Buchinfo:

Nina kann ihr Glück kaum fassen: Endlich nimmt Irina von ihr Notiz! Dank dieser klitzekleinen Lügengeschichte, die sie ihr aufgetischt hat. So langsam kann sie verstehen, warum die Erwachsenen es mit der Wahrheit oft nicht so genau nehmen.

Doch dann bricht bei den Proben der Theater-AG beinahe ein Feuer aus. Nur Nina weiß, wer dafür verantwortlich ist. Wird sie diesmal die wahre Geschichte erzählen, auch wenn dadurch alles ziemlich kompliziert wird?

 

Autorenvita:

Bettina Obrecht wurde 1964 in Lörrach geboren und studierte Englisch und Spanisch. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Rundfunkredakteurin und wurde für ihre Kurzprosa und Lyrik bereits mehrfach ausgezeichnet. Seit 1994 schreibt sie Kinder- und Jugendbücher und hat sich seitdem bereits in die „Garde wichtiger Kinderbuchautorinnen hineingeschrieben“ (ESELSOHR).

 

www.bettinaobrecht.com

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1.

 

 

Ich bin ein Vorbild.

Es war mir lange nicht klar, dass ältere Geschwister grundsätzlich Vorbilder sind, ganz genauso oder noch mehr als Eltern. Kleine Kinder gucken sich von den Großen alles ab. Vorbild sein ist keine leichte Aufgabe. Wer kann schon von sich behaup­ten, dass er immer alles richtig macht?

Ich gebe mir Mühe. Früher musste ich mir gar nicht so viel Mühe geben. Früher, das heißt, als ich noch in der Grundschule war. Da war ich genau so, wie man es von einem Mädchen erwartet: schlagfertig, ein kleines bisschen frech, immer fröhlich, umgeben von einer Schar ständig wechselnder Freundinnen und doch schon mütterlich genug für so einen Säugling.

Ganz hundertprozentig ehrlich war ich vermutlich in meinem Leben nie. Wer schafft das schon? In manchen Lebenslagen braucht man einfach eine gute Ausrede.

Aber meistens habe ich mich schon an den Grundsatz gehalten, dass man nicht lügen soll.

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Ich weiß auch, dass man die Schuld nicht auf andere schieben soll, wenn man selbst etwas verbockt hat. Mama sagt, man muss immer zu dem stehen, was man getan hat, weil man sonst nicht daraus lernen kann. Wahrscheinlich hat sie recht.

Wenn ich darüber nachdenke, wie die Geschichte mit meinem Flunkertagebuch angefangen hat, sehe ich immer eine Art Erinnerungsvideo vor meinem inneren Auge ablaufen, und das geht so:

 

»Dein Schnuller?«, fragt Mama mit großen unschuldigen Au­gen. Sie geht in die Knie und legt Linus, meinem kleinen Bruder, sanft die Hand auf die Schulter. »Deinen Schnuller, Linus, den hat heute Nacht leider die Schnullerfee mit­genommen.«

Linus reißt den Mund auf und fängt an zu brüllen, als hätte jemand auf den Einschaltknopf gedrückt. Mama zuckt ein bisschen zurück und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Ich glaube, ich gucke sehr grimmig.

»Aber Linus«, sagt Mama beschwichtigend, als mein Bruder endlich Luft holt. »Die Schnullerfee hat ihn ins Schnullerland gebracht, zu den anderen Schnullern, die nicht mehr gebraucht werden.«

Linus heult: »Ich brauch meinen Schnulli aber doch!«

»Aber die Fee hat dir dafür etwas dagelassen«, fügt Mama hastig hinzu. »Sozusagen ein Geschenk. Zum Tausch gegen deinen Schnuller.«

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»Geschenk?«, wiederholt Linus schluckend und wischt sich über die Augen.

»Genau. Willst du es sehen?«

Ich kenne das Geschenk. Es ist ein kleines blaues Auto, das Mama aus dem Supermarkt mitgebracht hat. Sie hat mich sogar gefragt, ob sie es denn auspacken soll oder ob Linus wohl glaubt, dass eine Schnullerfee angetackerte Autos in Plastikver­packungen mit dem grünen Punkt verschenkt. Ich hab mich da ganz rausgehalten. Linus hat schon ungefähr eine Million kleine Autos in allen Farben, die man sich nur denken kann, und nie im Leben hätte er seinen geliebten Schnuller freiwillig gegen das eine Million einste Auto eingetauscht. Trotzdem greift er jetzt danach, besieht es von allen Seiten und steckt es dann mit der Kühlerhaube voran in den Mund. Mama zieht es sanft wieder hervor.

