Urs M. Fiechtner / Sergio Vesely

Mit
Möwenzungen
in der
Mehrzweckhalle 

Mit einem Beitrag
von
Dr. Cornelia Gräbner.

Herausgegeben von Stefan Drößler
Adrienne Träger, Johannes Schlichenmaier
und Pascal Bercher
in der
Edition Kettenbruch

Mit Möwenzungen in der Mehrzweckhalle

Copyright: © 2015 Urs M. Fiechtner, Sergio Vesely 

Copyright: © „Dichtung im Hier und Heute“ Dr. Cornelia Gräbner

Covergestaltung: Stefan Drößler 

Edition Kettenbruch, Band 3

Herausgegeben von Stefan Drößler, Adrienne Träger, Johannes Schlichenmaier und Pascal Bercher

www.edition-kettenbruch.de

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-4349-1  

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autoren bzw. der Herausgeber unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Aufführung oder sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

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Marion Schweizer zugeeignet

Mein Fahrschein ist fast achter Klasse, aber so reise ich, zufrieden unterwegs zu sein.

Mehr als nur eine Hand gibt Kraft mir in der Dunkelheit, mehr als nur einen Schritt spür ich an meiner Seite.

Und wenns mal anders ist, kenn ich so viele Tote, die nachts den Weg erhellen.

Silvio Rodríguez

Andere Baustelle

Urs M. Fiechtner

Es soll Leute geben, die ihr Leben perfekt geplant haben. Oder deren Leben von anderen perfekt geplant wurde. Ich habe oft davon gehört und vielleicht gibt es sie auch irgendwo, aber ich bin solchen Leuten bisher noch nie begegnet, obwohl ich schon eine Weile auf diesem Planeten bin. Das Leben scheint seine eigenen Pläne zu haben und uns irgendwohin zu schieben, ohne dass wir uns in die Brust werfen und mit fester Stimme behaupten könnten, wir hätten es von Anfang an so gewollt. Oder doch wenigstens unsere Eltern.

Für die Eltern von Sergio Vesely trifft das jedenfalls nicht zu. Sie hatten für das Leben ihres Sohnes etwas ganz anderes geplant und sich so etwas wie einen Nationalökonomen oder Banker vorgestellt, ersatzweise vielleicht einen hohen Sportfunktionär in Gestalt eines emeritierten Schwimmweltmeisters. Oder irgendetwas von dieser Art. Aber bestimmt kein Universaltalent in allen Angelegenheiten der Künste inklusive der Lebenskunst.

Meine Eltern hatten ebenfalls andere Pläne. Ich war bei meiner Geburt als General vorgesehen, nachdem in einer lange Reihe von Vorfahren, die allesamt im Staatsdienste gestanden und als Berufs- oder Reserveoffiziere in allen Kriegen gefochten hatten, es niemand weiter gebracht hatte als bis zum Rang eines Obersten. Meine Mutter behauptete zwar, ich hätte mich im Alter von sieben Jahren darauf festgelegt, später einmal entweder Schriftsteller oder Indianer werden zu wollen, aber das ist nur eine Familienlegende und nicht ernst zu nehmen, da die Lehrstellen für Indianer schon damals ausgebucht waren.

Sergio Vesely hatte seinen ersten öffentlichen Auftritt weder in der Literatur noch in der Musik oder Politik, sondern bei den chilenischen Nationalmeisterschaften im Schwimmen. Das erwies sich als sehr gute, wenngleich völlig unbeabsichtigte Vorbereitung auf ein Leben als Musiker und Dichter, als Komponist und bildender Künstler. Man muss verdammt gut schwimmen können, um so ein Leben zu überstehen, und er zeigte sich schon bei seinem ersten Konzert als Meister in dieser Disziplin.

Es fand statt im berüchtigsten Folterzentrum Chiles, der Villa Grimaldi in Santiago, in das er als Widerstandskämpfer gegen die Militärdiktatur des Generals Pinochet geraten war. Seine Bühne war eine Zelle von der Größe eines Kleiderschrankes und sein Impresario war der Gefängniswärter.

