden, und ihm indes verwehrt, das Überleben seiner eigenen Art zu sichern? Ich werde mich darum bemühen, diese Frage zu erhellen, und zwar nicht zum Nutzen zukünftiger Generationen – denn kommende Generationen wird es in beängstigend naher Zukunft höchstwahrscheinlich nicht mehr geben –, sondern zur Erbauung all jener, die uns später lesen werden: Bewohner anderer Welten oder intelligente Maschinen, die uns nachfolgen werden in einer besudelten und ausgelaugten Welt, die wir ihnen hinterlassen haben und die sie vielleicht aufgrund weitblickender Voraussicht in ihrer ganzen Pracht, die herrschte, bevor wir sie verwüstet haben, wiederherstellen würden.

Unser Leben in zwei Epochen

Unser Leben – das meiner Generation – umspannt zwei Epochen, die an entgegengesetzten Enden des Imaginären angesiedelt sind: die Zeit unserer Kindheit, in der man sich das »Ende der Geschichte« eines niemals friedfertigen Menschengeschlechts ausgemalt hat, und die heutige Zeit, in der man sich stattdessen über das voraussichtliche Ende der menschlichen Gattung, ihrer Auslöschung bewusst wird.

In seinen 1947 erschienenen Vorlesungen zu Hegels Phänomenologie des Geistes, die er an der École pratique des hautes études in Paris zwischen 1933 und 1939 gehalten hat, formulierte Alexandre Kojève den Gedanken, dass die Geschichte in eine stationäre Phase eintreten könnte, die keine Umwälzungen im eigentlichen Sinne mehr, sondern nur noch Vorkommnisse in der Kategorie »Sonstiges« kennen würde.1 Francis Fukuyama untersuchte Ende der 80er-Jahre den Begriff vom »Ende der Geschichte« ein weiteres Mal.2

In einer Welt, die sich in den Traum vom neuen Garten Eden verstiegen hatte, brach die Kenntnis von der mutmaßlichen Auslöschung der menschlichen Gattung wie ein Blitz am wolkenlosen Himmel hervor. Das Donnergrollen, das folgte, war ohrenbetäubend. Die Berechnungen der Wissenschaftler gaben ohne jeden Zweifel das Ende des 21. Jahrhunderts als letztes Datum an. Es hätte einer schnellen Reaktion bedurft, doch nun ist jede Hoffnung verloren.

Unser Bild von der Welt, in der wir leben, mutierte innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten von einem paradiesischen Hafen zu einem Höllenschlund.

Das Soliton

Als ich im Dezember 2011 gebeten wurde, einen Vortrag für die Alumni der französischen Business School HEC zu halten, sagte mir die Gastgeberin etwas in der Art von »Wenn Sie uns einen allgemeinen Überblick geben könnten …«. In diesem Moment kam mir das Bild vom »Soliton« in den Sinn, einem Tsunami, der aus mehreren, sich überlagernden Wellen entsteht, um eine einzige, jedoch monströse Woge zu bilden.

Aus welchen Elementen nun setzt sich diese Monsterwelle zusammen? Es sind drei an der Zahl. Zunächst die Umweltkrise: die Erschöpfung der Bodenschätze sowie die von der Versauerung der Meere und dem Anstieg des Meeresspiegels begleitete Klimaerwärmung. Dann das, was ich einmal die »Komplexitätskrise« genannt habe: Krise aufgrund einer Welt, in der die Zahl der Interaktionen ansteigt, weil wir mehr und mehr werden in einer zunehmend technisierten Umgebung, einer Welt, in der wir Computer für uns entscheiden lassen, während Arbeitsplätze verschwinden, weil wir durch Maschinen in Form von Robotern und Programmen ersetzt werden. Schließlich die Wirtschafts- und die Finanzkrise, deren Ursache darin liegt, dass unsere Systeme in ihrem Inneren eine gigantische »Reichtumskonzentrationsmaschine« beherbergen, die durch die Zahlung von Zinsen auf Schulden genährt wird und deren schädliche Wirkungen durch Spekulation – in jener ganz spezifischen Bedeutung, die ihr Artikel 421 des 1885 außer Kraft gesetzten französischen Strafgesetzbuchs zuweist: »die Wette auf den Anstieg oder den Abfall des Werts von Finanztiteln« – noch verstärkt werden. Spekulation, die von allen als harmlose Skurrilität toleriert wird, und dies im Wesentlichen, weil jeder darin ein Spiel sieht, dem er sich selbst irgendwann widmen oder von dessen exorbitanten Gewinnen, die dabei erzielt werden, er zumindest gern einmal profitieren würde.

