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Herbert Lehnert

Thomas Mann
Die frühen Jahre

Eine Biographie

 

 

 

 

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Die Publikation wurde ermöglicht durch die
Unterstützung der S. Fischer Stiftung, Berlin

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

Umschlagabbildung: Thomas Mann um 1900, © H.-P. Haack

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3666-7

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4481-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4482-2

Inhalt

Vorsatz

Heinrich Mann verlässt die Kaufmannswelt

Heinrich Mann missachtet den angehenden Schriftsteller-Bruder

Heinrich Mann »überwindet« den Naturalismus

Heinrich Manns Haltlos

Des Vaters Tod und Testament

Die Brüder kommen sich näher: Der Frühlingssturm!

Tarnende Sprache: Zweimaliger Abschied

Schopenhauer und Nietzsche

Richard Wagner

Sexualpsychologie

Die Briefe an Otto Grautoff I

Selbstbildung

Der Lehrer Brandes

Heinrich Manns Roman In einer Familie und Thomas Manns Gefallen

Studien

Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft

Brüderlicher Austausch: Heinrich Manns Das Wunderbare und Thomas Manns Der Wille zum Glück

Heinrich Manns konservative Neigungen

Die Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert

»Jüdischen Glaubens«

Weiter an der Geldquelle

Thomas Manns Beiträge zur Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert und deren Ende

Der Bajazzo

Der kleine Herr Friedemann

Der Tod

Wieder in Italien: Enttäuschung, Luischen, Tobias Mindernickel

Buddha und die Welteinheit

Die Briefe an Otto Grautoff II

Buddenbrooks: Die Konzeption des Familienverfalls

Heinrich Mann und die Konzeption

Anregungen und Einflüsse für Buddenbrooks

Der Glaube hilft nicht mehr gegen den Tod

Die Macht des Geldes

Tony Buddenbrook

Die Bürger-Rolle Thomas Buddenbrooks

Der Brüder-Streit und die Neurasthenie

Das Schulkapitel

Hanno Buddenbrook

Opposition gegen den Kapitalismus, aber kein historischer Roman

Buddenbrooks in Selbstinterpretationen

In inimicos

Wieder in München – 1898

Romantische Märchen und Geschichten

Der Kleiderschrank und Gerächt

Freundschaften

Der Weg zum Friedhof

Beziehungen: Heinrich Mann, Paul Ehrenberg, Richard Schaukal

Die Briefe an Otto Grautoff III

Tristan

Florenz, Mary Smith, Mitterbad

Die Hungernden

Die Adelaide-Episode für den Gesellschaftsroman Die Geliebten oder Maja

Ein Glück

Herman Bang

Tonio Kröger

Das Wunderkind

Bleibende Spannung zwischen den Brüdern

Heinrich Manns Die Jagd nach Liebe und der Briefwechsel darüber

Heinrich Manns Fulvia, Thomas Manns Gabriele Reuter: zwei Begriffe von Freiheit

Savonarola-Studien

Gladius Dei

Fiorenza

Beim Propheten

Die Freundschaft mit Otto Grautoff erkaltet nach Thomas Manns Heirat

1905: Schwere Stunde und Wälsungenblut

Ausblick auf spätere Werk-Perioden

Literatur

Siglenverzeichnis

Forschungsliteratur

Personenregister

Anmerkungen

Impressum

 

 

 

 

Inge zu eigen

Vorsatz

Mein zu früh verstorbener Freund Peter Pütz begann einen Vortrag über ethische Fragen in Texten Thomas Manns mit zwei Erinnerungen. Die erste handelte von seinem Deutsch-Lehrer in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihn hatten seine Schüler gebeten, Thomas Mann zu lesen, statt Literatur im Geiste eines christlichen Humanismus, wie der Lehrplan vorschrieb. Auf dieses Verlangen habe der Lehrer »mit leiser, bebender Stimme« geantwortet: »Ein Schriftsteller, der jeden, aber jeden Wert durch seine Ironie vernichtet, sollte verboten werden.« Die andere Erinnerung, die Peter Pütz vortrug, war die an die Äußerung eines Freundes, der ihm gesagt habe: »Ich habe in meinem Leben viel Thomas Mann gelesen und studiert und habe oft Vergnügen dabei gefunden – aber gegeben hat er mir nichts.«[1] Ich erinnere mich an Gespräche mit Peter Pütz, aber ich kann nicht stehen lassen, dass Thomas Mann mir nichts gegeben habe. Ich hatte wohl ausdrücken wollen, dass ich Thomas Manns Werke nicht lese, um meine Welt realistisch erklärt zu bekommen, um neue Lebenswerte zu entdecken, oder um einen Religionsersatz zu finden. Was Thomas Mann seinen Lesern im 21. Jahrhundert gibt, sind Wörter, die sich zu Beispielen, Szenen, Bildern ordnen, für eine Weise, wie man in einer Welt lebt, die nicht von einem Schöpfergott ein für alle Mal geordnet und mit starren Regeln des Verhaltens versehen wurde, sondern in einer modernen Welt mit Veränderungen und voller Widersprüche.

Modern ist eine Weltanschauung, die mit Widersprüchen leben kann. Sie verzichtet auf die traditionelle Metaphysik, die das Weltganze aus einem Prinzip zu begreifen suchte, sei es der Schöpfergott oder die auf mathematische Formeln reduzierte Naturwissenschaft. Der modern denkende Mensch hat den lenkenden Schöpfergott in einen Mythos verdrängt, der mit der Naturwissenschaft im Konflikt steht. Ein Konflikt zwischen dem Gefühl, zu einem großen Ganzen zu gehören und dem Wissen, dass eine mathematische Weltformel sich unserem Zugriff entzieht, charakterisiert das moderne Verhältnis zur Welt, auch das in den Werken Thomas Manns.

Seit Charles Darwins On the Origin of Species (1859) kann man es nicht mehr für die einzige Wahrheit halten, dass der Mensch, separat von der Tierwelt, nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde. Das Weltall, das die Astronomen beobachten und vermessen, besteht aus Galaxien, die auseinanderfliehen. Aus diesem Weltall lassen sich keine menschlichen Verhaltensregeln ableiten. Die biblische Morallehre hat ihre absolute Autorität verloren und wird durch pragmatisch gefundene Regeln erklärt oder ersetzt. »Modernismus« nenne ich das Bestreben unter Schriftstellern, den Prozess der Säkularisierung, der Modernisierung, anzunehmen. Thomas Manns Werk gehört zu dieser Bewegung, was nicht ausschließt, dass Erzähler und Figuren dieser Bewegung kritisch gegenüberstehen.