Meinen ersten öffentlichen Auftritt hatte ich als siebenjähriger Knirps in der Uniform der Leute, die knapp zehn Jahre später Sergio Vesely verhaften würden. Ich war Offiziersanwärter h. c. der chilenischen Armee und nahm vor der Präsidententribüne in vollem Wichs die Parade zum Nationalfeiertag ab. Über Nacht wurde ich als El pequeño Cadete (Der kleine Kadett) zum Maskottchen der Streitkräfte und Liebling der Nation. Und wenn alles nach Plan gegangen wäre, dann wäre ich es gewesen, der als junger Oberleutnant oder Hauptmann die Verhaftung des subversiven Subjektes Vesely angeführt hätte. Stattdessen schmetterte ich zu Zeiten des Putsches meine ersten antimilitaristischen Gedichte von deutschen Bühnen, und während Vesely in seiner Zelle sang, bastelte ich bei Amnesty International an der Freilassung politischer Gefangener in Chile und sonst wo auf der Welt. Aber auch das war eine gute Vorbereitung für ein Künstlerleben. Ein Quäntchen Soldatentum kann helfen, wenn man Gewaltmärsche durchhalten muss. Und wer schon einmal das Maskottchen der falschen Bande war, wird ganz leicht der antipoetischen Versuchung widerstehen können, einem Publikum nach dem Munde zu schreiben oder sich irgendjemandem anbiedern zu wollen. Schon gar nicht der Nation.

Da aber nun das Leben mich daran gehindert hatte, Sergio Vesely zu verhaften und ihn daran, ein neoliberaler Börsenspekulant zu werden, mussten wir mit dieser Planänderung irgendwie umgehen und deuteten sie als Einladung, stattdessen zusammenzuarbeiten.

Folglich ziehen wir seit rund vier Jahrzehnten kulturgetrieben durch die Lande, mal als Solisten mit Konzerten oder Lesungen, mal als Duo mit unseren Konzertlesungen, mal zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen aus Musik oder Literatur, gelegentlich auch mal mit Chor und Orchester und immer häufiger als Hilfslehrer an Schulen oder Universitäten, um dort wehrlose junge Menschen mit hehrer Lyrik, vertrackter Prosa und fremden Rhythmen zu überfallen oder ihnen den Staub aus den Lehrbüchern zu pusten, wenn etwas über Freiheit und Menschenrechte erzählt werden soll.

Nicht alles spielt sich an den althergebrachten Stätten der Kunst oder Bildung ab, also an Stadtbibliotheken, Theatern, Volkshochschulen, Fortbildungsakademien, Museen, Schulen oder Universitäten. Sehr oft und gerne sind wir auch zu Gast bei gemeinnützigen Vereinen, die sich der Kultur verschrieben haben oder bei solchen, die Alternativen zum üblichen Kulturbetrieb suchen und sich dem Mainstream nicht unterordnen wollen. Oder die für ihre Themen werben wollen, aber dabei nicht unbedingt die Kunst an sich oder als solche meinen, sondern eines der unglaublich vielen Themen rund um die Freiheit, die Zivilcourage und die Menschenrechte.

Das ist ohne Zweifel das spannendste und sicher auch wichtigste Themenfeld unserer Zeit, aber auch das komplizierteste und belastendste, weshalb wir uns, da man sich mit Künstlerhonoraren keinen persönlichen Psychotherapeuten leisten kann, ganz gerne zur Erholung auch mit einer breiten Palette anderer Themen beschäftigen, wie etwa der Kulturgeschichte, der Liebe in schwierigen Zeiten, dem Zusammenspiel von Literatur und Musik, der Analyse indianischer Hochzivilisationen vor der Eroberung durch die Europäer oder der Frage, wie man sich in einer fremden Kultur zurecht findet. Oder was es eigentlich mit der deutschen Kultur auf sich hat und was das überhaupt sein soll. Offen gestanden können wir diese Frage zwar immer noch nicht befriedigend beantworten, aber wir machen uns immer wieder Gedanken darüber und tun das ganz gerne nicht nur überall dort, wo man Deutsch spricht, sondern gelegentlich auch in Ländern, in denen man von deutscher Kultur nur Klischees im Kopf hat und freiwillig kaum auf den Gedanken käme, Deutsch sprechen oder es sich auch nur anhören zu wollen. Zum Beispiel in Holland oder Belgien oder Italien oder Chile. Oder in Sachsen.