Die Frage aber, die zu beantworten ich mir persönlich vorgenommen hatte, war folgende: Welche Rolle wäre mir im Kampf gegen dieses »Soliton«, das den Keim der Auslöschung der Spezies in sich trägt, vorbehalten?

So, wie ich es damals verstand, würde es meine Aufgabe sein, allen, die es hören wollen, großzügig mein Fachwissen über eine der drei kumulativen Wellen, die in meinen Zuständigkeitsbereich fielen, zukommen zu lassen: die Wirtschafts- und Finanzkrise. Die unseren Aktivitäten zugrundeliegende Arbeitsteilung würde freundlicherweise die notwendigen Kompetenzen in den beiden anderen Bereichen – Umwelt und Komplexität/»Robotisierung« – abdecken.

Ich konnte also im Laufe der Jahre, die auf jenen Vortrag vor den ehemaligen Absolventen der HEC folgten, sagen, dass die Umweltkrise Gefahr läuft, uns einzuholen, noch bevor wir die Probleme der Komplexität und der Reichtumskonzentrationsmaschine gelöst haben. Ich hörte nicht auf, es gebetsmühlenartig zu wiederholen, doch ohne, so scheint es mir jetzt, alle notwenigen Schlüsse daraus gezogen zu haben. Nun, der im November 2014 veröffentlichte Bericht des Weltklimarats, kombiniert mit der sagenhaften Gleichgültigkeit unserer Anführer, was die Reform unserer Finanzsysteme angeht oder der Reflexion über die Frage von Beschäftigung und Arbeit im Rahmen einer Automatisierung unserer Tätigkeiten – deren Anstieg nunmehr exponentiell verläuft –, zwingt von jetzt an dazu, das Soliton als ein einziges, unteilbares Problem zu fassen. Nicht dass meine eigenen Ansichten von großem Nutzen wären, um in Sachen Robotisierung oder Klimaerwärmung voranzukommen, aber wir – wir alle – werden künftig gezwungen sein, die Frage des Überlebens der Spezies als einen großen zusammenhängenden Komplex zu behandeln.

Die angemessene Herangehensweise besteht jedoch nicht darin, den Bereich meiner fachkundigen Ratschläge lauthals auszuweiten, indem ich jene in Sachen Finanzen und Ökonomie durch andere in Hinblick auf Umwelt und Komplexität vervollständige. Wie bereits gesagt: Ich kann mich zweifellos in allgemeinen Begriffen darüber auslassen, doch ich verfüge über keinerlei Kenntnisse, die mir erlauben würden, so exakt zu sein, wie es erforderlich ist. Aufgrund der Dringlichkeit ist es also geboten, einen Krisenstab zum Soliton als Ganzem zu bilden. Es ist unabdingbar, dass seine Nachricht an die Öffentlichkeit gelangt, weil diese gehört und verstanden werden muss. Wir haben einfach keine andere Wahl mehr.

Die »unsichtbare Hand« und die Auslöschung

Der Liberalismus hatte uns versichert, dass, wenn man die braven Leute nur in Frieden ihrer Beschäftigung nachgehen lässt, alles bestens laufen würde. Also deregulierten wir auf Teufel komm raus, und die unsichtbare Hand von Adam Smith hätte beruhigend wirken und die Kontrolle übernehmen sollen.

Diese unsichtbare Hand, die von einem schottischen Philosophen, Autor eines 1776 veröffentlichten Buchs mit dem Titel An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations,3 ausgedacht wurde, beruht auf der Annahme, dass es für uns alle besser sei, wenn sich Bäcker, Brauer und Metzger in keiner Weise um das Allgemeinwohl kümmerten – denn sie wüssten gar nicht recht, wie sie vorgehen sollten, sodass man das Schlimmste zu befürchten hätte –, sondern ihre Anstrengungen darauf verlegen würden, ihre egoistischen Interessen zu verfolgen. Was das eigene Wohl betrifft, so wüssten sie stets, was dafür aufgewendet werden müsse, und die unsichtbare Hand würde sie auf diese indirekte Weise unfehlbar zum Gemeinwohl führen.

Nun hat die Subprime-Krise von 2008 die Hypothese der unsichtbaren Hand ad absurdum geführt: Nur dann, wenn das Wohl aller mit den Interessen Einzelner zusammenfällt, steht alles zum Besten. Sobald es aber zu einer Krise kommt, stürzt jeder in Windeseile zum nächstbesten Ausgang und stößt jeden, der seinen Weg versperrt, mit voller Wucht zur Seite. In einem Konzertsaal, in dem Feueralarm ausgelöst wird, gehen die einzelnen Interessen schlagartig auseinander und nur ein Eingriff seitens höherer Stellen (etwa durch Ansagen über Lautsprecher) vermag eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern.