»Nicht dran lutschen«, sagt sie freundlich. »Es ist doch kein Schnuller.«

Linus’ Mundwinkel verziehen sich wieder nach unten. »Mein Schnulli!«

Ich kann das nicht mehr mit ansehen und gehe einfach aus dem Zimmer.

Wie kann Mama meinen kleinen Bruder so schamlos belü­gen! Nur weil sie der Meinung ist, dass er mit seinen knapp drei Jahren keinen Schnuller mehr braucht! Wahrscheinlich ist es ihr peinlich vor ihren Freundinnen und vor meinen Tanten, die Zeilenende

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ihre Kinder immer irgendwie besser erziehen.

Schnullerland! Mir wird übel!

Wieso halten die Erwachsenen ihre Kin­der nur für so dumm?

Ich höre, dass Mama in die Küche wan­dert, und gehe ihr nach. Sie öffnet gerade den Kühlschrank und nimmt eine durch­sichtige blaue Plastikbox heraus, in der sie Stücke von geschälten Äpfeln und Birnen für Linus aufbewahrt.

»Wieso erzählst du ihm so einen Quatsch?«, frage ich böse.

»Was meinst du?«

»Schnul-ler-land!« Ich verdrehe die Augen.

»Das schadet ihm doch nicht«, sagt Mama munter. »In ein paar Tagen hat er seinen Schnuller ganz vergessen.«

»Na super. Habt ihr mich damals auch so angelogen?«

»Du hast niemals einen Schnuller benutzt, Schatz«, murmelt Mama, während sie drei Apfel- und drei Birnenstücke kreisför­mig auf einem kleinen blauen Plastikteller aufbaut und in die Mitte ein rotes Gummibärchen setzt.

»Aber man soll nicht lügen, sagst du immer. Lügen ist ganz schlimm, sagst du.«

Mama sieht überrascht auf. »Das ist doch keine Lüge. Es ist Zeilenende

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eine Geschichte. Du erzählst Linus auch Geschichten über Feen und Elfen und so was.«

»Das ist ja wohl etwas anderes.«

»Warum?«

Und weil ich das nicht wirklich begründen kann, nehme ich eins der sorgfältig hingeschobenen Apfelstücke vom Teller und stecke es mir in den Mund, bevor Mama mir auf die Finger hauen kann.

»Ekelhafte Vorstellung«, sage ich. »Ein Land, in dem überall abgelutschte und durchgesabberte alte Schnullis herumliegen – bäh! Oder sind die da womöglich auch noch lebendig? Können die fliegen oder krabbeln oder so?« Ich schüttle mich thea­tralisch.

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Mama runzelt die Stirn. Sie klappt die blaue Box wieder auf und ersetzt das Apfelstück. Als ich ein zweites Mal nach dem Teller greife, zieht sie ihn schnell weg.

»Es ist doch nur ein Bild. Für Linus ist es ein schönes Bild.«

»Und überhaupt, warum darf Linus keinen Schnuller mehr haben?«

»Es ist schlecht für die Zähne. Und auch sonst. Er ist alt genug.« Jetzt blitzen Mamas Augen. »Was willst du eigentlich? Wenn du meinst, du kannst ihm wissenschaftlich begründen, warum er seinen Schnuller aufgeben soll, dann tu das.«

»Okay, okay.« Ich schiele an ihr vorbei in den Kühl­schrank. Da steht noch genau ein Maracuja-Joghurt, meine Lieb­lings­sorte, leider auch die Lieblingssorte von Mama. Ich hätte nicht meckern, sondern mich beliebt machen sollen, dann würde ich ihn wahrscheinlich kriegen. Ich verzichte auf die zum Scheitern ver­urteilte Frage danach und ziehe mich in mein Zimmer zurück.

Was geht mich überhaupt Linus’ Schnuller an? Habe ich in meinem Alter keine anderen Sorgen? Wenn alle mit dieser däm­lichen Geschichte glücklich sind, dann soll mir das recht sein.

Aber es ist so: Ich mag Linus. Ich weiß, dass kleine Brüder in der Regel nerven, aber Linus ist anders. Keiner kann so lachen wie Linus, so ansteckend und so ehrlich. Er ist toll und ich finde manchmal, er ist mit seinen drei Jahren der Vernünftigste in der Familie. Und wenn er mal unvernünftig ist, hat das garantiert einen triftigen Grund.

