Die Zukunft gehört den Mutigen.

Die teils umfangreichen Quellen- und Fußnotenapparate sowie weiterführenden Hyperlinks der in diesem Buch veröffentlichten Beiträge entnehmen Sie bitte den unter jeweils gleichem Titel veröffentlichten Online-Versionen im Rubikon:

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Inhalt

VORWORT

WAHRNEHMUNG

Kapitel 1

Otto Teischel

Die kranke Gesellschaft

Ulrike Orso

Kapitalismus im Kopf

Kerstin Chavent

Mit dem Drachen leben

Shabi Alonso

Der Rationalitätswahn

Felix Feistel

Mut zur Utopie

Elisa Gratias

Friedensbewegung 2.0

Margit Geilenbrügge

Teilen wir unsere Vision!

SELBSTERKENNTNIS

Kapitel 2

Franz Ruppert

Wirklicher Frieden setzt Heilung voraus

Kerstin Chavent

Raus aus der Opferrolle!

Elisa Gratias

Trotz alledem!

Hans-Joachim Maaz

Heraus aus der Liebesfalle!

Christiane Borowy

Der alltägliche Krieg in unseren Köpfen

Kerstin Chavent

Der innere General

Roland Rottenfußer

Plädoyer für das Mitgefühl

WAHRHEIT

Kapitel 3

Peter Frey

Das Wesen der Freiheit

Kerstin Chavent

Mut zur eigenen Wahrheit

Jens Lehrich

Die Magie des Lebens

Roland Rottenfußer

Ohne Ziel

Jens Wernicke

Ist die Welt überhaupt noch zu retten?

Katrin McClean

Nur Mut!

VERBUNDENHEIT

Kapitel 4

Birgit Assel

Der Frieden sind wir

Margit Geilenbrügge

Wir sind Natur

Isabelle Krötsch

Die stille Revolution der Liebe

Elisa Gratias

Mehr Liebe bitte!

Bernhard Trautvetter

Gemeinsam für eine bessere Welt

WANDEL

Kapitel 5

Margit Geilenbrügge

Raus aus der Machtlosigkeit!

Gerald Hüther

Zärtliche Revolution

Roland Rottenfußer

Einfachheit ist Widerstand

Dirk C. Fleck

Tausche Leid gegen Glück

Margit Geilenbrügge

Das Unwahrscheinliche wahrscheinlicher machen!

Isabelle Krötsch

Heilsame Verwandlung

ZUKUNFT

Kapitel 6

Kerstin Chavent

Der Dimensionssprung

Hans Boës

Alles fühlt mit

Christiane Borowy

Das Leben ist schön

Isabelle Krötsch

Die neue Wirklichkeit

Roland Rottenfußer

Engagierte Spiritualität

Jens Wernicke

Regen

ANHANG

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

VORWORT

Unsere Welt befindet sich in einem Prozess tiefgreifender Veränderungen. Eine ganze Zivilisation taumelt ihrem Ende entgegen. Noch scheint das Trennende, Ausbeutende und Zerstörerische die Oberhand zu behalten. Noch mag es so aussehen, als hätten wir keine Überlebenschance gegenüber einer Maschinerie, die jedes Leben missachtet. In allen Bereichen wird versucht, das Lebendige zu manipulieren, zu kontrollieren, zu zerstören oder zu ersetzen. Die Spuren, die die Gier nach Macht und Geld hinterlassen, sind heute derart spürbar, dass auch bei den Optimistischsten die Hoffnung auf eine bessere Welt schwindet.

Ob in den Mainstream- oder den Enthüllungsplattformen der alternativen Medien – wir werden mit der Tatsache konfrontiert, dass es den Menschen vermutlich nicht mehr lange geben wird. Doch parallel zu den schlechten Nachrichten bildet sich ein neues Bewusstsein, das sich nicht in die Tiefe ziehen lässt, sondern das den zerstörerischen Kräften entgegen wirkt. Dieses Bewusstsein achtet das Lebendige und führt die Menschen wieder zusammen. In seinem Zentrum steht nicht die Angst, sondern die Liebe.