Erinnern wir uns an das berüchtigte CDO »ABACUS 2007-AC1«, das die Investmentbank Goldman Sachs zunächst vor eine Untersuchungskommission, anschließend vor ein Gericht gebracht hatte. Collateralized Debt Obligations sind, wie der Name sagt, Schuldverschreibungen, deren Kredite ganz unterschiedlicher Art das Kollaterale bilden: die als Sicherheiten verwendeten Vermögenswerte. Ein synthetisches CDO ist ein Index, der auf dem Preis eines bestimmten CDOs basiert, anders gesagt eine simple Wette auf dessen zukünftige Wertsteigerung oder Wertminderung.

Als 2008 klar wurde, dass das Finanzsystem zusammenbrechen würde, entwickelte Goldman Sachs unter Beihilfe des Spekulationsfonds Paulson ein CDO, das einem synthetischen CDO als Grundlage dienen und die unsichersten Subprime-Kredite, die man finden konnte, beinhalten sollte, sodass ein Finanzprodukt entstünde, das von allerschlechtester Qualität wäre. Die Bank schlug sich daraufhin auf die Seite derer, die das Schlimmste annahmen – denn sie hatte selbst dafür gesorgt, dass das Schlimmste auch eintreten würde –, ermutigte aber im Gegenteil ihre Klienten, auf die strahlende Gesundheit des Produkts zu wetten. Was man auch bezeichnen könnte als »Wette auf den Zusammenbruch des Gemeinwohls, um seine eigene Haut zu retten«.

Es handelte sich hierbei zweifellos um die unsichtbare Hand, die Goldman Sachs zu ihrem ganz eigenen Wohl führte, doch musste dafür das Gemeinwohl herhalten: Es wurde nicht nur einfach ignoriert, sondern voller Enthusiasmus geopfert.

So ist es nur logisch, dass im Herbst 2008 das Vertrauen in die unsichtbare Hand schwand und sie das Pantheon unserer lang gehegten Mythen verließ, um alsgleich von einem Prinzip ersetzt zu werden, das weniger Vertrauen in die Tugenden der Selbstregulierung mitbrachte und dessen Formel lautete: »Mehr Moral im Finanzwesen«.

Doch sofort wurden uns die Tugenden der unsichtbaren Hand wieder angepriesen. Denn wenn die Ethik, auf die sich »Mehr Moral im Finanzsystem« bezog, als menschliche Handlungsmaxime in quasi allen Bereichen des Zusammenlebens fungiert, dann würde den Bankern zufolge die Wirtschaft gegenüber der Ethik einen extraterritorialen Status genießen, da sie ihre eigenen Prinzipien besäße: die Konkurrenz, die Thomas Hobbes seinerzeit und mit Sinn für die Realität als »Krieg aller gegen alle« bezeichnet hatte.

Wieso leuchtet dieses Bild von der »unsichtbaren Hand« unmittelbar ein? Weil das Verfolgen unserer eigenen Interessen unsere »natürliche« Neigung zu sein scheint. Der Ausdruck »natürlich« ist hier entscheidend, denn alles hängt von ihm ab! Im Grunde handelt es sich dabei allerdings um eine Illusion: In Wirklichkeit ist es das Schuldgefühl, welches wir mit Situationen von Rivalität und Wettbewerb verbinden – jedoch nicht mit solchen, in denen wir gegenseitige Hilfe leisten –, das dazu führt, dass jene uns viel stärker zu Bewusstsein kommen und wir deswegen die Bedeutung des Antagonismus überschätzen. Das Finanzmilieu wird nicht müde zu verkünden, dass es ausschließlich seine eigenen Interessen verfolgt, doch wandelt es sich ohne zu zögern in eine Solidargemeinschaft, sobald es darum geht, ein Insiderdelikt zu begehen oder mit den vermeintlichen Konkurrenten eine Einigung im Hinblick auf Preismanipulationen zu erzielen.

Nehmen wir für einen Moment an, dass es natürlich sei, kein Interesse am Gemeinwohl zu haben, und dass es ebenso natürlich sei, sich allein um sein eigenes Wohl zu kümmern.