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Diese Nummer mit der Schnullerfee beschäftigt mich und das ist ziemlich doof von mir. Es ist doch nichts Neues, dass Mama und Papa Linus irgendwelche Geschichten erzählen, die überhaupt nicht stimmen. Sie meinen es ja nicht böse, sondern versuchen irgendwie zu helfen. Als vor einem halben Jahr mein Meerschweinchen gestorben ist, haben sie Linus gesagt, es wäre weggelaufen. Und mir haben sie streng verboten, Linus die Wahr­heit zu sagen. Ich muss zugeben, dass ich das in Ordnung fand. Ich war selbst total traurig und wollte nicht, dass Linus genauso traurig wird.

Als Linus noch ganz klein war, haben meine Eltern abends beim Weggehen gesagt, sie wären gleich wieder da, und dann sind sie doch die halbe Nacht weggeblieben. Natürlich hat uns in so einem Fall ein Babysitter betreut. Meine Eltern sind keine Leute, die ihre Kinder einfach so allein zu Hause lassen. Sie wollen, dass es uns gut geht, und außerdem könnten wir ja das Haus anzünden oder so etwas. Sie haben einfach gedacht, Linus schläft ein und merkt gar nicht, dass sie nicht da sind. Das hat auch fast immer geklappt bis auf ein einziges Mal. Einmal nämlich ist Linus wach geworden und hatte Bauchweh und wollte zu Mama und die war nicht da. Unser Babysitter war ziemlich gestresst und hat versucht, Mama anzurufen, aber die durfte im Kino natürlich das Handy nicht anlassen.

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2.

 

 

Als Mama damals wieder anfing, ganztags zu arbeiten, bekamen wir eine Tagesmutter. Mit Ljoba haben wir uns prima ver­standen. Sie hatte noch zwei andere Tageskinder, aber die waren beide viel kleiner als ich, und so hatte ich in letzter Zeit nicht wirklich jemanden zum Spielen. Deswegen haben Mama und Papa gemeint, es ist doch bestimmt eine gute Lösung, wenn ich jetzt in der neuen Schule in den Hort gehe, wo es viele Kinder in meinem Alter gibt. Linus kann bis abends im Kindergarten bleiben und braucht deswegen auch keine Tagesmutter mehr.

Ich weiß nicht, warum ich lieber bei Ljoba geblieben wäre. Vielleicht, weil sie so gute Teigtaschen bäckt und es sich so gut anfühlt, wenn sie mich gegen ihren warmen Bauch drückt, und weil sie immer genau versteht, worüber man sich in der Schule geärgert hat.

Ich habe Ljoba versprochen, dass ich sie besuche, aber ich weiß gar nicht, wann ich dafür Zeit haben werde. Der Hort geht nämlich bis um fünf, und dann muss ich natürlich schnell nach Hause.

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Im Hort sind wir im Moment siebenundzwanzig Kinder. Ich gehöre zu den Jüngsten, die Ältesten sind schon vierzehn. Kinder, die noch älter sind, haben wahrscheinlich einen Schlüssel und dürfen alleine zu Hause rumhängen.

Also ehrlich gesagt, den Hort kann ich nicht besonders leiden.

Genauer ausgedrückt: Ich hasse es, mit einem Haufen Kinder, die ich nicht kenne, in einer Wohnung zusam­mengesperrt zu sein.

Und dieser Verona, der Betreuerin für uns Jüngere, traue ich auch nicht über den Weg. Sie ist schlank und sieht einigermaßen gut aus und bildet sich was darauf ein. Sven dagegen scheint ganz nett zu sein, aber der kümmert sich überwiegend um die Älteren, und außerdem sieht er komisch aus mit seinem runden Gesicht und der dicken Brille und den hässlichen abgewetzten Pullis, die sich über seinen Bauch spannen.

Aus irgendeinem Grund war es bei Ljoba viel schöner. Zum Beispiel roch es da immer gut. Ljoba hat überall Blütenblätter in kleinen Schälchen liegen und im Klo hängt so ein Duftstein, Zitronenaroma.

Im Hort stinkt es einfach nur nach verschwitzten Kindern und aufgewärmtem Essen und alten Socken und vollen Schul­rucksäcken.

Ich mag den Hort also nicht, und ich warte nur darauf, dass ich endlich vierzehn bin und einfach nach Hause gehen und Zeilenende

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mich nachmittags mit richtigen Freunden treffen kann, die ich mir ausgesucht habe.

