image

Lida Winiewicz

Achterbahn

Vom Schreiben leben

image

Gefördert von der Stadt Wien Kultur, Literatur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2019

© 2019 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto Lida Winiewicz: © Marlena Waldthausen, www.marlena-waldthausen.de

ISBN 978-3-99200-250-4

eISBN 978-3-99200-251-1

Phantasie haben heißt nicht, sich etwas ausdenken;
es heißt, sich aus den Dingen etwas machen
.

Thomas Mann

Das Wien der 1950er-Jahre war in vier Zonen geteilt: eine englische, eine französische, eine amerikanische, eine russische.

Spione sind unterwegs, Geheimagenten, Gauner, Heimkehrer, Kriegskrüppel, Huren.

Essen ist knapp, Schleichhandel verboten. Trotzdem blüht er unverhohlen, tagtäglich im Resselpark.

„Die Vier im Jeep“, Militärpolizisten fernab jeglicher Romantik, brauchen nur zuzuschlagen, was sie auch tun, immer wieder, nicht selten mit tödlichem Ausgang. Sie nehmen Menschen mit, die kommen nie zurück.

Ich studiere an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst. Meine Singstimme, während des Krieges durch ein Schockerlebnis beschädigt – sie ist mir buchstäblich im Hals stecken geblieben –, bedarf der Reparatur. Eine Gesangspädagogin von Weltruf verspricht, den alten Glanz wiederherzustellen. Dieser Hoffnung kann ich nicht widerstehen. Dass sie sich nicht erfüllte, sei hier vorweggenommen.

Niemand hat Geld. Höchster Luxus: ein Thunfischbrötchen im Buffet Dr. Barry gegenüber von der Akademie, Mayonnaise-Wunderding mit Gurkerl, Kostenpunkt: zwei Schilling dreißig. Um mein Studium zu finanzieren, übersetze ich englische, französische und italienische Literatur ins Deutsche. Das wird schlecht bezahlt. Die Verträge widersprechen den guten Sitten. Mit einmaliger Vergütung sind sämtliche Rechte des Übersetzers abgegolten, der Verlag darf das Manuskript kürzen, verändern, verkaufen, Buchgemeinschaften überlassen, Taschenbuchverlagen, wem auch immer. Noch nicht erfundene Verbreitungsarten sind vorsorglich inbegriffen, Nachforderungen zwecklos.

image

Dass ich vom Übersetzen leben kann, verdanke ich meinem Tempo. Ich bin schneller als die Konkurrenz.

Letztere besteht mehrheitlich aus Damen der Wiener Gesellschaft. Mithilfe bescheidener Schulfranzösisch- oder Englischkenntnisse verschaffen sie sich ein Körberlgeld.

Nach Ende des Tausendjährigen Reichs herrscht in der ExOstmark Lese-Nachholbedarf an moderner englischer und französischer Literatur. Beanstandet ein Leser die Qualität der Übersetzung, interessiert das niemanden.

Apropos Qualität: Zum Rüstzeug eines guten Übersetzers gehört weniger die genaue Kenntnis der zu übersetzenden Sprache – dafür gibt es notfalls Wörterbücher und kompetente Auskunftspersonen – als die spielerische Beherrschung der tunlichst eigenen Muttersprache, in die übersetzt werden soll. Sowie das Wichtigste: Mut! Die Kühnheit, nicht an den Wörtern des Originals zu kleben, sondern dessen Geist zu erfassen und möglichst unverfälscht wiederzugeben, notfalls mit Sprachbildern eigener Erfindung. Je unerschrockener der Übersetzer mit der eigenen Sprache verfährt, desto flüssiger die Übersetzung.

Wieso war ich schneller?

Ich arbeitete akustisch.

Ich hatte mir zwei Riesenkisten besorgt, gebrauchte Magnetophone, ausgestattet mit tellergroßen Tonbandspulen, massiven Kopfhörern und eisernem Fußschalter, Letzterer besonders arbeitsbeschleunigend.

image

Die Sache funktionierte folgendermaßen: Ich setze mich vor die Geräte, schlage das fremdsprachige Buch auf, konzentriere mich, übersetze den ersten Satz im Stillen, so präzise und frei ich kann, schalte Maschine Nr. 1 ein und spreche meinen deutschen Text möglichst verständlich und schnell auf Band. Je schneller ich spreche, je deutlicher ich artikuliere, desto weniger Zeit kostet das Abhören.