Manchmal steht in der Zeitung, wir wären Handlungsreisende in Sachen Menschenrechte. Das ist meistens nett gemeint, auch wenn es sich inzwischen herumgesprochen haben sollte, dass Künstler in aller Regel nichts von Geschäften verstehen, weil sie sonst einen anderen Beruf gewählt hätten. Und dass wir Etikettierungen gar nicht mögen und um Verkäufer, Missionare und andere Einredner gerne einen ganz großen Bogen machen; oder auch mal beim Wein darüber philosophieren, dass für solche Leute der Kochtopf des Kannibalen einstmals ein durchaus verständlicher Verbleib gewesen ist dies aber selbstredend nur aus der rein kulturhistorischen Perspektive.

Trotzdem: auch wenn wir gewiss keine Handlungsreisenden in irgendwelchen Sachen sind und es nicht als unsere Aufgabe sehen, irgendjemandem etwas zu verkaufen, so ist es doch wahr, dass wir uns von keiner anderen Muse so gerne abknutschen lassen wie von der Freiheit. Und dass wir von ihrer Schönheit und derber Anmut auch ganz besonders oft und gerne erzählen.

Wenn man nun sehr lange mit Kultur und Politik im Gepäck durch die Gegend reist, sammeln sich unterwegs mit der Zeit viele Geschichten an. Einige von ihnen haben etwas mit einer Art von Kulturleben zu tun, die man nicht täglich in einem Feuilleton beschrieben findet. Und die auch nur wenig mit einem zeitgeistigen Kulturbegriff zu schaffen hat, der sich immer mehr aus den Regeln der odiosen Ökonomie definiert und immer weniger aus denen der Kunst — der Inhalt gilt nicht mehr, nur sein Verkauf. Da ist es schon erklärungsbedürftig, wenn man trotzdem kein Verkäufer sein will. Also geben manche Geschichten auch Antwort auf Fragen, die uns unterwegs immer wieder gestellt werden, nämlich warum wir das tun, was wir tun, und was genau die Wurzeln und der Antrieb für unser Tun sein könnten.

Bisher waren wir zurückhaltend mit Geschichten über die eigene Arbeit und unsere Erfahrungen im Kulturbetrieb. Im Kulturleben, finden wir, sollen Künstler nicht um sich selber kreisen — obwohl alle Welt genau das von ihnen glaubt — sondern gefälligst mit ihren Themen Tango tanzen. Nicht mit sich selbst.

Trotzdem erzählen wir in diesem Buch nun einige Geschichten über die Herkunft unserer Arbeit und über unsere Erfahrungen mit dem Kulturbetrieb. Der Anstoß dazu kam nicht von uns, sondern von den Fragen, die uns unterwegs gestellt wurden. Oder genauer von den Fragestellern, die uns erst bewusst gemacht haben, welche sehr aktuellen Themen in einem Fetzen Biographie stecken können, den wir bisher für unbedeutend hielten oder für Schnee von gestern. Gleich mehrere Texte in diesem Buch wären nie geschrieben worden (und zwei weitere Bücher in dieser Edition nicht erneut veröffentlicht) wenn der Ulmer Soziologe Lothar Heusohn, der in unseren Augen ein Universalgelehrter von humboldtianischen Ausmaßen ist, uns nicht einige sehr inspirierende Tritte in den literarischen Hintern verpasst hätte.

Und dann sind da noch die überaus merkwürdigen Erfinder und Herausgeber dieser Edition. Unter den vielen Verrückten, die wir unterwegs kennen gelernt haben, gehören diese zweifellos zu den besonders verrückten, aber auch besonders kreativen und liebenswerten. Ihnen wollten wir ein Buch anbieten, das wir in einem kommerziellen Verlag nicht gerne gesehen hätten. Und weil sie mit derselben Muse im Bett liegen wie wir.

Urs M. Fiechtner, Mai 2015

Mit Möwenzungen

Urs M. Fiechtner

Ich singe
mit Möwenzungen

mache eine Schaukel mir
aus Wind

breite meine Schwingen weit
über das Meer

habe einen Schnabel
mit lautem Gekreisch

mit falschen Tönen oft
manchmal verirrt, manchmal zu laut

das Gefieder schließlich
von Adlern zerzaust, nicht immer rein.