Seit das Schuljahr angefangen hat, fragt mich Mama regelmäßig mit ihrer muntersten Stimme: »Na, wie war’s heute?«, und ihr ist an der Nasenspitze anzusehen, dass sie nur positive Rückmeldungen erwartet. Noch kein einziges Mal habe ich ihr den Gefallen getan.

»Beschissen«, sage ich. Oder: »Zum Kotzen.«

Das ist dann vielleicht ein bisschen übertrieben, aber ich finde es gut, wenn Mama entsetzt guckt. Das mit dem Hort war ihre Idee.

Also gut: Es gibt ein Mädchen im Hort, das sehr nett aussieht. Sie heißt Irina und sie erinnert mich ein bisschen an Ljoba, vielleicht, weil auch sie das »R« rollt und weil beide so ein offenes Lachen haben. Irina ist nicht so dick wie Ljoba und sie riecht anders, aber auch ganz gut. Das Problem ist, dass offenbar alle Kinder im Hort Irina cool finden und ich mich gleich nach der Schule in die Schlange all derer stellen müsste, die gerne mit ihr reden würden. Und Irina kommt von sich aus überhaupt nicht auf die Idee, sich mit mir abzugeben.

»Kein Wunder, wenn du immer so böse guckst wie eben«, sagt Mama heute, als ich mich darüber beschwere.

»Ich guck nicht immer so böse!«

Ich bücke mich und hebe unsere Katze Josefine auf, die um meine Beine streicht. Josefine schnurrt mal kurz aus Gewohn- Zeilenende

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heit, guckt mich dann aber misstrauisch an. Sie spürt genau, dass ich nicht gut drauf bin. Katzen kann man nichts vormachen.

»Ich bin für Irina zu langweilig«, klage ich weiter. »Sie hat tausend Freundinnen, die interessanter sind.«

»Und warum, bitte, bist du nicht interessant?« Mama runzelt die Stirn.

Ich zucke bockig mit den Schultern, setze Josefine auf den Boden, weil mir klar ist, dass sie sowieso jeden Moment abspringen wird. Wir haben Josefine noch nicht so lang. Mama behauptet, sie hätte für uns Kinder eine Katze gekauft, aber eigentlich ist sie diejenige, die immer eine Katze haben wollte, und sie hat sich Josefine auch alleine ausgesucht. Josefine ist eine »Kartäuserkatze« und hat einen Haufen Geld gekostet. Ich hätte nie so eine teure Rassekatze gekauft, sondern eine ganz normale aus dem Tierheim geholt.

Eigentlich sollte man sowieso keine Tiere haben, wenn man den ganzen Tag nicht da ist, aber Mama meint, einer Katze macht es nicht so viel aus, und sie wollte schon immer eine Katze haben, und Kinder sollten auch mit Tieren aufwachsen.

Josefine macht keinen richtig zufriedenen Eindruck. Sie lauert ständig auf eine Gelegenheit, uns zu entwischen. Letzte Woche hat Papa sie vor dem Nachbarhaus gefunden. Wir wohnen an einer ziemlich gefährlichen Straße und Josefine soll auf keinen Fall nach draußen gehen. Schließlich hat sie hier oben ihr Katzenklo und einen Kratzbaum. Ich finde den Kratzbaum pein-

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lich, weil er überhaupt nicht wie ein echter, natürlicher Baum aussieht, sondern wie ein Kinderspielzeug, das jemand mit Schnur umwickelt hat. So etwas Künstliches, Geometrisches dürfte überhaupt nicht »Baum« heißen.

Ich gehe aus dem Zimmer. Im Flur bleibe ich einen Moment lang vor dem Spiegel stehen und mustere mich. Ich sehe nicht interessant aus. Ich bin noch nicht mal so hässlich, dass es interessant sein könnte. Ich sehe aus wie Tausende elfjähriger Mädchen, einigermaßen schlank, lange braune Haare, blaue Augen, Sweatshirt, Jeans. Wahrscheinlich würde mich Irina auf der Straße noch nicht mal erkennen, so durchschnittlich bin ich.

»Nina!«, ruft Linus aus seinem Zimmer. Ich höre, dass er aufsteht – ist wahrscheinlich auf dem Boden herumgekrabbelt – und über irgendetwas stolpert, das wie Lego klingt. Linus reißt seine Zimmertür auf, als ich gerade meine eigene Tür erreicht habe.

»Nina, ich muss dir was zeigen!«

Ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört, und verschwinde in meinem Zimmer.