Es erfordert Mut, in Zeiten der allgemeinen Verwirrung und Verunsicherung, wie in Platons Gleichnis aus dem Dunkel der Höhle herauszutreten, um sich dem Licht der Sonne zuzuwenden. Jens Wernicke, der Herausgeber des Internetmagazins Rubikon hatte Mut, als er Anfang 2018 die Redaktion Aufwind ins Leben rief. Er wagte es, in seinem Online-Magazin mit hauptsächlich politischen Themen im Fokus ein Forum für psychologische, philosophische und spirituelle Themen zu schaffen. Also mussten wir, die Verantwortlichen dieser Redaktion, den Mut entwickeln und nach echten Alternativen und Visionen suchen.

Wir wollen weder Realitäten schönfärben noch uns in künstliche Paradiese flüchten. Wir wollen mithelfen, unsere Welt neu zu gestalten. Um Lösungsansätze zu finden, können wir nicht darauf warten, dass sich alles schon irgendwie wieder einrenken wird, wenn wir nur optimistisch genug sind und ökologisch angebauten Tee trinken. In der Epoche eines grundsätzlichen Wandels zu leben ist kein Sonntagsspaziergang. Denn um die gigantischen Probleme zu lösen, mit denen wir konfrontiert sind, gibt es nur eine Möglichkeit: mitten hineinzugehen. Lag nicht der Ausgang aus Dantes Hölle genau in ihrer Mitte? Wir müssen in den dunklen Wald hineintreten, die tiefen Abgründe der Zerstörung ausleuchten. Wir müssen uns der ohnmächtigen Wut und der existenziellen Angst stellen, die die aktuelle Situation bei vielen von uns auslöst.

Mit unseren Texten versuchen wir, noch einen Schritt weiter zu gehen, um Wege aufzuzeigen, die aus dem dunklen Tunnel herausführen. Für jede Art von Heilung ist es notwendig, sich zunächst mit dem Unbequemen, Unangenehmen, Angstmachenden zu konfrontieren. Schließlich können wir nichts hinter uns lassen, dessen wir uns nicht bewusst sind und das uns unterschwellig beeinflusst. Doch wir wollen nicht in Empörung und Ohnmacht stecken bleiben und Angst und Verbitterung zu unseren Wegweisern machen. Denn genau diese vermeintliche Machtlosigkeit ist der Treibstoff für die Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrategien der jetzigen Welt. So haben wir beschlossen, unsere Wut in Mut zu verwandeln, um uns unserer selbst wieder zu ermächtigen.

Wer die Welt verändern will, muss zunächst seine eigene Haltung ändern. Das lehrten neben Gandhi alle großen politischen und spirituellen Anführer. Diese Erkenntnis ist das Herz der Mut-Texte. Die Überwindung der Ohnmacht setzt voraus, dass wir uns in unser eigenes Dickicht hineinwagen. Hier in unserem Inneren finden wir die Kraft, mit der wir das äußere Chaos überwinden können. Das ist leichter gesagt als getan. Denn es ist viel bequemer, den Grund für seine Probleme im Außen zu suchen und entsprechende Lösungen einzukaufen, als sich in seinem Inneren auf die Suche zu machen.

Mit diesem Ziel im Blick hat sich die Redaktion Aufwind auf den Weg gemacht. Wir schreiben persönlich, aus eigener Erfahrung, und setzen immer wieder einen Fuß ins Leere in dem Vertrauen, dass die Luft trägt. Als Subjekte unserer Texte streben wir keine Form von Objektivität oder Neutralität an. Denn das würde bedeuten, dass wir uns über unsere Gefühle erheben. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen uns berühren lassen und konfrontieren uns immer wieder bewusst mit unserer eigenen Schwäche und Verletzlichkeit. Wir wollen uns nicht von unserer Menschlichkeit abtrennen, so wie wir es in unserer Geschichte immer wieder getan haben. Wir wollen Mensch bleiben. Und so ist es eines der Hauptanliegen unserer Redaktion, Kopf und Herz miteinander zu verbinden, denn nur dieses innere Umarmen kann verhindern, dass wir uns hinter Anordnungen und fremden Beschlüssen verstecken.