Trotzdem wiegt mich der Wind
und grüßt mich glitzernd das Meer.

Wir mögen uns eben.

Nicht nur die Sprachverwirrung

Sergio Vesely / Urs M. Fiechtner

Eins: Für den Opa

Keiner von uns konnte Regenschirmständer aussprechen, ohne mehrere Knoten hintereinander in die Zunge zu bekommen. Aus diesem Grund nannten wir das Möbel schlicht und einfach weiterhin paragüero. Das war leichter für uns. Obwohl ich zugestehen muss, dass einige von uns selbst dafür ein Wörterbuch brauchten, weil sie in der Vergangenheit noch nie einen echten paragüero gesehen hatten, teils weil man bei uns nicht unbedingt einsieht, dass jedes Ding auf der Welt auch sein eigenes Möbel verlangt, und teils, weil der Regen ein seltener Gast in unserer chilenischen Heimat ist.

Wie gesagt: wir hatten beschlossen, den Regenschirmständer ganz und gar spanisch zu belassen. Wegen der Sache mit der Zungenartistik. Und weil uns die Teamarbeit zwischen Wörtern sehr fremd war. Wir kamen aus einem stolzen Land, wo alles und jeder auf jedes und alles sehr stolz ist. Auch die Wörter auf sich selbst niemals würden sie sich zusammensetzen, um ein neues zu bilden. Außerdem kamen wir aus einer Diktatur. Da gab es nur ein Oben und ein Unten, Befehl und Gehorsam, Ja oder Nein. Es gab keinen Ausgleich der Interessen, wie in einer Demokratie. Es gab keine Runden Tische. Man setzte sich nicht zusammen, um eine Lösung zu finden, sondern legte mit militärischen Mitteln fest, was die Leute zu denken und zu sagen hatten. Kompromisse waren wir nicht gewöhnt.

Trotzdem gab es eines Tages eine Wende — wir fanden eine Zwischenlösung, die uns überzeugte. Sie war vielleicht nicht die richtige für die netten Leute von der Volkshochschule, die uns gutes Deutsch beibringen wollten, aber sie hatte einen enormen Vorteil: wir alle konnten sie fehlerfrei ins Deutsche übersetzen und wussten, dass ein paragüero gemeint war, obwohl von etwas ganz anderem die Rede war.

Die Geschichte ist eigentlich für Insider, aber ich erzähle sie trotzdem. Ich finde sie sehr bereichernd. Sie sagt etwas aus über die unverschämte Kraft der Naivität.

Die Sache war die, dass unter uns Flüchtlingen damals ein Landsmann mit einem Sprachfehler wohnte. Er sprach Spanisch wie die Chinesen. Also ohne „r“. Eines Tages kam er zurück von einem netten winterlichen Spaziergang durch die Altstadt und schrie an der Haustür nach dem paragüero. „Palabuelo“ rief er. „Wo ist der palabuelo?“

Und schon war es passiert. Wir mussten lachen, und während wir lachten, fanden wir die neue Bezeichnung für den unaussprechlichen Regenschirmständer. Wir übersetzten, was wir gefunden hatten. Es waren drei Wörter, und die bereiteten uns in keiner der beiden Sprachen irgendwelche Schwierigkeiten: „Para el abuelo“ = „Für den Opa“.

Seit diesem Tage sagen wir nicht mehr paragüero. Wenn wir tropfnass in der Haustür stehen und den Regenschirm so ordentlich und rücksichtsvoll, wie es hierzulande Sitte ist, ins Trockene bringen wollen, suchen wir den Fürdenopa.

Zwei: Anmeldearse

Se anmeldearon? — Eine merkwürdige Frage. Am Anfang verstanden wir sie nicht. Was war nur damit gemeint?

Wir konnten es nicht wissen, weil dieses Wort in unserer Sprache nicht existierte. Bei uns zu Hause ist man einfach da, ohne jemanden von seiner Existenz amtlich informieren zu müssen. Hier ist das anders.