Unter den Ersatzreligionen, die sich Thomas Mann als neuen Weltsinn anboten, hat der Ästhetizismus die Schönheit für heilig erklärt und will Künstlern priesterliche Würde zuerkennen. Der moderne Realismus weigert sich, der Schönheit einen solchen Rang zu geben. Wie ein Kunstwerk versteht Thomas Mann Schopenhauers Philosophie, wenn sie den »Willen« als zeit- und raumloses Phänomen die Welt erfüllen lässt. Aller Metaphysik widersprach Nietzsche im zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung Was bedeuten asketische Ideale in Zur Genealogie der Moral:

Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches »Erkennen«; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser »Begriff« dieser Sache, unsre »Objektivität«, sein. (KSA 5, 365)[2]

Diese Stelle kannte Thomas Mann schon in früher Jugend. Er las auch schon früh Nietzsches Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (KSA 1, 873–890), in dem er die Wörter der Sprache als bloße Metaphern erkennt, denen keine absolute Geltung zukommt. Sprachwerke bilden nicht die allen bekannte reale Welt ab, sondern Zusammenhänge aus einer oder mehreren Perspektiven, die widersprüchlich sein können.

In der Zeit, in der die Astronomie das Universum als auseinanderstrebende Galaxien erkannt hatte, und in der die Evolutionslehre den Menschen als Tiergattung in die Natur einordnete, im 19. und 20. Jahrhundert, griff die industrielle Revolution in die lange herrschende Ordnung von Gesellschaftsklassen ein. Zur Modernität gehört die Bereitschaft, die Veränderungen der Weltsicht einschließlich der Moralität in das Verständnis der Welt aufzunehmen, obwohl die alte Ordnung der Dinge noch immer die Orientierung des Menschen mitbestimmt, ohne absoluten Glauben zu verlangen. Die moderne Weltsicht der Zeit Thomas Manns, wie auch die der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, ist durchsetzt von nostalgischen Rückverweisen auf die alte Ordnung. Ausdrücke wie »mein Gott« oder »Gott weiß« benutzen auch moderne Menschen. Sie implizieren nicht mehr die Existenz einer Gottes-Person, die menschliche Sprache spricht, sondern gebrauchen bloß Schatten der alten Bedeutung als Redensarten.

Zu der Bewegung auf die moderne Orientierung hin gehören Autoren der deutschsprachigen Literatur der Moderne, wie Arthur Schnitzler, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, die Brüder Mann, Hermann Hesse, Robert Musil, Bertolt Brecht, Ernst Toller. Sie sind in einer Welt aufgewachsen, in der traditionelle bürgerliche Werte galten, sowie eine Ethik, die auf religiösen Werten beruhte, obwohl metaphysische Wahrheiten bezweifelbar wurden. Moderne Autoren wie die eben genannten betrachteten die »bürgerlichen« Konventionen ihrer Herkunft mit kritischem Misstrauen. Zwar schrieben sie für ihre Leser in der gebildeten Mittelschicht, die Bildungsbürger, jedoch mit der Erwartung oder Hoffnung, dass die bürgerlichen Konventionen sich ändern würden, darunter die Abhängigkeit vom materiellen Besitz, vom Geld, das seit der Französischen Revolution die soziale Ordnung bestimmt, und auch der mindere soziale Rang der Frauen, der ihnen den Zugang zu höherer Bildung verwehrte. Frauen bildeten die Mehrzahl der bürgerlichen Leser. Noch herrschend auf dem Grund von Kirchenlehren war die Verachtung homosexueller Gefühle, die Thomas Mann bekümmerte.

Modernität, wie wir sie in diesem Buch verstehen, ist keine Sache des Sprachstils. Überraschende Neuigkeiten, wie der Stilpluralismus in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz, oder die Essayistik als narratives Mittel in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, sind keine Merkmale eines allgemein geltenden Modernismus, sondern eben nur Neuigkeiten. Thomas Manns Verzicht auf avantgardistische Stilexperimente hat sein Werk nicht gehindert, in einer Welt zu bestehen, in der die alte Metaphysik einer von Gott geschaffenen Ganzheit nicht mehr gilt.

Um 1893, Thomas Mann war achtzehn, ließ Bruder Heinrich den vier Jahre jüngeren an seinen Entdeckungen moderner Literatur und der Philosophien Schopenhauers und Nietzsches teilnehmen. Dem müssen wir nachgehen.

Heinrich Mann verlässt die Kaufmannswelt

Bruder Heinrich hatte mit vierzehn Jahren zu schreiben begonnen, vielleicht früher. Gedichte entstanden im Stil von Heinrich Heine, den er sehr schätzte, auch kleine Prosa-Erzählungen, von denen er gelegentlich eine in einer Lübecker oder Berliner Zeitung unterbrachte. Sie verraten Heinrichs Bedürfnis, die deutsche kaufmännische Welt, in der er aufgewachsen war, zu verlassen. Einige seiner frühen Geschichten versetzen Autor und Leser in ein imaginiertes Milieu des hohen Adels, andere spielen in Paris oder Italien. Heinrich war ein mittelmäßiger Schüler, begann aber, siebzehn Jahre alt, seine Zeit so sehr zum Schreiben und zum Lesen moderner Literatur zu nutzen, dass er im Jahr 1889 das Klassenziel des zwölften Schuljahrs (damals ›Obersekunda‹) nicht erreichte und im Herbst des gleichen Jahres die Schule verließ. Heinrich erklärte, Buchhändler werden zu wollen, weil der enttäuschte Vater auf einer Berufsausbildung bestand. Er trat im Herbst 1889 eine Lehre in Dresden an. Er wollte in eine Großstadt ziehen, Lübeck genügte ihm nicht.

Sein Vater war der Lübecker Senator Thomas Johann Heinrich Mann, Besitzer eines Getreide-Großhandels. Er hatte sich literarische Kenntnisse erworben, obwohl er schon mit vierzehn Jahren den Kaufmannsberuf erlernen musste. Er hatte zu viel Respekt für erfolgreiche, gut gebildete Schriftsteller, um an Heinrichs Berufung zum Schriftsteller zu glauben. Heinrich hielt jedoch an seinem Ziel, Schriftsteller zu werden, fest und betrieb in Dresden ein intensives Selbststudium. Wir können das gut verfolgen, weil er, statt eines Tagebuchs, in ausführlichen Briefen an seinen Lübecker Freund Ludwig Ewers von seinen Studien berichtete. Die meisten Briefe sind erhalten.[3]