Die Biologen charakterisieren die menschliche Spezies als eine »kolonisatorische« Art: Sie wächst, bis sie ihre Umgebung vollständig bevölkert hat. Dies lässt sich durch einen einfachen Blick zurück auf die Geschichte leicht bestätigen: In einem Jahrhundert hat sich die Bevölkerungszahl vervierfacht; heute wachsen wir jedes Jahr um 77 Millionen zusätzliche menschliche Wesen. Hat eine kolonisatorische Art ihre Umgebung einmal vollständig bevölkert, so beutet sie sie nach und nach aus. Was macht sie, wenn sie vollkommen ausgebeutet ist? Sie macht sich auf die Suche nach einer neuen Umgebung, die ihr günstig erscheint.

Jeder kennt diese Lemminge genannten Wühlmäuse aus dem Norden, die mitunter solange wühlen, bis sie das Tal, in dem sie leben, gänzlich zerstört haben. Daraufhin begeben sie sich auf die Suche nach einem unberührten Habitat. Ihr Verhalten, das uns »selbstmörderisch« erscheint, wird nur so verständlich: In ihrem panischen Wettlauf fallen sie in Scharen von einer Klippe oder ertrinken in großer Zahl beim Kraft raubenden Versuch, einen Wasserlauf zu durchqueren.

Es sei angemerkt, dass es im beobachteten Verhalten der Lemminge nichts gibt, das nicht absolut »natürlich« für ihre Art wäre. Die »Natur«, wenn man so will, sorgt sich darum, sie vor der Auslöschung zu bewahren, und zwar so lange, wie immer noch ein neues Tal zu entdecken ist oder sich in ihrer Abwesenheit ein Tal, das sie vormals ausgebeutet hatten, wieder erholt hat.

Ebenfalls sei angemerkt, dass in der verzweifelten Flucht der Lemminge jeder von ihnen sein wohlverstandenes Interesse verfolgt, ohne dass ein Gemeinschaftsprojekt sein Verhalten steuert: Sie scheren sich keinen Deut um die anderen, befinden sich also in Übereinstimmung mit Adam Smiths Theorie. Wenn ein Prinzip des Gemeinwohls existierte, das ihr Überleben sichern würde, sprich, die Bewahrung ihrer Talsohle in gutem Zustand, dann hätte man den Amoklauf der Lemminge niemals beobachtet.

Der Mensch hat sich bislang wie ein Lemming verhalten: Er bevölkert die Erde, ohne sich groß darum zu sorgen, den Gebrauch, den er von seiner Umwelt macht, auf Dauer und Erneuerbarkeit zu stellen. Kam es doch einmal vor, dass er sich um sie sorgte und kümmerte, indem er Vorschläge zur Verbesserung der Lage unterbreitete, so erwiesen sich seine Bemühungen in dramatischer Weise als vergeblich. Nur ein Beispiel: Seit dem Inkrafttreten des Kyoto-Protokolls 1997, das die Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen zum Ziel hat, sind die jährlichen Kohlenstoffemissionen weltweit von 6.400 auf 8.700 Millionen Tonnen gestiegen.4 Daran lässt sich die Effizienz unserer Bemühungen in dieser Sache ermessen.

Hierzu hatte bereits Lamarck 1820 in seinem Système analytique des connaissances positives de l’homme alles gesagt:

Durch seinen für sein eigenes Wohl allzu kurzsichtigen Egoismus, durch seine Neigung, alles, was sich ihm darbietet, in Besitz zu nehmen, kurz: durch seine Sorglosigkeit gegenüber der Zukunft und Seinesgleichen, scheint der Mensch an der Vernichtung seiner Mittel zur Bewahrung und sogar an der Zerstörung seiner eigenen Spezies zu arbeiten. Indem er überall großflächige, den Boden schützende Floren zerstört, um Gegenstände zu gewinnen, die seine Gier für einen kurzen Moment stillen, trägt er rasch zur Unfruchtbarkeit jenes Bodens bei, auf dem er lebt, lässt die Ressourcen versiegen, vertreibt die Tiere, die dort ihre Nahrungsquellen fanden, und erreicht so, dass große Teile des einstmals sehr fruchtbarem und in jeglicher Hinsicht stark bevölkertem Globus nunmehr kahl, steril, unbewohnbar und wüst sind. Indem er den Verweis auf eben diese Erfahrung immerzu abtut, um sich seinen Leidenschaften hinzugeben, befindet er sich ununterbrochen im Krieg mit Seinesgleichen, vernichtet sie allerorten und unter jedem Vorwand, sodass man seine dereinst sehr großen Populationen sich mehr und mehr ausdünnen sieht. Anscheinend ist er dazu bestimmt, sich selbst auszulöschen, nachdem er den Globus unbewohnbar gemacht hat.5

Die Grenzen von »kolonisatorischem« Verhalten liegen auf der Hand: Wurde das gesamte mögliche Habitat kolonisiert und dann zerstört, droht die Auslöschung.