Das Wort war eine Erfindung der Flüchtlinge, die vor uns in Deutschland angekommen waren und irgendwie versuchten, mit den exotischen Sitten und Gebräuchen ihres Gastlandes ins Reine zu kommen.

Eines stand von Anfang an fest: hier musste man sich anmeldearen. Überall. Jederzeit. Ständig. Das Wort klang wie eine Warnung. Wer es zum ersten Mal hörte, dem stand die Angst im Gesicht. Wir ließen uns nicht ohne Weiteres beruhigen. Die Erklärungen waren verwirrend. Wir waren frei, aber wir dachten bei diesem Wort sofort wieder an das Gefängnis.

Tatsächlich konnte man diese Frage kaum übersetzen. Das Wort war eine Leihgabe aus der Kultur unserer Gastgeber. Die Deutschen leben damit ihr ganzes Leben. Sie sind anmeldeados seit ihrer Geburt.

Für uns aber war es eine schreckliche Vorstellung. Wir waren die Flüchtlinge der schlimmsten Diktatur, die unser Land jemals erlebt hatte, aber noch nie hatten wir eine solche Gemeinheit erduldet: wir sollen wirklich dem Staat preisgeben, wo wir wohnen? Wo wir essen und schlafen, wo wir uns lieben und mit unseren Kindern streiten, wo wir unsere Krankheiten ausheilen und uns mit Freunden treffen? Unmöglich. Die Polizei wollte wissen, wo wir zu finden waren. Das konnten wir nicht zulassen. Wir misstrauten der Polizei zutiefst. Nicht der deutschen, sondern der Polizei an sich. Sie hatte uns verfolgt, verhaftet, gefoltert, inhaftiert und schließlich deportiert. Wie konnte man so etwas von uns verlangen?

Aber in Deutschland muss sich jeder anmelden. Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt, sagten die alten Römer, und die Deutschen praktizierten es. Wir philosophierten darüber, ob eine Frau hierzulande sofort zum Einwohnermeldeamt rennen muss, wenn sie erfährt, dass sie schwanger ist. Und was das Wort „melden“ da zu suchen hat, das wir nur vom Militär kannten. Wie meldet man der Welt einen neuen Bewohner? Muss man sich aufbauen wie auf dem Kasernenhof und die Hacken zusammenschlagen und so etwas brüllen wie: „Melde gehorsamst, neuer Erdenbürger eingetroffen!?“

Jedenfalls sind in Deutschland alle Menschen Anmeldeados. Es ist strikte Bedingung für alle Einheimischen und eine unausweichliche Amtshandlung für alle Anwärter auf den Status eines Flüchtlings: man existiert nicht nur einfach so unordentlich vor sich hin, sondern man existiert amtlich. Damit die Sache ihre Ordnung hat.

Wir hatten keine Wahl. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns dem Schicksal zu beugen. Wir wurden stinknormale Anmeldeados. Also war die Frage „se anmeldearon?“ an die neuen Ankömmlinge der chilenischen Exilfamile berechtigt. Man wollte die Leute auf das Neue vorbereiten und wissen, wie sie mit dem Problem fertig wurden. Man tauschte Erfahrungen aus. Man erzählte sich die neuesten Episoden aus der Serie der Albträume. Es baute sich so etwas wie ein Psychosyndrom der Angemeldeten unter uns auf. In Stuttgart hatten wir sogar eine interne Zeitung mit dem Namen El Anmeldeado. Die Idee war schön und hatte Witz. Der Name war in doppeldeutiger Form richtig. Diese Zeitung war die Trägerin von Meldungen aus der Welt der Angemeldeten.

Wir redeten und redeten über anmeldearse und die Anmeldeados. Es war fast unser einziges Thema. Die Anwendung des Wortes wurde immer feiner, immer vielfältiger. Wir konnten das Verb bald in allen Formen verwenden, als wäre es unser Wort oder als wären wir es gewesen, die die Manie in die Welt gesetzt hätten, sich überall anmelden zu müssen:

Indikativ

Yo me anmeldeo
tú te anmeldeas
él/ella se anmeldea
nosotros nos anmeldeamos
vosotros os anmeldeáis
ellos/ellas se anmeldean
 

Imperfekt

Yo me anmeldié
tú te anmeldeaste
él/ella se anmeldió
nosotros nos anmeldeamos
vosotros os anmeldiasteis
ellos/ellas se anmeldearon