Heinrich Mann las Romantiker und Theodor Storm; seine Lieblingsschriftsteller waren Heine und eine Zeit lang der Lübecker Klassiker-Epigone Emanuel Geibel. Diese, und den siebzigjährigen Theodor Fontane las bald nach ihm auch sein Bruder Thomas. Heinrich schätzte Michael Georg Conrad, der in seiner Zeitschrift Die Gesellschaft gegen die christlich fundierte Moral und die bürgerliche Prüderie opponierte, Émile Zola und Richard Wagner empfahl. Conrad war einer der ersten Leser und Anhänger Nietzsches. Heinrich empfahl seinem konservativen Freund Ewers, dem Empfänger der tagebuchartigen Briefe, Die Gesellschaft zu lesen, in der moderne ›Realisten‹ veröffentlichten. Wenig später nannte man diese modernen Autoren ›Naturalisten‹. Auch Thomas Mann las Die Gesellschaft schon als er noch zur Schule ging.[4]

Heinrichs erster gedruckter Text erschien im April 1890 in einer Lübecker Zeitung, eine Gegenkritik zur Verteidigung von Hermann Sudermanns Drama Die Ehre, das im November 1889 großen Erfolg bei der Berliner Erstaufführung gehabt hatte. Ein Lübecker Richter, literarisch gebildet im Geist der Goethezeit, hatte in einer anderen Lübecker Zeitung gegen den groben Naturalismus des Stückes geschrieben. Heinrich verteidigte die Wahrhaftigkeit in Sudermanns Drama und ließ ein Lob der sozialen Bestrebungen Kaiser Wilhelms II. einfließen, demselben, dem später seine Verachtung galt.[5]

Für eine philosophische Grundierung seiner Weltanschauung griff Heinrich Mann nicht zu Hegel und dem deutschen Idealismus wie viele deutsche Schriftsteller der Zeit, sondern zu Schopenhauer, einer Philosophie, die einen Schöpfergott nicht brauchte, während Hegels Philosophie, nach der Erkenntnis der Ganzheit der Welt, dem »Absoluten« fragend, den Gottesgedanken nicht ausschloss. Schopenhauers Weltsystem war pessimistisch im Gegensatz zu dem christlichen Versprechen einer endlichen Erlösung in Gott. An die Stelle einer »Substanz«, dem Grund allen Seins, setzte Schopenhauer den zeit- und ortlosen ›Willen‹.

Schopenhauers Weltsystem verbindet, was widersprüchlich erscheint: Wir haben die Welt uns gegenüber und zugleich in uns. Schopenhauers ›Wille‹ beugt sich nicht der Logik, ist nicht einmal ein Objekt, das angeschaut werden kann. Der Wille in uns, ein dumpfer Drang, zwingt uns zur Bewahrung unserer Existenz, zwingt auch alle anderen Wesen, belebt oder unbelebt. Deren Streben gegeneinander verursacht Leiden. Was uns als Objekt gegenübersteht, ist Kants »Vorstellung«, die Welt, wie sie uns in Zeit und Raum erscheint. Kant hielt das ›Ding an sich‹, ein Ding außerhalb von den Formen von Raum und Zeit, für unerkennbar. Schopenhauer hielt den Willen zur Existenz, zum Leben, für das ›Ding an sich‹, für die Welt im Ganzen. Erlösung von der Qual des ewig für sich streitenden ›Willens‹ kann der Mensch erlangen, wenn er oder sie den konkurrierenden ›Willen‹ durch Mitleid ersetzt. Erlösen kann auch die Kunst. In ein geniales Kunstwerk versunken, kann der Mensch den egoistischen Willen verneinen, kann Bilder der Welt genießen als entstanden aus platonischen Ideen. Schopenhauer galt die Musik als die höchste Kunst; sie war ihm ein Ausdruck des ›Willens‹ selbst.

Nach Schopenhauer studierte Heinrich Mann seit Januar 1891 Friedrich Nietzsche.[6] Dieser hatte zuerst Schopenhauers tragischen Pessimismus angenommen, erhob dann aber das Konzept des ›Willens‹ als »Wille zur Macht« zu einem positiven Prinzip des Lebens. Seine Moralphilosophie hat Nietzsche fast überall in seinem Werk ausgedrückt, besonders in Morgenröthe, in Jenseits von Gut und Böse und in Zur Genealogie der Moral. Herren unterwerfen das Volk, die »Herde«. Für die Herrenmoral ist »gut«, wer zu den Herren gehört, wer Macht hat und übt, »schlicht«, »schlecht« ist, wer nicht aus der Herde hervorragt. Für die Unterworfenen ist gut, was allen nützt; böse ist das Streben nach eigener Macht, das die Ordnung des Ganzen stört. Eine Moral, die die Liebe aller und Gehorsam für die Gebote eines Gottes verlangt, wie die judeo-christliche Religion, ist für Nietzsche eine Sklavenmoral. Nietzsche hielt eine Umwertung aller Werte für nötig, nach Einsicht in eine harte, realistische, soziale Ordnung.

Eine Wirkung seiner Nietzsche-Lektüre zeigt sich in einem Brief Heinrichs an den Freund Ludwig Ewers: »eine objektive Wahrheit ist für mich nirgends vorhanden«.[7] Noch am 12. Mai 1892 ist Nietzsche Heinrichs »Hauptlektüre«.[8] Eine Klassen-Moral zeigt sich, wenn er am 8. September 1891 an Ewers schreibt: »ich bin […] praktisch für fast absolute Monarchie, katholische Kirche, aus Interessenpolitik – theoretisch dagegen vollkommen Anarchist«.[9]

Heinrich Mann missachtet den angehenden
Schriftsteller-Bruder

Heinrichs Freund und Briefpartner Ludwig Ewers verkehrte im Hause des Senators Mann in Lübeck. Wenn Ewers dort Gedichte Heinrichs vorlas, bewunderte Thomas die lyrischen Versuche des älteren Bruders. Heinrich belustigte sich in einem Brief an Ewers über die schwärmerische Zustimmung seines Bruders.[10] Thomas hatte begonnen, selbst Lyrik zu produzieren. Als er Ewers einige seiner Versuche sehen ließ, sandte dieser sie nach Dresden. Heinrich reagierte mit Verachtung:

Ich bin von den Gefühlsprodukten einer halbwüchsigen liebenden Seele, mit denen der glückliche Dichter auch mich zuweilen verfolgte, immer stillschweigend oder laut lachend zur Tagesordnung übergegangen. In den »Dramen« finden sich neben all den Unmöglichkeiten, die du […] hervorhebst, doch immerhin ein paar – wenn auch noch so verbrauchte – Gedanken, wie Oasen im Sand. Sand ist schon langweilig. Aber das Wasser in seiner Lyrik ist doch noch langweiliger.[11]

Die Brüder müssen sich damals Briefe geschrieben haben, die leider verloren sind. Heinrich verachtete die Gedichte seines Bruders noch mehr, wenn sie homoerotische Liebe darstellten. Als Beispiel zitiert er in einem Brief an Ewers vom 21. November 1890 aus einem Gedicht des jüngeren Bruders:

– – als an deiner Brust ich ruhte …

– als um den Freund den Arm ich schlang,

und ich in süßer Lust mich wiegte …[12]

Thomas liebte damals, 1889, seinen Mitschüler Armin Martens und ein Jahr später Williram Timpe,[13] den Thomas Mann »Willri« nannte. Die homoerotischen Motive erinnerten Heinrich an August von Platen, den er im privaten Brief »Ritter vom heiligen Arsch« nennt.[14]

In einem der seltenen Fälle, in denen Heinrich in den Briefen an Ewers Motive aus einem Gedicht von Thomas nennt, muss es sich um Thomas’ Version eines Gedichtes von Heinrich handeln, das im November 1890 in der Zeitschrift Die Gesellschaft gedruckt wurde. Es heißt Geh schlafen und handelt von dem Selbstmordwunsch einer »gefallenen« und verlassenen jungen Frau, die sich der Verachtung der Mitwelt ausgesetzt fühlt.[15] Auch Thomas dichtet von einer Gestalt, die sich ertränken will,[16]  – vielleicht beschreibt er einen vergeblich liebenden Jungen.

Heinrich entwickelt einen Heilungsplan für den leidenden Bruder:

Mein armer Bruder Tomy. Lass ihn nur erst in das Alter kommen, wo er unbewacht und – bemittelt genug ist, seine Pubertät zum Ausdruck zu bringen. ’ne tüchtige Schlafkur mit einem leidenschaftlichen, noch nicht allzu angefressenen Mädel – das wird ihn kurieren. Sage ihm das aber nicht. Ironisiere die Geschichte; das hilft. Nur nichts tragisch ernst nehmen! Er will »meine Ansicht« durch dich wissen. Sage ihm also das inhaltsschwere Wort »Blödsinn«. Ich denke, das genügt.[17]

Der zynisch-herablassende Ton, in dem Heinrich über die Bemühungen seines jüngeren Bruders schreibt, wirkt verstörend. Ewers wird den Auftrag Heinrichs dem Sinne nach ausgeführt und Thomas mitgeteilt haben, wie wenig Heinrich dessen poetische Versuche schätzte. Selbst wenn Ewers dies schonend tat, muss die Enttäuschung bitter gewesen sein, und wir können annehmen, dass sie nicht die einzige war. Heinrichs Abwertung des noch vierzehnjährigen Bruders dürfte lange, vielleicht lebenslang, nachgewirkt haben, auch, wenn der jüngere Bruder dem Vorbild des älteren weiter auf dem Weg in den Schriftstellerberuf folgte. Von Störungen während der Jugend der Schriftsteller-Brüder hat Katia Mann berichtet: Ihr Mann habe ihr erzählt, er habe als Junge mit Heinrich ein Jahr lang nicht gesprochen.[18]

Als Thomas achtzehn Jahre alt wurde, änderte sich das Verhältnis. Heinrich ließ den jüngeren Bruder an seinem Studium Schopenhauers und Nietzsches teilnehmen. Ein früher Nietzsche-Einfluss ist erkennbar in Thomas Manns Heinrich Heine, der »Gute«, einem Essay, der ganz am Anfang von Thomas’ Laufbahn als Schriftsteller steht und den wir näher betrachten werden. Nietzsches Moralkritik ist ein fortschrittliches Element in Thomas Manns Denken, das im Gegensatz steht zu dem konservativeren zeit- und raumlosen ›Willen‹ Schopenhauers. Die Welt in Thomas Manns Werk wird weder ausschließlich von Nietzsche noch von Schopenhauer bestimmt; sie kann Widersprüche aufnehmen.

Während die moderne Naturwissenschaft die Skepsis gegen den biblischen Schöpfungs-Mythos bestärkte, orientierte die Mehrheit der deutschen akademisch Gebildeten ihr modernes Denken an der rechten oder der linken Hegel-Nachfolge: Die Konservativen beruhigte Hegels Staatsphilosophie, nach der das Wirkliche vernünftig ist, und die Umstürzler, sowohl die Marxisten als auch die präfaschistischen Nationalisten, nahmen Hegels dialektische Geschichtsphilosophie als ideologische Rechtfertigung für ihre Ziele. Thomas Mann behielt lebenslang Sympathie für Schopenhauers Willenslehre, aber sie war ihm ein Kunstwerk, eine Erfindung, mit der man viel erklären konnte, ohne dass das Erklärte ihm absolute Wahrheit war.

Weil Schopenhauer sein Konzept des ›Willens‹ für das »Ding an sich« erklärte, lag die Versuchung nahe, den zeit- und raumlosen ›Willen‹ für das Ganze der Welt zu nehmen: als Pantheismus. Schon früh hat Thomas Mann Nietzsches Schopenhauer-Kritik in Zur Genealogie der Moral zur Kenntnis genommen. Die Widersprüche hinderten ihn nicht, von beiden zu nehmen, was er brauchte.

Heinrich Mann »überwindet«
den Naturalismus

Ende 1890, dem ersten Jahr seiner Dresdener Zeit, gewinnt eine neue literarische Mode Heinrichs Aufmerksamkeit. Er liest den Roman Die gute Schule (1890) des Österreichers Hermann Bahr, in dem, wie er Ewers schreibt, die Psychologie »aufs Höchste getrieben« sei. Er fühle sich geistesverwandt mit Bahr und lobt ihn, weil er »so ganz in der Moderne lebt«.[19] An die Stelle realer und wissenschaftlicher Genauigkeit solle eine Psychologie der fiktiven Figuren treten. Heinrich setzte die neue Mode sofort um in seiner Novelle.[20] Die neue Schreibweise wirkt als nervöser Impressionismus, der statt »Sachenstände« »Seelenstände« zeigt.

Bahr, der in Paris gelebt hatte, empfahl als moderne Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, Maurice Barrès, Maurice Maeterlinck, Paul Bourget. Heinrich Mann nahm Bourgets Romane zum Vorbild sowie dessen viel gelesene Essays über moderne Schriftsteller, die 1883 als Buch unter dem Titel Essais de psychologie contemporaine zusammengefasst wurden.[21] Paul Bourget verstand sein 19. Jahrhundert als Spätzeit. Dekadenz sei die Modernität des glaubenslosen Lyrikers Charles Baudelaire. Bourgets Modell für die Zeit des Absturzes in den Verfall war das spätrömische Reich, bevor die germanischen Barbaren es zerstörten. Patrizische spätrömische Intellektuelle trugen zum Untergang ihres eigenen Reiches bei, indem sie sich von ihrem Staat abwendeten.[22] Die dekadente Kunst Bourgets will sich nicht wehren gegen die Stärke der Barbaren, ebenso wenig wie Athen den rauen Mazedoniern gewachsen war. Ihre Zukunft findet die Kunst des Verfalls in jungen Künstlern, die das Besondere schätzen. Weil die Dekadenten in ihrer eigenen Welt leben, teilen sie nicht die gängigen Vorurteile und entwickeln eine allseitige Toleranz.