Dann lasse ich das Band rücklaufen, stülpe die Kopfhörer über, höre mir auf Maschine Nr. 1 Satz eins meiner ersten Fassung an, schalte Maschine Nr. 2 ein und spreche, Satz für Satz, eine verbesserte Fassung auf Band 2. Endlich, mithilfe des Fußschalters, diktiere ich mir den während des Diktierens endgültig überprüften Text in die Schreibmaschine.

Das Ganze hat etwas von Simultandolmetscherei.

Später werde ich versuchen, diese Kunst an der Wiener Universität zu erlernen.

Ohne Erfolg.

Ich brauche meinen eigenen Rhythmus. Mich einem fremden Tempo zu unterwerfen, überfordert meine Bereitwilligkeit. Vor allem, wenn ich einem Kollegen zuhöre, einem freundlichen Jüngling namens Eberstark, der die verzwicktesten fremdsprachigen Texte knapp zeitversetzt, gleichsam in Trance, in fließendem Deutsch abliefert. Eine Art Medium?

Ich schwanke zwischen Neid, Bewunderung und Abwehr. In diesen Zustand möchte ich nicht geraten. Aus der UNO-Karriere wird nichts.

image

Aber zurück zu den Magnetophonen: Mit einer Übersetzung, für die der Verlag mindestens vier Monate veranschlagen muss, bin ich binnen sechs Wochen fertig.

Da kommt ein Brief vom Finanzamt. Sie fordern Einkommensteuer!

Von diesem Hungerlohn?

Ich kenne einen Steuerberater, begegnete ihm anlässlich eines Aushilfsjobs bei einer Pharmafirma: ein unauffälliger Herr, grau in grau, mit altmodisch-guten Manieren. Er steht im Telefonbuch. Ich rufe ihn an.

Er sagt: „Ich kann nur abends.“

„Wann immer Sie können! Danke! Ich richte mich nach Ihrer Zeit!“

Er bestellt mich zu sich nach Hause. Ich finde mich pünktlich ein.

Die Wohnung sieht aus, als hätte er sie von seinen Eltern ererbt und nicht verändert. Auf dem Klavier eine Beethoven-Büste.

Der Meister schaut grimmig drein.

„Sie übersetzen Weltliteratur?“

„Ja.“

„Die Werke berühmter Schriftsteller?“

„Ja.“

„Das heißt, Sie leisten schriftstellerische Arbeit?“

„Wenn Sie es so betrachten …“

Er winkt ab. „Entscheidend ist, wie Ihr zuständiger Steuerreferent es betrachtet. Wenn er Sie als Schriftstellerin einstuft, gilt Ihre Übersetzungsarbeit als schriftstellerische Tätigkeit und Sie bekommen einen günstigeren Tarif!“

„Ich bin keine Schriftstellerin! Ich bin Musikstudentin!“

Der Mann überlegt. Dann sagt er: „Sie machen Folgendes: Sie gehen zum Österreichischen Schriftstellerverband, legen Ihre Übersetzungen vor und suchen um Aufnahme an. Wenn die Sie nehmen, sind Sie eine Schriftstellerin. Ihr Referent hat’s schwarz auf weiß und seinerseits nichts zu befürchten, wenn er Sie bevorzugt besteuert.“

image

„Danke!“ Ich stehe auf. „Was bin ich schuldig?“

„Sofort.“ Er geht hinaus.

Holt er Kaffee und Kuchen?

Ich warte.

Nichts geschieht.

Dann öffnet sich die Türe, und er steht da, splitternackt, in seiner ganzen Pracht.

Ich sage: „Sie werden sich verkühlen!“

Und flüchte.

image

Zwei Wochen später schickt er mir eine gepfefferte Rechnung. Ich bin überrascht, doch ich weiß, ein Skandal würde nichts bewirken. „Sie waren bei ihm in der Wohnung! Das musste er ja als Einverständnis empfinden!“

Es waren die Fünfzigerjahre.

Außerdem stellt sich heraus: Sein Rat ist Goldes wert.

image

Ich war zum Österreichischen Schriftstellerverband in die Kettenbrückengasse gegangen und hatte meine Übersetzungen zur Begutachtung vorgelegt.

