Anna Schröder, Tobias Jakubetz,
Iolana Paedelt, Nadine Y. Kunz
und Wolfgang Rauh

 

Verborgene Wesen V

 

 

KryptoFiction

 

 

 

Twilight-Line Medien GbR
Obertor 4
98634 Wasungen
Deutschland

 

www.twilightline.com
www.kryptozoologie.net

 

1. Auflage, 2019
ISBN: 978-3-96689-006-9
eBook-Edition

 

© 2019 Twilight-Line Medien GbR
Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

 

Öffne deine Augen

Iolana Paedelt

 

Die Jahrhundertsturmflut

Anna Schröder

 

Totes Firmament

Wolfgang Rauh

 

Das Gewächshaus

Tobias Jakubetz

 

Sahne, Kekse und der letzte Menhir

Nadine Y. Kunz

 

 

Öffne deine Augen

Iolana Paedelt

 

Die Welt durch die Augen eines Kindes ist anders. Eine weise Frau meinte mal, dass man die Wahrheit nur durch genau jene Augen erfassen und sehen kann. Denn wahrscheinlich ist das der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen - je älter wir werden, umso mehr verlieren wir die Fähigkeit hinzusehen. Und dadurch, dass wir nicht mehr hinsehen, verlernen wir zu Staunen und ignorieren die Wahrheit. Die Aussage, etwas sei nicht da, weil man es ja nicht sehen kann, beziehungsweise, weil man es selbst noch nie gesehen hat, erschien mir immer besonders ignorant. Ignoranz ist die größte Tragödie der Menschheit. Verliere niemals dein Staunen. Und verlerne niemals hinzusehen.“

Die Worte seiner Großmutter hatten sich plötzlich in Tonys Kopf gebahnt und selbst nach all den Jahren konnte er sich haargenau an jedes erinnern. Er und sein Freund Artur marschierten stramm den schmalen Trampelpfad entlang.

„Ich kann immer noch nicht verstehen, warum er sich noch nicht gemeldet hat.“ Artur lief hinter Tony und schüttelte besorgt seinen Kopf.

„Wird schon nichts schlimmes sein…“, entgegnete Tony, als er sich seinen Weg durch das Dickicht bahnte.

Moos bewucherte den gesamten Pfad nur ab und zu, an vereinzelten Stellen, dort wo George stärker aufgetreten sein musste, waren Stücke abgerissen und bewegt worden.

„Ich weiß nicht. Ist irgendwie nicht Georges Art.“

Tony zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat er sich einfach verlaufen. Ich meine du kennst den. High allein im Wald campen … Wetten wir finden den 5 Meter vom Zelt entfernt und total durch den Wind.“

„Wär nichts Neues“, sagte Artur lachend, als er sich an den Campingurlaub im letzten Sommer erinnerte. George war zwei Tage irgendwo im Wald verschwunden nachdem er sich nachts aus dem Zelt geschlichen hatte. Ein paar Tage später kam er wieder und hatte den endgültigen Sprung in der Schüssel.

„Meinte er nicht, dass er eine Nixe gesehen hat?“, fragte Artur, dieses Mal laut lachend.

Tony brach in Lachen aus. „Der Klassiker. So kennen wir ihn. Das machen Drogen aus einem.“

Die zwei Freunde stolperten zusammen weiter, für einen Moment schweigend. Am Wegesrand sammelte sich in kleinen Haufen das Laub, es war Anfang Herbst und die Bäume begannen der Vergangenheit auf Wiedersehen zu sagen und sie hinter, beziehungsweise unter sich zu lassen.

„Wenigstens wissen wir wo er hingegangen ist…“, murmelte Artur mehr zu sich selbst als zu Tony und brach somit das Schweigen. Sein blondes Haar war vom Ostwind zerzaust worden und seine Augen erinnerten an die grüne Farbe der umher stehenden Tannen.

Tony sagte nichts. Gedanklich hing er immer noch bei den Worten seiner Großmutter. Aus welchem Grund hatten sie sich einen Weg aus seinem Gedächtnis in sein Unterbewusstsein gebahnt? War es Intuition?

Tony verwarf den Gedanken wieder.

George war nichts passiert. Immerhin war das nur ein x-beliebiger Wald. Was sollte hier schon auf sie lauern?

„Ey, müssen wir hier nicht links?“ Tony wurde aus seinen Gedanken gerissen und blieb stehen. Er war bereits ein paar Meter weitergelaufen und drehte sich zurück zu seinem Freund, welcher an einer kleinen Pfadgabelung stand und ihn fragend anblickte. Tony strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Verlegen nickte er und trottete zurück. Jetzt war Artur derjenige, welcher den Weg leitete.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Artur. Eine Spur Besorgnis lag in seiner Stimme.