Paul Bourget wählte Ernest Renan, einen Religionswissenschaftler, als Beispiel für die Fähigkeit, sich in viele Glaubensformen einzufühlen, sie gelten zu lassen.[23] Diese Toleranz hat auch im modernen Roman einen Platz. Renan hatte, wie Baudelaire, seinen katholischen Glauben aufgegeben, ohne ihn durch eine Ersatzreligion zu ersetzen. Bourget schätzte an Renan, dass er nicht-christlichen Glaubensformen einen religiösen Wert zugestand. Die Kunst, sich in andere Menschen einzufühlen, nennt er »Dilettantismus«, ein Wort, das ursprünglich wohlhabende Menschen bezeichnete, die Künstlerisches leisteten, ohne von ihren Produkten leben zu müssen. Diese Herkunft hängt dem Begriff noch an: die Dilettanten Bourgets sind oft die Söhne erfolgreicher Väter, die Kunst genießen, aber selbst nicht mehr kreativ sind. Einmal unterscheidet Bourget die modernen Dilettanten von älteren, vielseitig begabten Künstlern wie Leonardo, Montaigne, Shakespeare. Diese waren kreativ, die modernen sind es kaum noch.[24] Der Dilettantismus ist ein Begriff, der zwischen dem Positiven, der Sehweise des Künstlers und dem Negativen, der fehlenden oder schwindenden Kreativität, schillert.

Modern ist auch der Kosmopolitismus, für den der Bourget der Essais den vielgereisten Romanschriftsteller Stendhal (Marie-Henri Beyle) als Beispiel hinstellt.[25] Kosmopolitismus, Multiperspektivismus, die Einfühlung in fremde Welten, gilt als eine Form des Dilettantismus. Mit seinem Roman Cosmopolis (1892) wendet Bourget sich gegen die Praxis des modernen Dilettantismus zugunsten konservativer Werte. Am Ende des Romans empfiehlt ein Altgläubiger einem kosmopolitischen modernen Dilettanten die Rückkehr zu den Sicherheiten des katholischen Glaubens.

Eine Kunst der Dekadenz, die sich wenig um Fortschritt in die Zukunft kümmerte, war attraktiv für den Kaufmannssohn, der in die Kunst entlaufen war. Aber für die Praxis des dilettantischen Kosmopoliten reichte Heinrichs kleine geerbte Rente nicht.

Ich führe das kosmopolitische Leben so gut wie es bei so beschränkten Mitteln, wie die meinen sind, angeht. Ich pflege die verschiedenen Kultursprachen, lebe das Leben der verschiedenen Länder, genieße überall die eigentümliche Kunst; das genügt jedoch nicht. Ich bin an kleine bürgerliche Pensionen gebunden […]. Mein Gesichtspunkt ist kein freier, über den Interessen und unrealisierbaren Wünschen stehender, es ist der der mehr oder weniger leeren Tasche, der durch alle Einbildungskraft und den möglichen Dilettantismus niemals so weit korrigiert werden kann, dass[26] er zu denselben Resultaten gelangt, wie diejenigen einer gesättigten Existenz.[27]

Bourgets Zweifel an dem Wert seiner dekadenten, dilettantischen und kosmopolitischen Freigeistigkeit wurden in den 90er-Jahren – also zu der Zeit, als Heinrich Mann sich für Bourget begeisterte – zu einer entschiedenen Absage an die Modernität. Der Thesen-Roman Le Disciple (1889) lässt einen Philosophen eine positivistische, deterministische Psychologie entwickeln und vertreten. Seine Lehre wird fragwürdig, als er mit der Schuld eines Schülers belastet wird. Der junge Mann hatte sich durch die Lehren des Philosophen von dem katholisch-christlichen Glauben und von der alten Moral befreit gefühlt; er hat sich davon überzeugt, dass nur das eigene Ich wirklich sei und will die Stärke seiner Lehre beweisen, indem er die Tochter eines adligen Hauses dazu bringt, sich in ihn zu verlieben. Die Betrogene tötet sich. Bevor ihr Bruder den Verführer erschießt, hat dieser seinem Lehrer sein Experiment erklärt und den Philosophen erschüttert. Bourget leitet seinen Roman ein mit einem Brief an einen jungen Franzosen, den er aufruft, an der Gesundung Frankreichs nach seiner Niederlage 1871 teilzunehmen. Bourget meinte das in konservativem Sinn, als Gegner der Dritten Republik. Heinrich, der bald selbst konservative Neigungen entwickeln wird, blieb lange Sympathisant Bourgets. Er verstand Le Disciple eher als Bourgets selbstkritische Analyse der Moderne denn als konservatives Manifest.

Heinrich Manns Haltlos

Heinrich probierte die neue nach-naturalistische Schreibart in einer Erzählung, deren Titel Haltlos er von einem Gedicht der Wiener sozialkritischen Schriftstellerin Ada Christen übernahm.[28] Deren Verse evozieren »Vagabunden des Lebens« und »moderne Zigeuner«, die nach außen keck seien, aber nach innen »verjammert«,[29] nämlich bindungslos und unglücklich. Das moderne Streben nach Freiheit hat problematische Konsequenzen. Diese erfährt die Hauptfigur in Heinrich Manns Erzählung, ein junger Mann ohne Namen, der fast den ganzen Text hindurch die Perspektive bestimmt. Sein sozialer Stand gibt ihm keine Sicherheit. Der Buchhändler-Lehrling muss täglich ins Geschäft gehen, obwohl er wie sein Autor der »Sohn eines vornehmen Hauses« ist.[30] Er hat genug Taschengeld, um in Restaurants zu speisen und Prostituierte zu bezahlen. Wie sein Autor hat er die Schule vorzeitig verlassen. Erotische Gefühle will er nicht in bürgerliche Konventionen lenken, und der Text analysiert sie in der Weise von Bahr und Bourget, die statt der »Naturstände« des Naturalismus »Seelenstände« zum Gegenstand der Literatur machen wollten.