Wer so unterwegs ist, erlebt immer wieder Situationen, in denen er nicht weiter weiß. Doch in dem Augenblick, in dem die eigene Begrenztheit ihren Höhepunkt erreicht und wir uns ganz klein fühlen, geschieht das Wunder: Eine Tür geht dort auf, wo wir es nicht erwartet hätten. Und so reicht Mut allein beim Vorankommen nicht aus. Wir brauchen auch die Erfahrung unserer eigenen Schwäche. Aus ihr erwächst die Demut, die uns das Haupt beugen lässt, wenn es daran geht, einen dunklen Tunnel zu durchqueren. Nur so können wir uns von unseren Allmachtsphantasien befreien, deren zerstörerische Blutspur sich tief in unseren Planeten eingebrannt hat.

Auf den Tunnel dann folgt ein freies Feld: Hier können wir alternative Sichtweisen und Utopien entwickeln und versuchen, andere damit zu inspirieren. Potenziell alle Lebensbereiche werden angesprochen. Zusammen bilden die Texte einen heterogenen Strom der Transformation, in dem wir gleichzeitig einzigartig und vereint sind. In diesem Bewusstsein sind wir zugleich Sterbebegleiter einer alten Welt und Geburtshelfer einer neuen. Unsere Hoffnung wird zu einer Vision, in der das Körperliche und das Geistige Hand in Hand gehen und das Trennende überwunden wird.

Vor diesem Hintergrund haben wir eine Reihe von Artikeln ausgewählt, die Möglichkeiten aufzeigen, das Steuer in die Hand zu nehmen und das Schiff in eine andere Richtung zu lenken. Es gibt viele Gründe, zuversichtlich zu sein! Mit der Öffnung auch für spirituelle Themen und die feinstoffliche Dimension des Lebens beginnen wir, das großartige schöpferische Potenzial zu erahnen, das in uns steckt. Wir sind nicht mehr Erfüllungsgehilfen einer uns aufgestülpten Ideologie, die sich von der Spaltung und Angst ernährt, die sie überall sät. Wir nehmen uns unsere Würde zurück. Indem wir uns über uns selbst bewusst werden, setzen wir eine kollektive Transformation in Gang und legen damit den Grundstein für eine Gesellschaft, in der politisches Engagement und Geistesschulung zusammengehören. So kann ohne Gewalt ein heilsames, friedliches und liebevolles Miteinander entstehen.

Kerstin Chavent, Elisa Gratias und Isabelle Krötsch
München, Montpellier und Mallorca im Herbst 2019

WAHRNEHMUNG

Kapitel 1

Otto Teischel

Die kranke Gesellschaft

Haben wir den Mut, uns selbst zu verändern, um die Welt zu verbessern?

Die unbewusste Dynamik entfremdeter, gewalttätiger Beziehungsverhältnisse verweist aus psychoanalytischer Perspektive auf deren existenzielle Herkunft. Eine unerträglich ohnmächtige Angst vor dem Nichts muss diese vermeintliche eigene Schwäche im Anderen – und in sich selbst – gewaltsam bekämpfen oder süchtig betäuben, um sich eine Illusion von Größe und Macht zu erhalten. Wollen wir dieser Dynamik in privaten Beziehungen, aber auch in großen gesellschaftlichen Konflikten, Einhalt gebieten, müssen wir sie zuerst in ihren tieferen Ursachen verstehen.

Angst als die existenzielle Grundbefindlichkeit des Menschen lässt unser Dasein unsicher, zerbrechlich und kostbar erscheinen. Weil das Leben tödlich endet und das jederzeit der Fall sein kann, sind wir ständig bedrohte Wesen, auf der Suche nach Schutz, Halt und Geborgenheit. Aus dieser Tatsache geht all unsere Kreativität hervor: Angst macht nachdenklich und lässt Bewusstsein entstehen, macht erfinderisch, um unsere Not zu lindern, und lässt uns zu Sehnsüchtigen werden, die sich mit Schönheit trösten.

Doch Angst steht auch am Anfang aller Verirrungen und Störungen unseres Seelenfriedens und unserer Klarheit: Sie kann uns in den Wahnsinn treiben, körperliche Beschwerden und Krankheiten aller Art verursachen, und sie ist der Antrieb hinter jeder Gewalt, jeder Sucht und jeder Verdrängung, die dann als Trauma wiederkehren.

Durch die in der Angst subjektiv erlebbare Todesnähe ist sie im Grunde auch das leitende Schlüsselsymptom jeder psychosomatischen Erkrankung, ja womöglich jeder Störung des inneren Gleichgewichts.