„Ja, warum?“

„Naja, normalerweise würdest du die Abzweigung nicht verpassen…“ Arturs Stimme war so leise, dass Tony ihn nicht verstehen konnte.

„Was? Dreh dich mal in meine Richtung.“ Tony musste lachen.

„Ich hab gesagt“, Artur drehte seinen Kopf, „normalerweise würdest du die Abzweigung nicht verpassen!“

Tony nickte. „Wohl wahr… Ja, keine Ahnung, ich denk gerade nach.“

„Worüber?“

Tony zuckte mit den Schultern, was Artur nicht sehen konnte, da sie beide weiterliefen. „Nichts Besonderes.“

Artur verdrehte die Augen, was dieses Mal Tony nicht sehen konnte. „Muss ich dir alles aus der Nase ziehen?“

„Ne, passt schon.“ Tony blickte auf den Hinterkopf seines Freundes, welcher mit jedem Schritt wippte. „Wenn es was Wichtiges wäre, würde ich es dir mitteilen“, fügte er hinzu.

„Besser ist es“, entgegnete Artur lachend.

Schweigen.

„Sag mal hast du das mit dem Bauern mitbekommen?“, Tony brach dieses Mal das Schweigen.

„Hm, klar wer nicht, der ganze Ort redet davon.“

„50 Kühe und der Bauer selbst zerfleischt und gefressen“, murmelte Tony.

„Schon krass. Kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass das ein Wolf gewesen sein soll.“

„Naja, wenn dann schon ein Rudel.“

„Oh-oh, pass auf, Tony. Dein ewiger Besserwisser kommt raus…“, warnte Artur mit gestelltem Entsetzen.

Tony lachte bevor er fortfuhr. „Sag mal, kennt deine Mutter nicht die Frau?“, Tony meinte sich plötzlich daran zu erinnern, dass sein Freund sowas mal erwähnt hätte.

Artur nickte. „Ja, ganz grausame Geschichte. Die arme Frau Meyer wird morgens wach, blickt aufs Feld und sieht den blutigen und zerfleischten Körper ihres Mannes. Angeblich soll das Blut in der morgendlichen Kälte noch gedampft haben.“

„Ja klar, genau.“

„Ja. Ich würde dich bei sowas nicht anlügen. Meine Mutter meinte irgendwie, er hätte mehrere große Schnittwunden gehabt, so als hätte etwas mit Klauen ihn angegriffen.“

„Und die Kühe?“, fragte Tony, plötzlich doch gespannt.

„Ein paar wurden zerfleischt aufgefunden, mit den gleichen Schnitten und der Rest war wie vom Erdboden verschluckt.“

„Hm“, sagte Tony nachdenklich. „Vielleicht doch kein Wolfsrudel, sondern ein Werwolf.“

Artur schnaubte verächtlich. „Klar, das ist die logische Schlussfolgerung.“

„Was wäre denn die logische Schlussfolgerung?“, entgegnete Tony schmunzelnd.

Artur zuckte mit den Schultern. „Auf jeden Fall kein Werwolf.“ Er fuhr fort. „Haben wir noch was zu trinken?“

„Nope, hast du dir vorhin gegönnt, aber gleich müsste doch der Fluss kommen.“

„Mhm, lecker. Ja, so ein wenig Bakterienwasser.“ Artur schien nicht besonders begeistert.

„Ist auf jeden Fall nicht schlimmer als mit deiner Freundin rumzumachen.“

Fast gleichzeitig fingen beide an zu kichern.

 

Nach einer kurzen Zeit erreichten beide eine Lichtung. Der Trampelpfad ergoss sich in eine weite Fläche. Das Gras war erstaunlich gelblich und vertrocknet, obwohl es in der letzten Zeit keine Dürren oder ähnliches gegeben hatte. Nicht eine einzige Wildblume zierte das Meer aus Gras und die umher stehenden Bäume wirkten kahler als die anderen. Kränklich und schwach viel mehr. All ihre Blätter waren braun und die sonst so strahlenden Herbstfarben verloschen und ausradiert. So hatten die beiden Kindheitsfreunde den Ort nicht in Erinnerung. Neben der Lichtung strömte laut ein kleiner Fluss. Tony sah Artur an und nickte in die Richtung des Flusses. „Trink für mich mit“, fügte er spaßend dazu.