Ihm ist eine junge Verkäuferin in einem Zigarrenladen aufgefallen. Aus ihrem Benehmen hat er geschlossen, dass auch sie eine Außenseiterin ist und daher zu ihm passt. Weil die junge Frau so anders ist als die Bürgertöchter, möchte der Mann ihr seine Scham beichten, nachdem er, von Kollegen eingeladen, ein Bordell besucht hat und sich nachher »gefallen« vorkommt, gefallen vor ihr, der unbürgerlichen jungen Frau.[31] »Gefallen« ist das Wort, das Thomas Mann zum Titel einer Erzählung wählen wird, mit der er auf Haltlos antwortet. Die Anziehung, die sie auf ihn ausübt, ändert sich, als die junge Frau ihm ihre Notlage erklärt. Ihr kleines Gehalt reicht nicht für die Medizin, die ihre Mutter benötigt. Ihr Hauswirt hat ihr das Geld geliehen, dreißig Mark. Das Darlehen will er tilgen, wenn sie ihm zu Willen ist. Sie hat den Verdacht, dass er sie danach als Prostituierte ausbeuten will.

Wenn der junge Mann ihr das Geld gibt, nimmt er die traditionelle Rolle des männlichen Versorgers an, der die Frau wie seinen Besitz betrachtet. Die verarmte Kleinbürgerin fühlt »herzenswarm: er war ihr nun alles«,[32] sie spürt aber auch, dass seine nihilistische Indifferenz, sein Dilettantismus ihn hindern wird, sie zu heiraten. Sie will mit ihm die freie Liebe erfahren, bevor sie ihren Erpresser-Hauswirt bezahlt. Sie lädt ihn ein und gibt sich ihrer Liebe hin. Am nächsten Tag schickt sie ihm einen Brief, in den sie die dreißig Mark einlegt, die er ihr geschenkt hatte. Sie hat ihre Schuld bei ihrem Hauswirt auf die geforderte Art getilgt. Einmal wollte sie frei lieben, obwohl sie weiß, dass sie jetzt Prostituierte für ihr ganzes Leben geworden ist.

Für den jungen Mann war die Liebesszene nur ein »Rauschen und Drängen des eigenen Blutes« gewesen,[33] wie manches Mal zuvor. Er hatte die konventionelle Doppelmoral verinnerlicht: das »Recht des Mannes«, das Ziel der geschlechtlichen Vereinigung zu erreichen, während es »Pflicht des Weibes sei, den Weg dorthin zu verlegen«.[34] Bevor er den Brief seiner Liebhaberin erhält, hatte er überlegt, wie er sie loswerden könne. Ein »guter Kerl«, ein guter Bürger, würde sich verpflichtet fühlen, sie zu heiraten. Aber das kommt für den haltlosen und modernen Dilettanten nicht in Frage, er muss bindungslos bleiben. Er kann sie nur mit Geld loswerden, also auf gewöhnliche Art. Ihr Brief beweist, dass sie freier war als er, der nur den üblichen Konventionen folgen wollte. Ihr freier Entschluss, ihm und sich selbst die freie Liebe zu schenken, solle ihn gut machen, schreibt sie ihm. Er solle an ihrer beider reine Liebe denken und nicht mehr ganz haltlos sein, wissend, dass es das Gute gibt.[35] In der bürgerlichen Ordnung, die durch Besitz bestimmt ist, kann eine freie Liebe nicht dauern.

Mit den Grenzen, die die bürgerliche Ordnung der freien Liebe gesetzt hatte, beschäftigt sich auch Heinrichs Skizze, Freie Liebe, die er im September 1891 in Berlin aufzeichnete. Er hatte von Prostituierten erfahren, wie sehr diese die »Doppelmoral« verinnerlicht hatten. Eine Frau, »die einen außerehelichen geschlechtlichen Akt begangen hat«, meint eine der Prostituierten, befinde sich immer »im Bewusstsein einer Schuld«. Heinrich Mann schließt aus solchen Äußerungen: »Die Zahl der Frauen der Gegenwart also, mit denen man in wirklicher, d[as] h[eißt] geistig freier, Liebe leben könnte, ist minimal.«[36] Eine solche Frau hat er sich in Haltlos konstruiert, aber so, dass ein freies Liebesverhältnis gerade nicht entstehen kann, weil die junge Frau sich der Doppelmoral unterwirft.

Eine junge Frau, die mit ihrem Leben gegen die Konventionen der standesgemäßen Ehe protestiert, spielt eine zentrale Rolle in Heinrich Manns kurzer Erzählung Vor einer Photographie von 1892. Der Text ist aus der Perspektive eines konservativen Offiziers erzählt, der ein Mädchen aus der höheren Gesellschaft geliebt hat. Er hat nicht um sie geworben, weil weder er noch ihre Familie die Mittel für eine standesgemäße Ehe hatten. Er zieht sich zurück, lässt seine Geliebte frei. Diese bestraft seinen Rückzug, indem sie eine freie Liebesbeziehung mit seinem Freund eingeht und, als der sie heiraten will, darauf besteht, dass ihre Beziehung frei und illegitim bleibt. Sie wird damit zur eigentlich freien Figur der Erzählung. Indem sie ihren reservierten Abstand bewahrt, treibt sie ihren Liebhaber in den Tod. Er verletzt sich schwer durch einen vermeidbaren Sturz beim Springreiten. Auf seinem Sterbebett gibt er dem Erzähler das Bild seiner Freundin, die im Titel erwähnte Photographie. Nach seinem Tod verliert die junge Frau ihr gesellschaftliches Ansehen. Auch sie bezahlt einen hohen Preis für ihre freie Liebe.

Die genannten Texte enthalten Unwahrscheinlichkeiten, sie äußern den Wunsch nach einer Akzeptanz freier Frauen, die sich von den Beschränkungen der traditionellen Konventionen gelöst hatten. Heinrich veröffentlichte Haltlos nicht, wahrscheinlich, weil die männliche Hauptfigur zu viele autobiographische Züge trug. Den neunzehnjährigen Bruder muss Heinrichs Thema der freien Liebe sehr beschäftigt haben.

Im Frühjahr 1891 gibt Heinrich Mann seine Lehre in Dresden auf und tritt mit Erlaubnis des enttäuschten Vaters als Volontär in den S. Fischer Verlag in Berlin ein. Er scheint allerdings nicht viel für Fischer getan zu haben; lieber genoss er die Theater in Berlin und schreibt Theaterkritiken für Die Gegenwart, eine angesehene Zeitschrift.