Sie mag uns ebenso veranlassen – sobald eine akute Attacke vorüber ist –, über die Bedeutung einer bestimmten angstauslösenden Situation nachzudenken, das heißt darüber, wie die Angst zu einer dramatischen existenziellen Erschütterung werden kann, die uns in einem verfehlten Leben zur Besinnung und Umkehr ruft und letztlich Kraft zum Handeln freisetzt.

Das ist die eigentliche, existenzielle Dimension der Angst und der Unruhe: sein Leben nicht gelebt zu haben, die unbewusste, dunkel zu erahnende Entfremdung vom Selbst, die zuerst nur irritiert. Bleibt sie jedoch unberücksichtigt, wird sie mit der Zeit immer gravierender und manifestiert sich als verstörendes, chronisches Symptom. Die Angst bleibt dem Menschen zeitlebens als Warnsignal und Frage, ob er sich im Einklang mit seinem Wesen und seinen ureigenen schöpferischen Möglichkeiten befindet.

Je bewusstloser die Angst den Einzelnen zurücklässt, je erschreckender und bedrohlicher sie ihm erscheint, desto klarer zeigt sie den Grad der Entfremdung von einem selbstbestimmten Leben an.

Schon die ersten überlieferten Erklärungsversuche der Welt und jener »Gottheiten«, die diese Welt hervorgebracht zu haben und ihre Geschicke zu lenken schienen, waren Versuche, diese Angst zu bannen. Die Menschen suchten nach Deutungen und Gründen für das Unbegreifliche. Aus der Quelle unserer Angst vor dem Nichts, des quälend erlebten Nichtwissens, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen, haben sich auch Philosophie und Religion, die Künste und alle Wissenschaften entwickelt.

Alle ernsthaften Überlegungen und Bemühungen des Menschen, Antworten zu finden und Erklärungen zu geben oder zumindest dem großen Rätsel des Seins ästhetischen Ausdruck zu verleihen – im Gegensatz zu den süchtigen Betäubungs- und Verdrängungsversuchen esoterischer Heilsversprechen – sind eigentlich Befreiungsversuche des Geistes. Sie entstammen unserer Sehnsucht nach einer ursprünglichen, verlorenen Geborgenheit, die bewusst wiederzuerlangen die wahre Größe des Menschen ausmacht und sein Wesen verwirklicht.

Im Verlauf dieses emanzipatorischen Prozesses gibt es eher Fragen als Antworten, kein endgültiges Wissen, sondern nur persönliche Gewissheit, die Freiheit des Glaubens statt sichtbarer Beweise und überprüfbarer Fakten. Doch diese existenzielle Unsicherheit erscheint dem ohnmächtigen Einzelnen unerträglich. Der vor Angst Verzweifelte verlangt nach sicherer Abgeschlossenheit, nach vermeintlicher Objektivität und Eindeutigkeit.

Ungewissheit ist unerträglich, die Angst so allgegenwärtig, dass der Verzweifelte sofort einer beruhigenden Erklärung, einer spannungslösenden Substanz oder eines kontrollierenden Verhaltens bedarf, um weiterleben zu können. Wenn diese psychisch wirkenden Mechanismen nicht helfen oder nicht verfügbar sind, übernimmt schließlich der Körper die Regie und lässt den Einzelnen krank werden, um die Psyche wenigstens auf diese Weise zu entlasten.

Freiheit als Bedrohung

So wie das Individuum psychosomatisch krank oder wahnsinnig werden kann, wenn es keinen Ausweg mehr sieht, kann auch ein Kollektiv – eine Gesellschaft, ein Volk, ein Kontinent, ja die Menschheit – manifeste Körperstörungen entwickeln oder psychotisch werden. Das beweist der Rassenwahn der Nazis ebenso wie der Terror verblendeter Fanatiker oder die Entwicklung der chronischen Erschöpfung zur Volkskrankheit in sinnentleerten Leistungsgesellschaften.

Fatalerweise verläuft auch diese Entwicklung meist schleichend und lange unbemerkt. So wie zum Beispiel die Arbeitssucht in einer Gesellschaft, die sich über diesen Wert definiert, kaum als problematisch auffällt, gibt es vor dem Ausbruch eines kollektiven Wahns oder globaler Verblendung – mögen wir dieser im Zeitalter des weltweit vorherrschenden Materialismus auch gefährlich nahe sein – noch viele Zwischenstufen. Diese können jeweils durchaus rational und differenziert erscheinen und tragen doch längst jenen ideologischen Keim in sich, der das Denken potenziell besetzt und süchtig entarten lässt. Und der führt schließlich dazu, sich selbst und andere zu unterdrücken, weil jede autonom und eigenverantwortlich sich ausdrückende Freiheit eines Einzelnen als bedrohlich für die Macht des Kollektivs erscheint.