Konjunktiv

yo me anmeldearía
tú te anmeldearías
él/ella se anmeldearía
nosotros nos anmeldeariamos
vosotros os anmeldearíais
ellos/ellas se anmeldiarían

Zukunft

yo me anmeldearé
tú te anmeldearás
él/ella se anmeldeará
nosotros nos anmeldearemos
vosotros os anmeldiaréis
ellos/ellas se anmeldiarán

Partizip

anmeldeado

Gerundium

anmeldeando

Imperativ

anmeldéate
anmeldéese
anmeldeaos
anmeldéense

Negation

NO ANMELDEARSE!

Drei: Tripolis

Als ich noch nicht einmal wusste, wo Libyen auf der Weltkarte lag, las ich in einem Prospekt den Namen einer unbekannten Stadt. Tripolis.

Tripolis, wiederholte ich laut, um den Klang besser zu verstehen. Was konnte das sein? Ich wusste es nicht und es war keiner da, der mir eine Antwort hätte geben, kein Buch in meinem Regal, wo ich hätte nachschlagen können.

Normalerweise, wenn die Neugier mich durstig macht, warte ich, bis ich sie stillen kann. Aber mit Tripolis war das anders. Ich konnte es nicht lassen, immer wieder über die Bedeutung nachzusinnen und legte mir zu meiner Beruhigung eine These zurecht, die mir ganz schlüssig vorkam: der Name Tripolis musste verwandt sein mit dem Wort tripas, was in meiner Sprache Gedärme bedeutet.

Ich frage mich noch heute, wie ich auf diesen Gedanken kam. Nun, der Zufall wollte es, dass ich damals ganz in der Nähe der Fiambreria Alemana wohnte. Und da flogen meine Gedanken hin.

Die Deutsche Metzgerei war eine Attraktion in Santiago de Chile. Dort hingen dutzende von tripas an den Fleischerhaken. In verschiedenen Größen und Formen und Färbungen lockten sie die Passanten an die Schaufenster — es war das Haus der Tripas. Die Kunden bildeten regelrechte Schlangen, um da reinzugehen und original deutsche Würste zu ergattern. Wir alle waren schon drinnen gewesen. Und jeder von uns hatte sich schon mal gefragt, woher diese tripas kamen, wo sie hergestellt wurden. In Chile hatten wir damals solche Fabriken noch nicht.

Urplötzlich hatte ich eine Vermutung — konnte es sein, dass Tripolis etwas damit zu tun hatte? War Tripolis eine deutsche Stadt, eine, die darauf spezialisiert war, tripas herzustellen? Die Stadt, aus der die Köstlichkeiten der Fiambreria Alemana stammten? Über den Ozean geschickt, in unglaublich schweren Kisten, die eigentlich Kühlschränke waren? Ich konnte es mir bildlich vorstellen. Die Deutschen waren zu allem fähig — auch Berge zu versetzen. Berge von Würsten.

Sie waren Emigranten in Santiago, aber lebten mit einem Fuß noch immer in der alten Heimat. Sie ließen sich die Mercedesse aus Untertürkheim und Sindelfingen schicken, die Aufzüge aus dem Ruhrgebiet, das Bier aus München und die Gedärme — die Gedärme aus Tripolis. Das schien mir logisch zu sein und bei dieser Erklärung blieb ich. Jedenfalls vorläufig.

Viele Jahre später kam ich als aufgeklärter junger Mann nach Deutschland. Damit will ich sagen: als einer, der zwar über eine gewisse Allgemeinbildung verfügte, viele Bücher gelesen und manch eines davon auch verstanden hatte, der aber trotzdem in der Lage war, an einem unbekannten Bahnhof panikartig aus dem Zug nach Frankfurt zu springen, weil die vielen kleinen Schilder in seinem Waggon ihm sagten, dass er in dem ganz falschen Zug nach „Raucher“ saß — aber auf der anderen Seite eben als einer, der einen so undeutsch klingenden Namen wie Tripolis selbstverständlich niemals auf deutschem Boden suchen würde. Nun, es ist nicht ganz leicht, zu erklären, was in dem Kopf eines ausländischen jungen Mannes geschieht, wenn er auf einem unbekannten Bahnhof nach Orientierung sucht, irgendwo auf der Strecke nach Raucher, und dann erfährt, wo er gelandet war: in Darmstadt.