Grausam ist die Folgerung daraus: Das »natürliche« Verhalten einer Spezies wappnet sie in keiner Weise gegen die Auslöschung. Denn diese wurde von der Natur nicht berücksichtigt (hierfür sind die Dinosaurier und andere Lebewesen der Beweis). Wenn die Natur, verstanden als umfassender biologischer Prozess, Bedingungen erschafft, die es einer Spezies – auf kurze Sicht – zu leben und zu sterben erlauben, dann bietet sie jedoch umgekehrt keine Garantie eines Überlebens auf lange Sicht.

Was nun, für unsere Zusammenhänge, die unsichtbare Hand von Adam Smith anbelangt, so sichert sie unser Überleben nur unter einer einzigen Bedingung: dass uns immer noch wenigstens ein Tal zur Kolonisierung bleibt.

Was lässt sich also tun? Christopher Nolans Film Interstellar aus dem Jahre 2014 gibt uns das Rezept an die Hand: Einer Weltraumexpedition die Aufgabe übertragen, durch ein in der Nähe des Saturns existierendes »Wurmloch« zu fliegen und einen bewohnbaren Exoplaneten zu kolonisieren, der in einer entlegenen Ecke der Galaxie auf der Umlaufbahn eines schwarzen Loches kreist.

Leichter gesagt als getan! Bleibt also nur die Möglichkeit, unverzüglich jenes Talent einzusetzen, mit dem uns die Natur glücklicherweise auch ausgestattet hat: unsere Fähigkeit nachzudenken, Lösungen zu finden und sie umzusetzen – und, wenn es sein muss, Verhaltensweisen zu verbieten, die uns direkt in die Auslöschung führen. In Sachen Überleben der menschlichen Spezies hat uns die unsichtbare Hand von Adam Smith nämlich leider fallen lassen.

Die Elemente, die Interstellar zur Lösung unserer Probleme beisteuert, übersteigen in jedem Fall, sofern sie nicht vollkommen unglaubwürdig sind (aus genau diesem Grund wurde ein erstklassiger Physiker beim Verfassen des Drehbuchs zu Rate gezogen), sowohl unsere heutigen als auch die in naher Zukunft gegebenen technologischen Möglichkeiten. Der Film stellt uns kurzerhand ein eindeutiges Ultimatum: Entweder wir packen sofort die Aufgabe an, die drohende Auslöschung abzuwenden, oder wir beginnen mit der Trauerarbeit, die unsere Spezies mit Blick auf ihr eigenes Schicksal wird angehen müssen.

Die Dinge vom rein kommerziellen Standpunkt aus betrachten

Bereits 1933 geißelte der englische Ökonom Maynard Keynes (1883–1946) in einer in Dublin gehaltenen Ansprache unter dem Titel »National Self-Sufficiency« unsere Unfähigkeit, die zentralen gesellschaftlichen Probleme, mit denen wir uns konfrontiert sehen, aus einer Perspektive anzugehen, die nicht der Frage »Zahlt sich das aus?« entsprechen würde:

Das 19. Jahrhundert hat bis zur Karikatur jenem Kriterium, das man abkürzend ›Finanzergebnis‹ nennen wird, als Test gehuldigt, der zu bestimmen erlauben soll, ob eine Politik empfohlen und unternommen werden soll im Rahmen einer privat oder öffentlich geförderten Maßnahme. Das Schicksal des Einzelnen ist zur Parodie eines Buchhalteralbtraums geworden. Anstatt ihre jetzt viel weitreichenderen technischen und materiellen Mittel einzusetzen, um eine ideale Stadt zu erschaffen, bauten die Menschen des 19. Jahrhunderts Elendsviertel und hielten den Bau von Elendsvierteln für richtig und ratsam, denn gemessen am Privatunternehmen ›zahlen sich‹ die Elendsviertel ›aus‹, wohingegen die ideale Stadt in ihren Augen eine verrückte Extravaganz gewesen wäre, da sie, im törichten Wortgebrauch der Finanzwelt, ›die Zukunft mit einer Hypothek‹ belastet hätte.6

Seit bald fünfzig Jahren wütet die Pest der Vermarktung in allen Bereichen: Bildung, Gesundheitspolitik, wissenschaftliche Forschung – nichts entgeht mehr der kommerziellen Logik von Profitmaximierung. Unsere Politiker, die ihr Verhalten mit jenem der Warenwelt auf Linie bringen, haben die Gewährleistung des Überlebens unserer Spezies nur aus einer rein kommerziellen Perspektive im Blick: Was das »Recht auf Verschmutzung« oder das »Recht auf Zerstörung« angeht, so haben beide einen Preis, den zu bestimmen der Markt so freundlich sein wird. Ein Konzernchef, der seine Firma verlässt, wird Millionen an Abfindung dafür fordern, dass er deren Betrieb nicht zu sabotieren sucht, indem er für die Konkurrenz arbeitet. Als ob der »gewöhnliche Anstand«, von dem einst George Orwell (1903–1950) sprach, nicht ausreichen würde, einen Rahmen für sein künftiges Verhalten vorzugeben. Als Weg zum Profit ist die Unredlichkeit zur Norm avanciert, und deshalb fordert der Leiter eines Unternehmens, für sein redliches Verhalten entlohnt zu werden.