Diese Zusammenhänge hat Friedrich Nietzsche auf überaus klare und treffende Weise analysiert. Am Beispiel der Ideologie des Christentums und anderer dogmatischer Erstarrungen – wissenschaftlicher, ästhetischer oder politischer Art –, deutet Nietzsche die psychische Not von Menschen, die sich als zutiefst ohnmächtig erleben, als deren Motiv, für eine vorhandene »Lehre« Partei zu ergreifen oder eine solche zu begründen.

Vom Standpunkt der Verfechter eines verbindlichen Dogmas werden alle Abweichler als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung erlebt. Freie Individuen, die als wirklich starke, unabhängige Menschen auftreten – und nur diese Haltung selbstgenügsamer Autonomie des Einzelnen ist eigentlich mit Nietzsches so missbrauchtem Begriff vom »Übermenschen« gemeint –, gilt es, als »feindlich« zu bekämpfen, um das Kollektiv vor ihnen zu schützen.

Gleichzeitig verleiht die Zugehörigkeit zur vermeintlichen »Wahrheit« der jeweiligen Ideologie den Ohnmächtigen Bedeutung und wertet sie auf.

Wie die Uniform gleicher Kleidung Angehörige eines Berufsstandes verbindet und erkennbare äußere Identität stiftet, verleiht die Doktrin einer Partei, die Überlieferung einer Religion, die Lehre eines Führers oder die Theorie einer Wissenschaft dem Denken eine Uniformität, auf die sich all jene berufen können, die außerhalb ihrer selbst Halt suchen und der Erlösung bedürfen.

Wer sich selbstbestimmt, eigenständig und aus freiem Willen auf die Suche nach Antworten auf jene Fragen macht, die seine Existenz ihm aufgibt – wer also seiner ureigenen Sehnsucht folgt –, will davon gar nicht »erlöst« werden, um endlich zur Ruhe zu kommen, sondern beruhigt sich in der Möglichkeit eines eigenen Weges und findet in der Sehnsucht sein Maß.

Ein freier Geist hat es nicht nötig, über andere zu herrschen oder im Besitz einer letztgültigen Wahrheit zu sein, von deren Durchsetzung sein Wert abhängt. Er genügt sich selbst in seinem aufrichtigen Interesse an einer möglichen Wahrheit, der er sich immer nur nähern kann: in seiner Sehnsucht, seinem Philosophieren und seinem Glauben an den unbedingten Sinn seiner Existenz.

Gegen viele der früher verbreiteten politischen oder religiösen Ideologien hat sich im Laufe der Zeit und einer Geschichte fortgesetzter Gräueltaten, die daraus hervorgegangen sind, zunehmend Widerstand gebildet, der zum Zerfall solcher Systeme beigetragen hat. Doch ebenso kommt es in orientierungslosen Krisenzeiten zu einem gefährlichen Wiedererstarken längst überwunden geglaubter Fundamentalismen – so wie sich unter widrigen Lebensumständen auch alte todbringende Seuchen wie Pest oder Cholera erneut ausbreiten können.

Mit viel weitreichenderen Konsequenzen ist die menschliche Freiheit heutzutage allerdings durch »verdeckt« auftretende Ideologien bedroht: Ideologien, die sich im Gewand liberaler Offenheit und Neutralität präsentieren und nichts anderes beabsichtigen – jedenfalls unbewusst –, als gewaltsam die Herrschaft ihres Systems zu etablieren.

Anders als im Fall politischer oder religiöser Ideologien läuft dieser Prozess allerdings weniger direkt ab, nicht durch moralischen Druck und die Verbreitung von Angst und Schrecken, nicht durch Androhung oder Ausübung realer physischer Gewalt, die Abtrünnige ausgrenzt, bestraft oder vernichtet, sondern subtil und manipulativ – durch falsche Hoffnungen (zum Beispiel, dass Besitz einen frei und glücklich mache) und Behauptungen über das Leben, die tatsächlich nur die Wahrheit des Subjektiven und die Bedeutung des konkreten einzelnen Menschen verleugnen.