Ich war geschockt. Regungslos stand ich auf dem Bahnsteig und wusste nicht, was ich denken sollte. Ich hatte das scheußliche Gefühl, das Opfer eines gezielten Ablenkungsmanövers zu sein. Konnte es sein, dass Tripolis doch in Deutschland lag?

Es war zu viel für mich. Ich setzte mich hin, schloss die Augen und versuchte mich zu sammeln, bevor ich daran dachte, meinen Weg nach Frankfurt fort zu setzen.

Vier: Deutschstunde

„Wie heißt der Viejo Pascuero auf Deutsch?“ — wollte mein Bruder wissen. „Weihnachtsmann“ — antwortete ich. „Was?“ — fragte er überrascht. „Weih-Nachts-Mann“ — buchstabierte ich langsam.

Er grübelte eine Weile und fing dann an zu lachen. So eine Übersetzung für den Viejo Pascuero hätte er sich nicht mal im Traum ausgedacht. Eigentlich, meinte er, beleidigten die Deutschen den guten alten Mann damit.

Mein Bruder, das muss man dazu sagen, glaubt Deutsch zu verstehen, obwohl er es nicht spricht. Manchmal gelingt es ihm, das eine oder andere richtig zu übersetzen, meist über den Umweg der englischen Sprache, die er einigermaßen gut beherrscht. Deshalb glaubt er, dass das immer funktioniert. Aber da liegt er falsch.

Es ist nämlich ziemlich falsch zu behaupten, dass der deutsche Begriff „Weihnachtsmann“ dasselbe wäre wie Wine-Night-Man in der englischen Sprache. Das führt nur zu Missverständnissen, ja zu monströsen Ungereimtheiten. Aber mein Bruder will nichts davon wissen und bleibt bei seiner Übersetzung, obwohl sie quatsch ist.

Wenn er in dieser Stimmung ist — das weiß ich seit meiner Kindheit — macht es keinen Sinn, ihn von seiner Welle herunter holen zu wollen. Er hört nicht auf Dich. Du kannst ihm dann kirchliche Rituale oder wohlriechende Substanzen lang und breit erklären. Es geht an ihm vorbei. Er will jetzt etwas ganz anderes wissen und seine Laune könnte eine üble werden, wenn Du nicht mitmachst.

Deswegen schaute ich ihn nur kurz ein bisschen grimmig an, als er damit begann, merkwürdige Wortgebilde zu bauen wie „Wine-days-man“ oder „Wine-afternoons-man“. Ich fürchtete mich vor dem, was da auf mich zukommen würde und überlegte mit Eifer, wie ich mich aus der Affäre ziehen konnte.

Aber es wurde dann noch schlimmer, als ich gedacht hatte. Wir verbrachten einen geschlagenen Tag damit, über die unterschiedlichen Tageszeiten eines mutmaßlichen Weinmannes zu diskutieren und einige Begriffe der deutschen Sprache einzuüben, nur damit er sie an seine fixe Idee verschleudern konnte. Und ich half ihm auch noch dabei.

Die Germanisten mögen mir verzeihen. Mit meiner Hilfe wurde die deutsche Sprache verunstaltet. Fremde Völker lernten falsche Ausdrücke durch meine Schuld. Ich schäme mich dafür, denn die deutsche Sprache ist eine sehr ernsthafte Sache und wurde nicht geschaffen, um an Unsinn verschwendet zu werden. Aber, wie ich schon sagte: mein Bruder wollte nicht hören, und ich wollte wegen eines älteren Herren mit einem Übergewichtsproblem nicht unsere alte Freundschaft riskieren. 

Am nächsten Tag erhielt ich die Quittung für meine Unvernunft. Ich hatte vergessen, dass mein Bruder nicht nur sehr stur sein konnte, sondern außerdem noch ein gutes Gedächtnis hatte. Was er sich einmal eingeprägt hatte, vergaß er nicht mehr. 