Der künstlerische Wert wurde bescheinigt.

Ich bin eine Schriftstellerin!

Das Verfahren dauerte ein paar Tage. Ich verbrachte viel Zeit im sparsam beleuchteten Wartezimmer. Auf einem wackeligen Tischchen lag allerlei Lesestoff, darunter ein verknittertes Blatt Papier, die Ausschreibung eines Dramatikerwettbewerbs des Wiener Kellertheaters „Courage“ der Prinzipalin Stella Kadmon.

Ich steckte es ein.

image

PREISAUSSCHREIBEN DES THEATERS DER COURAGE FÜR EIN DRAMA ÜBER EIN MINDERHEITENPROBLEM

Zur Förderung der zeitgenössischen aktivistischen dramatischen Dichtung setzt das THEATER DER COURAGE hiemit unter den nachstehenden Bedingungen einen Preis von S 5.000 (Schilling fünftausend) aus.

1)Teilnahmsberechtigt sind bühnengerechte dramatische Werke in deutscher Sprache.

2)Die eingesandten Stücke müssen als Thema der äußeren Handlung das Problem einer menschlichen Minderheit (religiösen, nationalen, sozialen oder anderen Minderheit) in dramatischer Form behandeln.

3)Einsendungen, welche den obigen Erfordernissen nicht entsprechen, nehmen am Preisausschreiben nicht teil.

4)Einsendungen, die nach ihren äußeren Erfordernissen (Spieldauer, Personenzahl, Bühnenbilder etc.) für die Aufführung an einer Kellerbühne ungeeignet sind, nehmen am Preisausschreiben nicht teil und werden ohne Vorlage an die Jury den Einsendern retourniert.

5)Jury: Fritz Walden, Theaterkritiker (Arbeiterzeitung)
Ernst Wurm, Theaterkritiker (Neue Tageszeitung)
Hans Weigel, Theaterkritiker (Neuer Kurier)
Wolfgang Harnisch, Regisseur und Schauspieler
Dr. Herbert Stein, Dramaturg des Theaters der Courage

6)Die von der Jury preisgekrönte Einsendung wird vom THEATER DER COURAGE zur Aufführung im Laufe des Jahres 1960 unter den üblichen Bedingungen angenommen.

image

Ich beschloss, mich zu beteiligen.

War mir die Mitgliedschaft beim Österreichischen Schriftstellerverband zu Kopf gestiegen?

Nein. Mich lockte das Preisgeld.

Zwar erinnerte ich mich an schriftstellerische Versuche im Alter von sieben Jahren, die ebenso tollkühne wie folgenlose Ankündigung meiner „Memoarn“, sowie an Geschichten in windschiefen Blockbuchstaben, deren Handlung sich am Inhalt beliebter Opern orientierte (am Ende waren alle tot), aber das Gelächter der Familie hatte mich auf diesem Weg nicht ermuntert. Das eselsohrige Schulheft war im Sog der Übersiedlungen verschwunden, und mein ganzer Stolz, der Schüttelreim „Kommerzialrat Bettfeder nimmt im Tag drei Fettbäder“, erregte keine besondere Aufmerksamkeit. Mein Vater vervollständigte ihn mit dem Nachsatz „in zerlassener Butter und dann verkocht’s die Mutter“, als wäre ein dichtendes Kind eine Selbstverständlichkeit und keiner Erwähnung wert.

Trotzdem. Ohne den Humus meiner Kinderzeit hätte ich mir kaum zugetraut, ein Theaterstück zu schreiben. Andererseits betrachtete ich das Vorhaben keineswegs als künstlerischen Gipfelsturm, eher als sportliche Herausforderung, näherte mich dem Projekt mit aller gebotenen Sachlichkeit und beschloss, im Theater der Courage einen Lokalaugenschein vorzunehmen, für eine Stehparterrebesucherin der Wiener Staatsoper ein Ausflug in die Unterwelt.

Man spielte Schillers BRAUT VON MESSINA.