Unsere Wertesysteme sind ausgelagert und durch eine reine Profitlogik ersetzt worden. Ist diese aber in der Lage, das Überleben unserer Spezies zu garantieren, wenn sie, etwa in Sachen Umwelt, mit beachtlichen Herausforderungen sowie mit den Folgen des zunehmenden Brüchigwerdens unseres durch überzogene Wetten auf Preisschwankungen zum Opfer gefallenen Finanzsystems konfrontiert ist, oder mit dem Verlust von Arbeitsplätzen angesichts der fortgeschrittenen Informationssysteme, Roboter und Programme?

Der Handel mit Emissionszertifikaten ist das Kind von Ronald Coase (1910–2013), der 1991 den von der Schwedischen Staatsbank in Gedenken an Alfred Nobel gestifteten Preis erhielt. Was die exzessive Kommerzialisierung anbelangt – etwa die Auffassung der Familie als Gemeinschaft zur Gewinnmaximierung oder die Umwandlung der Frage von Gerechtigkeit in ein Problem von Kostenminimierung des Rechtsapparats –, so ist dies natürlich das Baby von Gary Becker (1930–2014), Wirtschaftsnobelpreisträger des darauffolgenden Jahres.

Die Verantwortung für unsere Unfähigkeit, die Zukunft der Spezies anders als in einer rein kommerziellen Perspektive zu betrachten (was das Problem geradewegs unlösbar macht), trägt also zumindest teilweise die Jury für den Wirtschaftsnobelpreis, deren Entscheidungen zu wünschen übrig lassen, hatte sie doch sowohl 1974 als auch 1976 zwei enthusiastische Befürworter des Chilenischen Diktators Augusto Pinochet gekrönt: Friedrich von Hayek (1899–1992) und Milton Friedman (1912–2006).

Um zu verstehen, warum unsere Politiker nicht bereit sind, die Frage unseres Überlebens anders als »aus rein kommerzieller Sicht« zu betrachten, müssen die Begriffe des Problems untersucht und die Bedeutung des Ausdrucks verstanden werden.

Die Dinge ausschließlich von einem rein kommerziellen Standpunkt aus anzugehen, bedeutet zweierlei: Einmal handelt es sich darum, eine Situation anhand des Profits zu beurteilen (damit ist nicht der Gewinn gemeint, den die gesamte Gemeinschaft daraus ziehen könnte, sondern jener, der nur einigen wenigen Individuen zukommen würde); daneben geht es darum, dass die Situation aus rein quantitativer Perspektive beurteilt wird, wobei jede qualitative Herangehensweise ausgeschlossen ist (es sei denn, das Qualitative wird mithilfe quantitativer Kriterien definiert: etwas, das die Gewinnzahlen zu maximieren erlaubt).

Wenn ich so darüber nachdenke, kommt mir eine Szene aus der Kindheit in den Sinn. Ich bin zehn Jahre alt und mein Vater erzählt mir von Europa, an dessen Konstruktion er mitgewirkt hatte, zunächst durch die Gründung der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) und anschließend eines Binnenmarktes (»Europa der Sechs«): »Sie machen aus Europa gerade eine Union der Warenhändler, das sollten sie nicht tun.«

Was ist dieses »Europa der Warenhändler«? Genau genommen ist es ein Europa, in dem ausschließlich Umsätze zählen und in dem diese Umsätze nur eine einzige Seite bemessen, nämlich die des Profits – und in dem die Frage nach anderen Qualitäten als maximaler Gewinn niemals in Betracht gezogen, geschweige denn diskutiert wird. Um einen Ausdruck des Juristen Alain Supiot zu verwenden, der am Collège de France einen Lehrstuhl für »Sozialstaat und Globalisierung« innehat, handelt es sich dabei um ein »Regieren durch Zahlen«. Und da es logischerweise einfacher ist, Zahlen mit Gewinnzahlen zu verbinden als mit dem Glück von Individuen oder Familien, also von menschlichen Subjekten im Allgemeinen, wird auch so verfahren: Alle Probleme werden angegangen und dann geregelt, als ob es sich in jedem Fall um eine rein kommerzielle Frage handelte.