„Sehr lustig“, brummte Artur, während er sich ans Ufer kniete und mit der Hand einen Schluck Wasser abschöpfte. Es war nicht die Art von Erlösung, die er sich erhofft hatte - im Gegenteil. Das Wasser brannte in seiner Kehle und es fühlte sich an, als würde sein Hals brennen. Plötzlich, als das Wasser seine Lippen berührte, sah er etwas vor seinem inneren Auge. Er sah eine mächtige schlangenartige Kreatur. Sie besaß lange, spitze Krallen und grässliche Zähne. Artur hörte Schreie, es waren Georges. Blut. Schreie. George!

So schnell wie diese Bilder kamen, verschwanden sie auch wieder. Wahrscheinlich waren sie nichts mehr als dumme, bedeutungslose Gedanken.

Voller Schmerz stand er auf und stieß ein Geräusch des Ekels aus.

„Was ist denn?“, fragte Tony. „Leicht überdramatisiert, findest du nicht.“

„Alter, du kannst dir nicht vorstellen wie sehr das brennt“, würgte Artur unter Schmerzen hervor.

„Wasser brennt doch nicht.“

„Ach ne, wirklich? Das schon! So als wär da Gift drin…“ Tatsächlich konnte Artur spüren, wie dieses „Gift“ über seinen Hals langsam tiefer in ihn einzudringen schien, so als würde sein Körper es nur dankend annehmen. Er dachte an die Bilder. Konnte es eine Halluzination gewesen sein?

Artur bekam Panik, ein Gefühl der Gewissheit breitete sich in ihm aus. Diese Vision, die Bilder, irgendwas sagte ihm sie wären real. Er wusste es einfach. „Wir sollten umdrehen.“

„Ach Quatsch, jetzt halt mal deine Pferde. Wir können George nicht im Stich lassen“, sagte Tony, versuchend seinen Freund zu beruhigen.

„Klar, WIR lassen IHN im Stich. Ist klar. Ich hab echt keinen Bock draufzugehen. Wer weiß was in diesem Wasser drin ist.“

„Komm mal runter. Was soll denn da drin sein. George würde für uns dasselbe tun.“ Tony ging einen Schritt auf seinen Freund zu, seine Hände leicht erhoben.

„Ja? Würde er das? Ich bin mir ehrlich gesagt nicht so sicher und ich hab diese ganze Chose langsam satt. Immer und immer wieder müssen wir ihm helfen und kriegen wir irgendwas zurück? Nein.“ Artur machte eine Pause. „Ich bin es einfach leid. Wenn er meint, er muss sowas abziehen, ok. Ist seine Entscheidung. Wir können nicht immer für seine Fehler bezahlen.“

„Wow, kannst du mal runterkommen bitte? Für seine Fehler bezahlen? Du tust ja fast so, als würde jemand versuchen uns umzubringen…“

Artur sah seinen Freund entgeistert an. „Etwas ist hier verdammt faul und ich hab keinen Bock so zu enden wie Herr Meyer! Du… Du kannst mir nicht sagen du fühlst das nicht. Hier ist nichts als der Tod. Im Wasser, in den Bäumen, im Gras. Stille. Krankheit, Tod und Schmerz liegt in der Luft und wenn du zu ignorant bist, um das zu sehen, viel Spaß!“ Artur hatte sich mittlerweile in Rage geredet. „Wenn George hier war, wird von ihm nichts mehr übrig sein.“

„Boah, drehst du jetzt vollkommen ab?“

„Öffne doch einfach deine Augen, Tony! Bei jedem würden die Alarmglocken jetzt angehen!“

„Alles klar, nur weil Wasser in deiner Kehle brennt? Bist du sicher, dass es nicht deinen Verstand angegriffen hat?“ Tony wurde langsam wütend. Was zur Hölle war nur plötzlich in seinen alten Freund gefahren.

Artur sah ihn fassungslos an.

„Bitte“, sagte Tony. „Wenn du keine Lust mehr hast, kannst du gerne zurückgehen. Ich werde auf jeden Fall George finden.“

„Wie kann man nur so blind sein.“

„Ich halte wenigstens mein Wort.“

 

Wütend stolperte Artur den Pfad zurück, in Richtung des Ortes. Warum zur Hölle verschloss Tony sich vor der Wahrheit. Glaubte Tony ihm etwa nicht? Artur würde ihn niemals anlügen. Ganz besonders nicht nach dem was er gesehen hatte.

Diese grässlichen Bilder ließen ihn nicht los. Artur merkte gar nicht wie er schneller wurde und schließlich durch den Wald hastete, den Rucksack auf seinen Schultern nahm er nicht mehr wahr. Er musste einfach nur weg. Er wollte einfach nur weg.