Des Vaters Tod und Testament

Freiheit für ihre literarische Laufbahn erhalten beide Brüder erst mit dem Tod des Vaters am 13. Oktober 1891. Die Todesursache war eine Blutvergiftung, die Folge der Operation eines Blasenkrebses. Der literarisch interessierte Kaufmann hatte nicht verstehen können, dass sein Sohn Heinrich aus der Schule abging und damit auf das Universitätsstudium verzichtete, das dem Vater versagt war. Seine Anweisungen an den Testamentsvollstrecker reflektierten seine Bitternis über die Zerstörung der Pläne, die er für seine Familie gemacht hatte. Obwohl der Vater das Vorbild für Thomas’ Romanfigur Thomas Buddenbrook war, dürfen wir den Chef der Firma Mann nicht mit dem lebensmüden Thomas Buddenbrook vom Ende des Romans verwechseln. Die wirkliche Firma Mann war nicht wegen altmodischer Geschäftsführung im Absteigen. Zwar hatte sie Verluste erlitten, aber im Gegensatz zu Thomas Manns Romanfigur war der ältere Thomas Johann Heinrich Mann in die moderne Geldwirtschaft eingestiegen, hatte sich an einer Bank beteiligt und betrieb neben der Getreidefirma eine Reederei. Von seinen fünf Kindern sollte der Älteste studieren, in die Schicht der Bildungsbürger eintreten, die immer größere Bedeutung gewann. Der zweite Sohn, Thomas, sollte nach dem zehnten Schuljahr wie der Vater eine Kaufmannslehre beginnen, sich an der Leitung der Firma beteiligen und schließlich Nachfolger des Vaters werden. Aber die Söhne Heinrich und Thomas wollten die Firma Mann nicht fortsetzen. Darum bestimmte der Vater, der Testamentsvollstrecker solle die Firma binnen eines Jahres auflösen, was zu substanziellen Verlusten führte. Für die minderjährigen Kinder setzte der Vater zwei Vormünder ein. In den Anweisungen an diese machte der Senator die Einwirkung auf eine praktische Erziehung seiner Kinder zur Pflicht.

Soweit sie es können, ist den Neigungen meines ältesten Sohnes zu einer s[o] g[enannten] literarischen Tätigkeit entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Tätigkeit in dieser Richtung fehlen ihm m[eines] E[rachtens] die Vorbedingnisse; genügendes Studium und umfassende Kenntnisse. Der Hintergrund seiner Neigungen ist träumerisches Sichgehenlassen und Rücksichtslosigkeit gegen andere, vielleicht aus Mangel an Nachdenken. (1.II, 625 f.)

Thomas’ gutes Gemüt lobt der Vater in seinen Nachlass-Bestimmungen, aber er verweist auch ihn auf einen »praktischen Beruf« (1.II, 625 f.).[37] Thomas’ literarische Neigungen erwähnt er mit keinem Wort. Julia, die Mutter der Kinder, hatte Sympathie für Heinrichs literarische Versuche, sie hatte einmal »fabelhaft« unter ein Manuskript des Vierzehnjährigen geschrieben.[38] Der Senator wird erwartet haben, dass sie dazu neigte, Heinrichs Schriftsteller-Laufbahn zu unterstützen. Aus den Zinsen des Vermögens stand den Brüdern eine kleine Rente zu, die es ihnen ermöglichte, sich auf den Schriftstellerberuf vorzubereiten.

Von seinen sehr frühen Schreibversuchen hat Thomas Mann gelegentlich erzählt, aber erhalten ist nichts davon. In den einleitenden Worten zu dem Vortrag Meine Zeit von 1950 spricht er von einer unbestimmten »Schuld, Verschuldung, Schuldigkeit«, die er dort als sein religiöses Empfinden anspricht, das sich auf seine Arbeiten als »Gutmachung, Reinigung und Rechtfertigung« auswirke und zwar so, dass jeder neue Versuch für »den vorigen und alle vorigen« aufkommen müsse, um deren »Unzulänglichkeiten« gutzumachen. Die religiös verstandene Schuldigkeit verlange eine hohe Qualität in seinen Werken. Für »Schuldbegleichung« könne er nur auf die »souveräne Macht« der »Gnade« hoffen. Diese Macht ist eine nicht definierte religiöse Instanz, denn er nennt keinen Gott, der Gnade gewähren könnte.[39]

In seinem Fragment über das Religiöse von 1931 spricht Thomas Mann von seinem Vater, der sich lange Gebete an seinem Sterbelager verbeten habe. Dort heißt es: »Was aber ist denn das Religiöse? Der Gedanke an den Tod.« Solche Gedanken sind im Sinn von Schopenhauers Essay Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich[40] zu verstehen: als Befreiung am Ende des Lebens.[41] In einem ähnlichen Sinn war der Tod des Vaters ein Ende seiner Gewalt über seine Kinder und zugleich eine Befreiung für deren Lebensziele.

In den Dankesworten anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Lübeck in seinem Todesjahr 1955 spricht Thomas Mann über seinen Vater und äußert den Wunsch, dieser hätte seinen Weg noch »etwas weiter verfolgen und sehen können, dass ich mich eben doch, gegen alles Erwarten, auf meine Art als sein Sohn, sein echter erweisen konnte«. Das war, wie er gleich hinzufügt, ein unerfüllbarer Wunsch. »Wie hätte ich Buddenbrooks schreiben können, während er noch da war? Undenkbar!« (GW XI, 535 f.). Die Befreiung vom Vater war eine Notwendigkeit für Thomas Manns Werk. Aber dessen gesellschaftlicher Rang wirkte auf den Willen des Sohnes, diesem Werk Qualität zu geben.

Die Brüder kommen sich näher:
Der Frühlingssturm!

Bald nach dem Tod des Vaters befiel Heinrich eine akute Tuberkulose. Er brauchte Sanatoriumsaufenthalte, während derer er sein Ziel, Schriftsteller zu werden, weiter verfolgte. An seinem Interesse für Hermann Bahr und Paul Bourget ließ er jetzt auch den Bruder teilnehmen. Im Mai und Juni 1893 kam er nach Lübeck, weil die Mutter der Brüder ihren Haushalt in Lübeck aufgab, um in München ein neues Leben zu beginnen. Heinrich musste sein Zimmer räumen, das seine Bibliothek und Manuskripte enthielt. Über diese Zeit schreibt er Ewers, er habe wenig an seinem Roman gearbeitet, stattdessen die Ferien mit seinem Bruder verbummelt.[42]

Heinrich wird des Bruders Schwärmerei für Mitschüler als Pubertätserscheinung abgetan und sich bemüht haben, des Bruders heterosexuelles Begehren zu stärken. Wie seinem Freund Ewers dürfte Heinrich damals dem Bruder den Weg zu einer Prostituierten gezeigt haben. In einem Brief an Ewers hatte Heinrich dem Freund eine Pension in Lübeck empfohlen, deren Bewohnerin ihm »die ersten normalen sinnlichen Seligkeiten verschaffte«. Das Haus, dessen Adresse er ungenau in Erinnerung hat, habe ein »blankmessingnes Stiegengeländer«.[43] Dass Heinrich auch seinem Bruder Thomas das gleiche Haus beschrieb oder 1893 zeigte, geht daraus hervor, dass das Haus durch ein blitzendes »Geländer aus Messing« erkennbar wird, sowohl in der Empfehlung für Ewers als auch im Doktor Faustus. Leverkühn erwähnt es, als er Zeitblom von seinem Besuch eines Bordells in Leipzig berichtet (10.I, 208).