Mittlerweile ist jedem bekannt, dass der Grund für die desaströse Verwaltung der Eurozone in deren Konstitution liegt, als ob das reibungslose Funktionieren einer mehrere Staaten umfassenden Geldzone ohne zusätzliches föderales System wie ein rein kommerzielles Problem behandelt werden könnte. So glauben heutzutage unsere Politiker, alle gesellschaftlichen Fragen vom selben Standpunkt aus lösen zu können: Der einzig legitime Lösungsansatz wäre jener, der Gewinn erzeugt, dies jedoch nicht für die ganze Gemeinschaft, sondern für die Kapitaleigner.

Schaut man in der Geschichte zurück, so lässt sich durchaus sagen, dass, wenn sich das 19. Jahrhundert stolz als »kapitalistisches« bezeichnen konnte, man erst das 21. Jahrhundert abwarten musste, damit nicht nur unser Wirtschaftssystem vollends dem Kapitalismus frönen, sondern auch unser politisches System gänzlich derselben Logik unterstehen würde. Dass sich die Politiker dessen nicht bewusst sind, zeugt nur von ihrer absoluten Machtlosigkeit; sie begnügen sich nurmehr mit der Weitergabe von Befehlen, die ihnen von der Logik des Rechnungswesens erteilt werden: Die Lösung eines politischen Problems darf nur insofern anvisiert werden, als sie »sich auszahlt«, wie bereits Keynes seinerzeit angemerkt hatte.

Die Frage von Quantität und Qualität kann auch so betrachtet werden, wie Alain Supiot es in seinem Nachwort zu Bossuets Predigt De l’éminente dignité des pauvres von 1659 tut.7 Darin untersucht Supiot das vom Moralprediger aufgeworfene Paradox, dass entgegen allem Anschein die Reichen in Wirklichkeit arm, die Armen indes reich seien.

Was will Bossuet uns damit sagen? Er versucht verständlich zu machen, dass die Reichen arm sind, weil sie in ihrem Leben letztendlich nur einen Haufen Gold haben, der reglos, ohne Leben ist. Um sie herum gibt es niemanden. Keiner liebt sie. Aber doch! Sie werden von ihrem Goldhaufen geliebt, oder anders, indirekt ausgedrückt: Es ist der Haufen Gold, der in ihnen geliebt wird. Während die Armen, aus Sicht Bossuets und eingedenk ihrer Leiden, an der Heiligkeit Christi teilhaben, sprich am höchsten Gut, das erhofft werden kann, und sei es auch nur, weil der Zustand der Armut nachdenklich macht und zu Fragen über das Wesen des Menschen führt. Und aus diesem Grund ist der Arme voll und ganz Mensch. Bossuet schreibt:

In den Verheißungen des Evangeliums wird nicht länger von vergänglichen Gütern gesprochen, mit denen der Pöbel angezogen oder die Kinder amüsiert wurden. Jesus-Christus ersetzte sie durch Kümmernisse und Kreuze; und durch diese wundersame Umkehr sind Letztere die Ersten und Erstere die Letzten geworden.8

Derjenige indes, der das Gold liebt, ist sein Sklave und von ihm abhängig: All seine Handlungen werden durch die Verwaltung eines Haufens Gold geleitet, der ihn zu Vorsichtsmaßnahmen zwingt und seine ganze Zeit in Anspruch nimmt, alles Folgen des Willens eines Goldhaufens, in seinem Sein zu beharren, und der Anerkennung des Prinzips seitens seines Besitzers, er möge doch seinen Haufen Gold befragen, um herauszubekommen, was dieser von ihm zu tun erwartet. Sein Glück – wenn man dies so nennen kann – leitet sich aus dieser freiwilligen Knechtschaft ab.

es gibt keinen versteckten Wert hinter einem Preis: Das Einzige, was sich dahinter verbirgt, ist ein Kräfteverhältnis zwischen menschlichen Wesen

Einstmals war die Rede von Tugenden, deren störungsfreie Einübung zum Erhalt unserer Gesellschaften beitrug. Zugleich kommen die Tugenden einem persönlich zugute, da sie zu wahrem Reichtum führen – dem inneren Reichtum. Die Tugenden machen es möglich, dass eine Gesellschaft auf anderen Fundamenten als ausschließlich Zahlen und angehäuften Umsatzgewinnen gründet.