War er gerade gestolpert?

Bevor er es wusste, lag er im staubigen Boden. Seine Glieder schmerzten mehr denn je. Er konnte nicht atmen, sich nicht bewegen. Er war wie gefangen in sich selbst. Es fühlte sich an als würde alle Last der Welt auf ihn hinabdrücken. Immer wieder hörte er die Schreie. Artur war zu schwach, um gegen alles anzukämpfen. Sein Blick fiel hinauf zum Himmel. Plötzlich hörte er es. Ein Züngeln und eine starke Windböe. Dann sah er es. In seinem Todeskampf erinnerte Artur sich an die Nibelungensage. Er hatte sich schon immer vor dem dazugehörigen Lindwurm gefürchtet. Doch trotz all dem hätte er niemals gedacht, jemals jenen sich über den Himmel schlängeln zu sehen. Fast so, wie eine riesige Schlange sich durch das Wasser schlängelt.

 

Tony schnaufte verächtlich, mittlerweile war die Sonne kurzzeitig hinter den grauen Wolken hervorgebrochen und ihr schwaches Licht ließ den Verfall allen Lebens noch mehr zur Geltung kommen. Tony hatte keine Lust mehr seine Energie damit zu verschwenden sich über seinen Freund aufzuregen, stattdessen versuchte er sich darauf zu konzentrieren George zu finden. Artur hatte ein weiteres Mal seine langjährige These bestätigt: Man kann sich auf niemanden verlassen. Niemals. Das war eine der wenigen Sachen, die er von seinem nun mittlerweile toten Vater gelernt hatte. Tony bog links ab und schob die Zweige einer im Weg stehenden Tanne aus seinem Gesicht. Dann fiel sein Blick auf eine weitere Lichtung, dort wo Artur, George und er so viele Sommernächte verbracht hatten. Ein Schmunzeln lag auf seinen Lippen, als ihm diese Erinnerungen wie entflohene Vögel ins Gedächtnis flogen.

Er lief ein paar Schritte. Erst dann fiel ihm auf, dass die Lichtung noch schlimmer zugerichtet war als die vorherige. Das Gras war an manchen Stellen weggeätzt, die Bäume waren kahl und besaßen ab und zu einen bereits schimmelnden Stamm. Verwundert sah er sich um, erst jetzt entdeckte er Georges rotes Zelt. Es stand hinter einem dicken, vergammelten Baumstamm und war so aus Tonys Perspektive nicht leicht erkennbar.

„George?“, rief Tony aus, als er begann langsam auf das Zelt zuzugehen.

Keine Antwort.

„George?!“

Immer noch keine Antwort.

Je näher Tony kam, desto suspekter erschien ihm die Situation.

Mittlerweile hatte er das Zelt erreicht und musterte es, die zu ihm gerichtete Seite erschien intakt und normal - das änderte sich jedoch, als er zum Eingang ging. Die rechte Seite des Zeltes war in Stücke gerissen. Fast hätte Tony es nicht wahrgenommen, weil es dem Rot des Zeltes glich, doch Blut klebte nicht nur an den Überresten des Zelts, sondern auch im Innenraum. Zitternd beugte Tony sich runter. Ein länglicher Umriss zeichnete sich unter dem blauen Schlafsack ab. Tony zögerte, wollte er wirklich wissen, was sich darunter befand? Etwas Schreckliches war hier vorgefallen und Tony war sich nicht sicher, ob er davon ein Teil werden wollte. Andererseits war es für diese Überlegung ein wenig zu spät.

Zögernd sah er sich um und griff nach einem dünnen Ast, der hinter seinem rechten Fuß lag. Vorsichtig hob er damit den Schlafsack an und schob ihn zur Seite.

Tony stockte der Atem. Für einen Moment erschien es ihm fast, als wäre die Zeit eingefroren, oder stehen geblieben.

Unter dem Schlafsack, in einer frischen Blutpfütze, lag ein abgetrennter Arm. Er muss kurz unter der Schulter abgetrennt worden sein. Das dunkelrote Fleisch war zerfetzt, fast so, als wäre es abgebissen oder abgerissen worden.

Entsetzt wich Tony zurück, als sein Blick auf die immer noch am Handgelenk befindliche Armbanduhr fiel. Es war Georges.

Tony wollte nach ihm rufen, doch es stockte ihm der Atem. Schnell griff er nach seinem Handy. Kein Netz. So muss es sein.

Er musste ihn finden. Er musste George finden, selbst wenn er bereits tot wäre. Tony hatte es ihm versprochen.