Thomas wollte im Juli mit der Mutter nach München ziehen, er musste das zehnte Schuljahr, die Unterprima, wiederholen, um die Berechtigung zum einjährigen freiwilligen Dienst in der kaiserlichen Armee zu erhalten.[44] Eine Schülerzeitschrift, die er mit Schulfreunden schrieb und redigierte, sollte das negative Urteil seiner Lehrer über ihn widerlegen. Das Blatt erhielt den Titel Der Frühlingssturm!. Als Herausgeber zeichnete Paul Thomas; Paul war ein zweiter Vorname Thomas Manns. Die Monatsschrift für Kunst und Literatur (so der Untertitel des Doppelhefts) gilt als die erste deutsche Zeitschrift, die von Jugendlichen für Jugendliche produziert wurde.[45] Sie entstand wohl großenteils in der Zeit, die Heinrich in Lübeck zubrachte.

Das Programm, von Thomas Mann in einem Leitartikel formuliert, klingt jugendlich-kämpferisch, progressiv. Wie ein Frühlingssturm wollen die Autoren in »Gehirnverstaubtheit«, »Ignoranz« und »bornierte[s] aufgeblasene[s] Philistertum« hineinfahren (14.I, 18). Von dem verlorenen ersten Heft aus dem Mai 1893 sind Bruchstücke in der Form von Zitaten aus Arthur Eloessers Biographie Thomas Mann. Sein Leben und sein Werk (Berlin, S. Fischer, 1925) bekannt (14.II, 11 f.). Aus dem ersten Heft ist nur ein vollständiger Text erhalten, ein erzählendes Gedicht, Zweimaliger Abschied, das zu einigen biographischen Vermutungen Anlass gibt, auf die wir noch kommen werden. Zwei Gedichte Thomas Manns lassen seinen Pessimismus erkennen: Das eine, Nacht, will in einer freien Verssprache mit der Ankündigung des Morgenrots trösten (3.I, 133). Das andere, Dichters Tod, nimmt den Tod als endgültiges Ende (3.I, 134). Die Erinnerungen eines Mitschülers aus dem Jahr 1925 nennen eine Besprechung von Ibsens Drama Baumeister Solness und zitieren nur einen Satz daraus: Der Schüler Thomas Mann hat das »robuste Gewissen«, das Hilde Wangel, einer Figur in Ibsens Drama, eigentümlich ist, auf seine vernachlässigten Schul-Aufgaben bezogen (14.I, 19). Ibsens Drama war im Januar 1893 im Berliner Lessingtheater zum ersten Mal aufgeführt worden und im gleichen Jahr auf Deutsch erschienen (14.II, 18). Baumeister Solness kritisiert den rücksichtslosen Kapitalismus; das Stück weckt Zweifel am Fortschrittsgedanken und an Nietzsches humanistischem Glauben an eine Höherentwicklung des Menschen. Ibsen wirbt jedoch nicht für eine Rückkehr zur alten Metaphysik, wenn er den Individualismus der Moderne in Frage stellt, sondern will nur auf das Problematische der neuen Weltanschauung aufmerksam machen. Die neue Welt vertritt Hilde Wangel mit ihrem Glauben an Solness’ Größe, mit dem sie allerdings seinen Tod verursacht. Sie tritt dem Leser aber nicht als Mörderin, sondern als liebenswerte, junge, reizvolle Frau entgegen. Ein solches Spiel mit Wert-Ambivalenzen entsprach schon früh Thomas Manns modernem Wertepluralismus.

Das erhaltene Exemplar des Doppelheftes Der Frühlingssturm! für Juni und Juli 1893 enthält die Skizze Vision (2.I, 11–13), die Neuformung eines langen ungereimten Gedichtes Die Hand, das Heinrich 1892 in einer Sammlung Deutsche Lyrik von 1891 veröffentlicht hatte.[46] Eine Liebesgeschichte spricht sich in wechselnden Farben aus. Thomas Mann macht ein Prosagedicht aus den thematischen Anregungen in Heinrichs lyrischer Strophe. Farben, getroffen von den gespiegelten Strahlen der untergehenden Sonne, wecken eine vergangene unterdrückte erotische Leidenschaft als imaginierte Erinnerung eines erzählenden Ichs. Thomas Mann widmet seinen Text »Dem genialen Künstler Hermann Bahr«.

Wahrscheinlich gab es eine frühere Version von Vision unter dem Titel Farbenskizze, die Thomas der Lübecker Eisenbahnzeitung einreichte und mit einem witzigen Rat des Feuilleton-Redakteurs zurückerhielt: »Wenn sie öfters solche Einfälle haben, sollten Sie etwas dagegen tun«. Er hat die Anekdote in einer autobiographischen Vorlesung 1940 in Princeton (On Myself  ) erzählt mit der Bemerkung, er sei, als er noch zur Schule ging, mit der Wiener Schule Hermann Bahrs »in Berührung« gewesen (GW XIII, 132 f.). Dass sein Bruder ihn auf Bahr brachte und dass er einen Text Heinrichs bearbeitete, erwähnt Thomas Mann nicht.

Dass Thomas Mann schon 1893 Grundzüge von Nietzsches Perspektivismus kannte, beweist sein Aufsatz Heinrich Heine, »der Gute« in Der Frühlingssturm! Der junge Thomas Mann will die Größe des geliebten Dichters Heinrich Heine für übermoralisch erklären, indem er Dr. Konrad Scipio angreift, dessen langer Artikel im März und April 1893 in der Feuilleton-Beilage des Berliner Tageblatts erschienen war. Scipio war kein Pseudonym, vielmehr der wirkliche Name eines liberalen Pastors aus Stettin, von dem Thomas Mann nur dessen Artikel kannte. Scipio hob Heines bürgerliche Seiten hervor, um ihn gegen antisemitische Angriffe zu verteidigen. Heine habe Luther positiv dargestellt und sei in einem allgemein religiösen, nicht strikt konfessionellen Sinn »durch und durch Protestant« gewesen. Er habe Deutschland kritisch geliebt, so dass ihm Patriotismus zugebilligt werden konnte. Zwar missbilligt Scipio Heines lockeres Leben; aber er habe es wenigstens nicht scheinheilig verborgen.[47] Der junge Thomas Mann weiß es besser: Der Dichter passt nicht in eindeutige Rollen. »Heine […] bewunderte Luther, trotzdem er keinZur Genealogie der Moral