Das Gegenteil einer durch Tugenden geschmeidig gemachten Gesellschaft findet sich in der Weltanschauung von Gary Becker, dem bereits erwähnten Wirtschaftsnobelpreisträger. Becker zufolge kann nicht nur alles, was gezählt wird, sondern auch alles, was zählt, in einem Preis ausgedrückt werden: Mit ihm lässt sich wirklich alles warenförmig machen. Gerechtigkeit etwa ist für Becker nur eine Frage von Zahlen: Man muss herausfinden, wie die gesamten Kosten für Gefangene, Polizisten, Richter und Gefängniswärter sowie die Kosten für Entschädigungen für das unsägliche Leid von Opferfamilien zu senken sind. Unter dieser Prämisse wird dann entschieden, ob alle Kriminellen im Gefängnis bleiben, alle freigelassen werden oder eine Zwischenlösung gefunden wird, die in Bezug auf Gewinn und Verlust optimal ist. Dank Gary Becker und seinen Mitpreisträgern geht es bei der Frage nach Gerechtigkeit nicht mehr darum zu versuchen, das souveräne Prinzip des »Gerechten« in bester Weise zur Anwendung zu bringen und den gesellschaftlich erlittenen Schaden als eine Form gekränkter Tugenden zu beurteilen, sondern einfach zu berechnen, was es in klingenden Dollars und Euros kosten würde, Mörder tatsächlich frei herumlaufen zu lassen, wobei Täter und Opfer als Kosten in einen Topf geworfen werden.

Dieser Logik gilt es, schnellstmöglich zu entkommen. Der Grund hierfür ist simpel: Eine Umsatzlogik, eine Logik reinen Profits ist unfähig, die Spezies vor ihrer Auslöschung zu bewahren. Nur ein viel umfassenderes Nachdenken über das Qualitative, das Zahlen nur annäherungsweise und somit verkürzt erfassen können, hilft uns zu verstehen, dass es zu viel CO2 in der Atmosphäre oder zu viel Stickstoffdioxid, dass es zu viel Phosphat am Grund unserer Ozeane gibt, das doch noch im Boden eingeschlossen sein müsste. Solange es nicht um Qualitäten geht, ist jedes Kalkül dazu verdammt, eine nur schwer nachprüfbare Berechnung darzustellen, aus der niemals eine tiefgründige Wahrheit hervorgehen wird.

Mithilfe von Ronald Coase oder Gary Becker werden wir unsere Art jedenfalls nicht retten können, sondern nur durch Entscheidungen, die auf das Gemeinwohl abzielen und anders als in der Sprache der Gewinnanhäufung formuliert sind. Weil, wie wir ja wissen, besagte Profite in Wirklichkeit nur eine Sache widerspiegeln: unser ewiges kolonisatorisches Verhalten, das die Zerstörung des Planeten bewirkt.

Das Gemeinwohl, das allgemeine Interesse, lässt sich nicht verwirklichen, wenn wir nicht zuvor das Joch der freiwilligen Knechtschaft abgeschüttelt haben, unter dem wir wie Zombies an einen Goldhaufen herangeführt werden, dem wir, hat er sich erst einmal gebildet, die Macht über all unsere Handlungen opfern. Freiwillige Knechtschaft, der wir uns fügen, weil sie uns von der Beunruhigung befreit, die mit dem Denken, dem Nachdenken einhergeht, von dem Aristoteles gleichwohl gesagt hat, dass es das höchste Glück darstellen würde. Willentliche Aufgabe individueller Autonomie zugunsten des Erhalts regloser Dinge unter dem Vorwand, dass wir sie als »Zugehörigkeiten« betrachten, d.h. als wesentliche Teile von uns selbst, die es zu schützen gilt wie uns selbst, doch die uns in Wirklichkeit dazu veranlassen, unsere Person in einer Vielzahl von leblosen Dingen aufzulösen (weiter unten komme ich auf diesen von Lucien Lévy-Bruhl entwickelten Begriff zurück).


1 Alexandre Kojève, Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1975.

2 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?, München 1992.

3 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1978.

4 Stephen Emmott, Zehn Milliarden, Frankfurt/M. 2013, S. 178f.

5 Jean-Baptiste de Lamarck, Système analytique des connaissances positives de l’homme, Paris 1820, S. 154f.

6 John Maynard Keynes, »National Self-Sufficiency«, in: The World Economic Conference, Collected Writings, Bd. XXI, Cambridge 2013, S. 203–288, hier S. 241.

7 Alain Supiot, »Les renversements de l’ordre du monde«, in: Jacques-Bénigne Bossuet, De l’éminente dignité des pauvres, Paris 2015, S. 41–64.

8 Bossuet, De l’éminente dignité des pauvres, S. 14.