Unsere Schiller-Gesamtausgabe (Goldschnitt mit Lederrücken) war 1938 in der Konkursmasse gelandet. Ich besorgte mir ein Reclam-Heft und staunte: Das Drama zweier feindlicher Brüder, die sich unwissentlich in die eigene Schwester verlieben, entsprach keinesfalls Punkt vier der Wettbewerbsbedingungen „für die Aufführung an einer Kellerbühne geeignet“, sondern überforderte diese auf das Peinlichste.

image

Nicht genug damit, dass die Rivalen mit Gefolge aufzutreten hatten, dessen schwerbewaffnete Mitglieder dann aufeinander losschlagen mussten, gab es auch zwei kommentierende Chöre, die, wie ich abends feststellte, sparsamkeitshalber mit je einer Person besetzt waren.

Die Bühne des Theaters der Courage, eine schmale Spielfläche ohne Höhe und ohne Tiefe, war als Kriegsschauplatz ungeeignet. Und noch während einer der beiden einsamen Chordarsteller „Wehe! Wehe! Wehe!“ rief, entwarf ich das Bühnenbild meines ungeschriebenen Stücks: den Querschnitt eines Wohnwagens mit zwei Stockbetten für insgesamt vier Personen. Gab es keine horizontal bespielbare Bühnentiefe, nun, so würde ich die Rückwand nutzen, und zwar vertikal! Eine praktische Idee, der ich, davon bin ich heute überzeugt, meinen damaligen Erfolg verdanke. Weiterer Vorteil: Die Stockbetten erforderten die Verpflichtung von vier jungen sportlichen Schauspielern, und junge Schauspieler sind billiger als alte. Außerdem war damit die Struktur des Stückes vorgegeben: vier junge Leute (Studenten), vier verschiedene Meinungen (Diskussionen), wenig Geld (würden die vier sonst in einem Wohnwagen hausen?), alles innerhalb der Grenzen des Möglichen.

„Probleme einer Minderheit“ lautete das gestellte Thema.

Vermutlich hatte Stella Kadmon an die Probleme der Juden gedacht.

Nein, danke!

Als „jüdisch versipptes Kind“ hatte ich Besagte während des Tausendjährigen Reichs zur Genüge kennengelernt.

Was tun?

Der fatale Hang meiner Schwester zu gut aussehenden Männern half mir aus der Verlegenheit.

image

Sie hatte ihr Cembalostudium in Wien abgebrochen und war einem amerikanischen Soldaten, der aussah wie Rock Hudson, in die USA gefolgt. Jetzt lebten sie mit zwei kleinen Kindern in North Carolina.

Rock war Viehzüchter.

Wenn er von seinen Hereford-Rindern schwärmte, spielte sie ihm Scarlatti vor. Wenn er ins Kino fuhr, blieb sie zu Hause und las Goethe. Wenn er mit seinem Hund spielte, streichelte sie ihre Katzen. Sie hießen Meinl und Demel.

image

Ich flog zu meiner Schwester.

Wir bewohnten einen lang gestreckten Bungalow inmitten saftiger Wiesen und Weiden. Keine Nachbarn, abgesehen von den Millers, einem heruntergekommenen Ehepaar in einem wurmstichigen Holzhaus, etwa zehn Meilen entfernt.

Millers zählten zu jener „white trash“ (weißer Abschaum) genannten Menschengattung, die von den alteingesessenen Südstaatlern noch aggressiver verachtet werden als „Nigger“.

Eines Tages kam Mrs. Miller, weinend. Ihr Mann sei betrunken, der Kühlschrank leer, das Telefon abgeschaltet, das Auto ohne Benzin.

Wir stellten sofort ein Paket zusammen – Brot, Butter, Eier, Speck –, und sie weinte weiter, diesmal aus Dankbarkeit. Dann setzte sie sich ans Klavier und spielte den „Louisiana Waltz“, ein munteres, bei Square-Dance-Veranstaltungen beliebtes Konzertstück, dessen Schwierigkeitsgrad bescheiden war, Mrs. Miller aber als höhere Tochter aus bemühter Familie auswies, die der jungen Frau eine bessere Zukunft zugedacht hatte.

Ein anderes Mal gab’s Hurricane-Warnung. Allen Bewohnern wurde empfohlen, einen Sturmkeller aufzusuchen. Unser Bungalow hatte keinen. Mrs. Miller lud uns in ihren ein: „I swept it! There are no rattlesnakes now!“

Wir blieben zu Hause.