»Nina!«, ruft er mir weinerlich nach, aber er wagt es nicht, in mein Zimmer zu platzen, das habe ich ihm längst abgewöhnt.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, denn Linus ist der Einzige, der mich doch interessant findet.

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3.

 

 

Unsere Eltern sind der Ansicht, dass wir auch keinen Babysitter mehr brauchen. Klar, das Geld für den Babysitter können sie sich sparen, sie haben ja mich, die unbezahlte Sklavin, die ganz umsonst auf ihren kleinen Bruder aufpasst, ihm vorliest und ihn ins Bett bringt.

»Das ist unfair«, beschwere ich mich. »Ich will wenigstens ein bisschen Geld dafür.«

»Kommt nicht infrage«, sagt Papa streng. »Du bist Linus’ große Schwester und es gehört einfach zu deinen Aufgaben, dich um ihn zu kümmern, basta.«

»Und wenn es Schwierigkeiten gibt, kannst du jederzeit bei den Nachbarn klingeln«, sagt Mama. »Oder sie einfach anrufen. Frau Dippel weiß Bescheid.«

Sie kann sich denken, dass es wirklich einen lebensgefähr­lichen Notfall geben muss, bis ich freiwillig Frau Dippel ins Haus hole! Sie ist superordentlich und superstreng und supersauber, und wird mich nicht ins Bett gehen lassen, wenn ich mir vorher nicht noch den kleinsten verborgenen Winkel zwischen Zeilenende

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den Zehen auf Hochglanz poliert habe.

Linus vertraut mir offenbar auch nicht so hundertprozentig. Er flitzt hinter Mama her und hängt sich weinerlich an ihren Rockzipfel.

»Nina liest dir eine schöne Ge­schichte vor«, verspricht ihm Mama.

Ich verdrehe die Augen.

Mama schüttelt Linus ab und
geht ins Bad. Es ist die letzte
Phase vor dem Aufbruch,
und wenn sie aus dem Bad
kommt, wird sie verändert

aussehen, makellos frisiert und geschminkt. Meine Mutter ist wirklich perfekt, was ihr Aussehen angeht. Am Feierabend und am Wochenende schlappt sie mit zerzausten Haaren, in den ältesten Klamotten und alten Gummilatschen in der Wohnung herum. Aber sie kann auch im Bad verschwinden und aus Aschenputtel wird innerhalb kürzester Zeit eine Prinzessin. Sie sagt, in ihrem Beruf muss man so etwas hinkriegen, das gehört dazu. Kein Chef würde sie einstellen, wenn sie Flecken auf der Zeilenende

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Bluse hätte oder fettige Haare oder ausgelatschte Schuhe.

Ich finde, sie hat einen komischen Beruf, wenn aus­gelatschte Schuhe für ihren Erfolg eine wichtige Rolle spielen. Jedenfalls ist es kein Beruf, den ich später einmal haben möchte. Ich könnte mich nicht jeden Tag so verstellen wie meine Mutter.

Heute fahren die beiden
ungerührt los zu Papas Ge-
schäftsfreunden, deren
Nummer ich auch habe,
aber natürlich soll ich da
nur im alleräußersten Not-

fall anrufen, wenn das Haus brennt oder so! Denn Papa muss dringend einen guten Eindruck machen.

Linus beschwert sich nicht. Er sitzt vor der Glotze und zieht sich irgendeinen Zeichentrickfilm rein, in dem sich unförmige Gestalten mit schrillen Stimmen gegenseitig anschreien.

»Mach das aus«, sage ich. »Das nervt.«

Aber Linus reagiert nicht auf mich. Er weiß genau, dass ich erstens nicht ernsthaft mit ihm schimpfe, und zweitens darauf Zeilenende

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angewiesen bin, dass er keinen Aufstand macht, deswegen muss er mir nicht gehorchen.

»Du musst gleich ins Bett«, sage ich trotzdem.

»Nö.« Linus schaltet die Lautstärke höher.

Ich zucke mit den Achseln und gehe in die Küche. Weil Mama und Papa immerhin der Ansicht sind, dass wir uns auch einen schönen Abend machen sollen, haben sie Eis gekauft, Banana Split. Diese Packung fische ich jetzt aus der Truhe und hole zwei Glasschüsseln aus dem Schrank. Linus hört es klappern und reißt sich von seinem Kreischfilm los.

»Krieg ich auch was?«

»Nee. Beide Schüsseln sind für mich.«

Zeilenende