„George?“, rief er leise. Es war mehr ein Flüstern und dennoch kam es ihm so laut vor.

Tony schloss seine Augen, sich sehnend nach einem Moment Klarheit. Einer Eingebung, wie er jetzt weiter machen sollte. Umkehren, um Hilfe zu holen war nicht drin, wer weiß wie lange George noch Zeit hatte.

Tony öffnete seine Augen wieder, da fiel sein Blick auf eine rote Spur. Eine Blutspur. Intuitiv und ohne weiter nachzudenken begann er der Spur zu folgen. Sie führte ihn immer tiefer in den Wald hinein und je weiter er ging, desto größer wurde die Zerstörung. Plötzlich verstand Tony was Artur meinte. Er konnte den Tod fühlen. Jetzt mehr denn je.

Umkehren, so wie Artur, würde er jedoch nicht.

Tony wusste nicht, wie lange er dem Weg gefolgt war. Minuten fühlten sich an wie Sekunden und Sekunden wie eine einzige Ewigkeit. Er wusste nicht wo er war, oder wie spät es war.

Tony stand vor einer Höhle, die Spur führte hinein. Tony wusste gar nicht, dass es hier in der Umgebung Höhlen gab. Sollte er reingehen?

Vereinzelnd fielen Sonnenstrahlen durch Risse in der Decke und dennoch dauerte es einen Moment, bis seine Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Dann sah er es.

Georges abgetrennter Oberkörper lag in der Mitte des Raumes. Seine braunen Augen waren schmerzverzerrt aufgerissen und sein Mund weit geöffnet. Tony konnte plötzlich seine Schreie hören. Er unterdrückte einen Würger.

Doch hinter George war noch etwas. Etwas Größeres. Tony schritt zögernd an Georges Körper vorbei und als er näher herantrat, erkannte er den Körper einer riesigen schlangenartigen Kreatur. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte Tony fast gedacht, er würde einem schlafenden Drachen gegenüberstehen.

Der Unterkiefer des Wurms war geriffelt und die spitze Zunge schnellte regelmäßig zwischen den grässlich spitzen Zähnen hervor. Schuppen und etwas, das stacheligem Gefieder glich, bedeckte den langen und großen Körper. Das Wesen besaß fünf Beinpaare, die nicht nur unterschiedlich groß waren, sondern auch noch mit scharfen und langen Krallen bestückt. Der Schwanz der Kreatur endete in etwas, das einem Schweif ähnelte und die Färbung war erdig, grün-bräunlich und dunkel. Äußerlich erinnerte es an einen überdimensionalen Waran.

Tony war wie vom Donner gerührt. Versteinert stand er vor dem Wesen und sah es an. War es das, was seine Großmutter meinte? Gab es dieses Wesen wirklich? Ja, es musste so sein. Tony war fasziniert. Anstatt die Gefahr zu erkennen, konnte er nicht widerstehen. Er streckte seinen Arm vorsichtig aus und seine Fingerspitzen berührten die Oberfläche des Drachens. Die Haut glich Stein. Kalt, solide und beinahe leblos.

Genau als seine Finger die Oberfläche berührten, öffnete der Wurm seine glühenden, gelben Augen und Tony blickte direkt in diese hinein. Sie glichen brennenden Sonnen. Tony hatte nie zuvor etwas, das der Schönheit des Wesens glich, erblickt. Für einen Moment war es für Tony so, als wäre er in ein schwarzes Loch gefallen, in den Augen des Wesens spiegelten sich die Geburt und der Tod des gesamten Universums.

All dies geschah in einem kurzen Moment, denn als Tony ausatmete begann die Welt sich wieder zu drehen und ihm wurde bewusst, in welcher Gefahr er sich befand.

Tony stolperte zurück, sein gesamter Körper zitterte vor Angst. Doch bevor er überhaupt den Ausgang der Höhle erreicht hatte, fühlte er den unglaublichen Schmerz der scharfen und spitzen Zähne des Drachens, die sich in das Fleisch seiner Wade stachen. Mit einem starken Biss riss der Drache wortwörtlich Tonys Bein aus. Er konnte seine Knochen brechen hören und jeden Muskel und jede Faser, die voneinander getrennt wurden. Tony fühlte warmes Blut sein verbliebenes Bein hinabströmen. Er fiel zu Boden. Tony wollte schreien, er wollte kämpfen, doch er konnte nicht. Er war wie betäubt. Für eine solche Wahrheit lohnte es sich zu sterben. Und so ergab er sich, als er spürte, wie die Zähne seinen Unterleib durchbohrten.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Die Jahrhundertsturmflut

Anna Schröder