War ihr Mann nicht betrunken, stand er an der Kreuzung zweier einsamer Landstraßen und regelte den Verkehr. Seine Bewegungen waren professionell, manchmal benutzte er ein Pfeifchen. Dass keine Autos kamen, störte ihn nicht.

Mein Schwager fuhr öfters zu Viehmessen. Dann blieben meine Schwester und ich allein.

image

Der Bungalow war nicht versperrbar. Trotzdem hatten wir keine Angst.

Krieg und Terror hatten uns gelehrt, Menschen zu fürchten, nicht allerlei Getier.

image

Man musste kein Prophet sein, um das baldige Ende der Ehe meiner Schwester vorherzusagen.

Immerhin hielt die Verbindung lange genug, um es mir zu ermöglichen, in aller Ruhe und nach gewissenhaften Recherchen an der Universitätsbibliothek von Raleigh ein Stück über den Busstreik zu schreiben, der 1955 in der Stadt Montgomery, Alabama, stattgefunden hatte.

Dort gab es in den städtischen Bussen strenge Rassentrennung: Weiße vorne, Schwarze hinten, Schwarze in der Mitte nur, wenn keine Weißen zustiegen. Sobald ein Weißer den Sitzplatz beanspruchte, hatte der Schwarze aufzustehen.

Nun begab es sich aber, dass eine schwarze Näherin namens Rosa Parks sich weigerte, einem weißen Mann ihren Platz zu überlassen. Sie wurde verhaftet.

Daraufhin weigerte sich die schwarze Bevölkerung von Montgomery, die städtischen Busse zu benützen. Fahrräder wurden hervorgeholt, Fahrgemeinschaften gegründet, ein bisher unbekannter Pastor namens Martin Luther King nahm sich der Sache an. Nachdem der Streik über ein Jahr gedauert und die städtische Busgesellschaft viel Geld verloren hatte, hob das Verfassungsgericht der USA die Busvorschriften von Montgomery als verfassungswidrig auf, und die Schwarzen konnten sitzen, wo sie wollten. Mein Stück spielte unter Studenten, die sich studienhalber mit diesen Ereignissen auseinanderzusetzen hatten. Die näheren Umstände habe ich vergessen, und zu allem Überfluss kann ich das Stück nicht mehr finden. Damals sandte ich es zeitgerecht nach Wien, und als ich nach Hause kam, hatte es den ersten Preis gewonnen.

image

Stella Kadmon, Jüdin, 1902–1989, hatte 1931 in dem gleichen Lokal, wo sich jetzt ihr Theater der Courage befand – im Untergeschoß des Café Prückel am Luegerplatz –, ihr Kabarett Der liebe Augustin gegründet. 1938 musste sie fliehen, gelangte über Griechenland nach Israel, lernte Hebräisch und spielte alsbald in Tel Aviv Theater.

Nach ihrer Rückkehr erkämpfte sie sich ihre Bühne zurück und feierte nach anfänglichen Misserfolgen mit dem Brecht-Stück FURCHT UND ELEND DES DRITTEN REICHES einen entscheidenden Erfolg.

Wer ihr erstmals begegnete, mochte sie leicht unterschätzen. Redselig, herzlich, naiv – so wirkte sie bei flüchtiger Bekanntschaft. In Wirklichkeit war sie eine Frau von sicherem Theaterinstinkt und großer Zähigkeit.

Mich umarmte sie überrascht. Sie hatte jemand Älteren erwartet. Das Durchschnittsalter der vierzig Autoren, die sich an dem Preisausschreiben beteiligt hatten, betrug fünfundfünfzig Jahre.

Bald fand bei mir daheim die erste Besprechung mit Wolf Harnisch statt, dem designierten Regisseur.

Als ich ihn zum Haustor begleitete, ich wohnte im dritten Stock ohne Lift, sagte er: „Sie sind Anfängerin. Anfänger machen Anfängerfehler. Ihr Stück muss bearbeitet werden. Keine Angst! Ich übernehme das. Dafür bekomme ich zehn Prozent.“

Die Stiegenhausbeleuchtung erlosch. Wir standen im Dunkeln.

„Was sagen Sie dazu?“

„Aha.“

Ich knipste das Licht an. Er lächelte väterlich. Wir trennten uns mit Händedruck.

Tags darauf informierte ich Stella. Sie sagte: „Der kann was erleben!“

image

Die Uraufführung meines Stückes fand im Sommer 1960 statt.