Wir fuhren durch die Stadt. Auf einmal bremste er und zeigte auf ein Haus an der Straße. „Dort wohnt ein alter Freund von uns, der jetzt völlig alkoholisiert dahinvegetiert“, sagte er. „Dort wohnt der authentische Weinnachtsmann!“.

Ich, der um diese frühe Stunde noch nicht ganz erreichbar war für seine Witze, schaute ihn verständnislos an. Und er, als ob er sich darauf vorbereitet hätte, fing sprudelnd damit an, alles zu wiederholen, was wir am Vortag eingeübt hatten:

„Der Weinmorgensmann. Der Weinvormittagsmann. Der Weinmittagsmann. Der Weinnachmittagsmann. Der Weinabendsmann. Der Weinnachtsmann. Und der Weindenganzentagmann“ — beendete er seine Deutschlektion und jubelte ekstatisch wie ein erfolgreicher Torjäger. Dann schickten wir dem alten Freund gedankliche Grüße und Genesungswünsche über den Zaun und fuhren weiter. Ich stöhnte. Witze werden anstrengend, wenn man sie in die Länge zieht. Aber vielleicht war das ja nicht bloß eine Witzelei. Und die Deutschstunde war damit auch noch nicht beendet.

Tage später, kurz vor meiner Abreise — wir wussten, dass wir uns für eine lange Zeit nicht wieder in der alten Heimat sehen würden und es war uns eigentlich nicht nach Blödeleien zumute — nahm er mich beiseite und fragte mich ganz ernsthaft: „Warum haben die Deutschen eigentlich an Wein gedacht und nicht an ihr gutes Bier, als sie dem guten viejo pascuero diesen abscheulichen Säufernamen gegeben haben? Warum eigentlich nicht Biernachtsmann, na?!“.

Ich wusste keine Antwort. Ich dachte nur an Condorito, eine unsterbliche Comicfigur in meiner Heimat. Immer, wenn Condorito sich überfordert fühlt, fällt er stracks auf den Rücken und stammelt „ich verlange eine Erklärung“. Das hätte ich jetzt auch gerne getan. Allerdings bekommt Condorito nie eine Erklärung. Das ist bei uns so üblich, nicht nur in den Comics.

Unsere Welt ist voll von Dingen, die eine Erklärung fordern, aber keine erhalten — Armut, Hunger, soziale Ungleichheit, schreiende Ungerechtigkeit, politische Verfolgung und tausend Sachen mehr. Wir bekommen nie eine Erklärung.

Deshalb basteln wir uns unsere eigenen. Darauf sind wir trainiert und beherrschen diese Kunst, auch wenn manchmal seltsame Sachen dabei herauskommen. Außerdem sind wir sehr sture Leute. Wir verstricken uns gerne in die Erklärungen, die wir uns selbst geben müssen, weil man uns mit Erklärungen kurz hält. Wir diskutieren gerne und überall und pausenlos und über alles, aber wir tun das eigentlich nicht, um eine ernsthafte Lösung zu finden, sondern um unseren Stolz hoch zu halten, auch und besonders dann, wenn das Leben nichts anderes im Sinn hat als uns täglich zu demütigen. Das Leben ist gegen uns — also beharren wir darauf, es uns zum Freund zu machen und es so hinzubiegen, dass man mit ihm leben kann. Bei uns braucht man Sturheit, um zu überleben. Und mein Bruder ist eben ein Überlebenskünstler.

Fünf: Der Dolmetscher

Dass es zwischen den Völkern und Kulturen immer wieder zu Sprachverwirrungen kommt, ist nichts Neues und nur zu leicht verständlich. Die Sprache einer Kultur hat etwas mit ihren Gewohnheiten, mit ihrer Denkart und ihren Erfahrungen zu tun. Man kann das nicht 1 : 1 in die Lesart anderer Völker übertragen.

Schwieriger steht es mit der Sprachverwirrung innerhalb einer Kultur, nämlich wenn Worte für die Mitglieder einer Familie etwas ganz verschiedenes bedeuten. Dafür gibt es kein Lexikon. In meiner Familie hatte ich zum Beispiel eine Menge Probleme mit der Definition von Wörtern wie Zukunft, Gerechtigkeit, Fortschritt, Leben. Die meisten Probleme hatte ich mit meiner Mutter.