Es hieß DAS LEBEN MEINES BRUDERS.

Stella, die ihre Premierengäste am Eingang des Theaters persönlich zu begrüßen pflegte, fiel fast in Ohnmacht, als Josef Gielen erschien, der amtierende Burgtheaterdirektor. Sein Sohn Michael, einer der jungen Musiker, mit denen wir befreundet waren, hatte ihm offenbar von meiner Premiere erzählt, „Pappa“ hatte unsere Umtriebe stets amüsiert-distanziert betrachtet, aber niemals besonderes Interesse an meiner Person gezeigt.

Jetzt war er da, bekam einen improvisierten Ehrenplatz und adelte den Premierenabend. Nicht nur, dass er nachher rundum gratulierte, er lud das ganze Ensemble in ein nahes Restaurant zum Abendessen ein und sagte beim Abschied: „Lida, Sie haben Talent. Und eines rechne ich Ihnen hoch an: Sie haben mir nie ein Stück zu lesen gegeben!“

image

DAS LEBEN MEINES BRUDERS bekam gute Kritiken, wurde von einem Berliner und einem Münchner Kellertheater nachgespielt sowie als Hörspiel produziert, unter der hervorragenden Regie von Klaus Gmeiner, dem damaligen Chef der Literatur- und Hörspielabteilung des ORF Landesstudio Salzburg.

Mir verlieh die Stadt Wien einen Förderungspreis, wundervolle dreitausend Schilling, die ich unverzüglich für ein „kleines Schwarzes“ auf den Tisch eines Modesalons blätterte, in Erwartung der Einladungen, die nun auf mich niederprasseln würden.

Nichts prasselte.

Kein Theater rief an. Kein Veranstalter schrieb. Kein Fernsehsender ließ von sich hören. Zwischen etabliertem Wiener Kulturbetrieb und Kellerbühnen, das trat immer ernüchternder zutage, herrschte ein Hochmutsgefälle wie zwischen der Wieden und Hernals.

Lediglich Klaus Gmeiner – danke! – schickte ein Exemplar meines Stückes an Hubert von Bechtolsheim, den Fernsehspielchef des Südwestfunks, Baden-Baden.

Der rief mich an und sagte: „Ich habe Ihr Stück gelesen. Es gefällt mir nicht. Aber Sie sind begabt. Hätten Sie Lust, etwas für mich zu schreiben?“

image

Was folgte, erzähle ich zögernd. Wer verweilt gern bei der eigenen Dummheit?

Ich fragte NICHT: „Wo liegt der Fehler? Was habe ich falsch gemacht? Warum gefällt Ihnen mein Stück nicht?“

Hätte ich es heute vor Augen, könnte ich die Schwachstellen benennen. Soweit ich mich erinnere, hatte ich keine Menschen auf die Bühne gestellt, sondern Sprachrohre unterschiedlicher Meinungen. Da gab es den Enkel des Plantagen- und Sklavenbesitzers, der der Vergangenheit nachtrauerte, den humanen Demokraten, der die Lage der schwarzen Mitbürger verbessern wollte, den eitlen Sportler, den nur das eigene Training interessierte, und mittendrin den schwarzen Wohnwagen-Mitbewohner, der die Diskussionen als Geschwätz empfand.

Ich ließ die Chance, Grundlegendes über mein neues Handwerk zu erfahren, ungenützt verstreichen, fand Bechtolsheims Anfrage witzig, lächelte geschmeichelt und sagte: „Ja.“

Ein ehrliches Gespräch mit ihm, einem erfahrenen Dramaturgen, hätte mir viel Zeit erspart, viele Irrwege, viele Enttäuschungen.

image

Was ist ein Dramaturg?

Was muss er können? Was tut er?

Wie und wo erlernt er seinen Beruf?

Jedes Erstlingswerk lebt, solange keine Technik erworben wurde, vom Talent des Anfängers. Ohne den Herzschlag der Begabung kein Wachstum.

Ein junger Schriftsteller braucht Hilfe, aber von kompetenter Seite.

Andere Sachverständige, etwa im Hoch- und Tiefbau, müssen einen Berufsnachweis erbringen. Stürzt die Brücke ein, zieht man sie zur Rechenschaft.