Die Ideologie des »Liberalismus«

Der Liberalismus als Ideologie, insbesondere einer sogenannten freien Marktwirtschaft, in der jeder Einzelne (jede Gruppierung, jedes Land …) alle Möglichkeiten habe, sich zu entfalten, bedeutet in Wahrheit die Herrschaft des Reichtums über die Armut, des Stärkeren über den Schwächeren, bei der bereits die ungerechte Ausgangslage zur Quelle anhaltender Ungerechtigkeit wird. Mögen theoretisch alle Chancen haben, sich »durchzusetzen« oder zu »gewinnen«, treten tatsächlich Vermögende gegen Unvermögende an, Trainierte gegen Ungeübte, Läufer gegen Versehrte.

Eine profitorientierte Leistungsgesellschaft, die uns Konsum als Wert verkauft, erzeugt Angst und Abhängigkeit auf allen Seiten. Die Besitzenden fürchten um den Verlust ihrer Macht, die Konsumenten um ihre drohende Armut, in der sie nicht länger am Besitz der anderen teilhaben können. Herren und Sklaven brauchen einander.

Die kapitalistische Weltordnung wird an ihrer eigenen Gier scheitern, wenn diese global grassierende Krankheit nicht von einer neuen Ethik des Lebendigen und der Verantwortung eingedämmt und überwunden werden kann. Und ganz Ähnliches gilt auch für den globalen, sinnentleerten Informationskapitalismus, der sich als Freiheit geriert und für sozial erklärt.

Tatsächlich verstrickt er sich jedoch immer tiefer in eine globale Abhängigkeit von Netzwerken, die eine noch effizientere Ausbeutung menschlicher Ressourcen ermöglichen sollen. Wobei die vorgeblich »objektiv« und »neutral« und »zweckfrei« forschende Naturwissenschaft und Technik diesem sich so fortschrittlich und effizient, »freiheitlich« und gönnerhaft gebärdenden Wirtschaftsliberalismus in Wahrheit erst die Logik, das Regelwerk und die »Baupläne« geliefert haben: für jenen mechanistisch-materialistischen Fortschrittswahn, der die Welt an den Rand der Katastrophe und der Selbstauslöschung geführt hat.

Das entscheidende Kriterium, das eine Ideologie von einer persönlichen Glaubensgewissheit unterscheidet, ist die Behauptung eines »objektiv« verbindlichen »Garanten« außerhalb der menschlichen Individualität, der angeblich die Gültigkeit dieser bestimmten Theorie gewährleistet. Doch nur ein persönlicher Glaube kann überhaupt einen Anspruch auf Wahrheit erheben, nämlich einen für sich gültigen, indem dieser den subjektiven Zugang jedes Einzelnen anerkennt.

Dabei ist bereits die Behauptung von Objektivität ideologisch. Es spielt keine Rolle, auf welche Art von »Wahrheitsbeweis« sich dabei berufen wird: ob es sich um eine offenbarte Schrift oder um einen auserwählten Propheten handelt, um eine logische Schlussfolgerung (wie bei den »Gottesbeweisen«), eine wissenschaftliche Methode oder einen angeblich unaufhaltsamen technischen Fortschritt; ob die Überlegenheit einer Rasse als bewiesen gilt, der Pragmatismus bloßen Funktionierens sich durchsetzt oder der Nihilismus postmoderner Beliebigkeit in einem vermeintlich postideologischen Zeitalter.

Die Angst vor dem Nichts und die Sucht nach Erlösung

Hinter all solchen »objektiven« Macht- und Wahrheitsansprüchen lauert tief im Unbewussten des Einzelnen die gleiche Angst vor dem Nichts, vor der Auslöschung und dem endgültigen Verschwinden, vor einer Ungewissheit, die nicht mehr auszuhalten ist, vor der völligen Bedeutungslosigkeit und Nichtexistenz als diese konkrete einzelne Person, die für sich genommen nicht zählt, doch als Teil einer »absoluten« letztgültigen Wahrheit endlich Wert und Bedeutung erhält.

In einer lieblosen, emotional ausbeutenden und unterdrückenden Umgebung kommt sich der Einzelne früh schon abhanden und kann kein Bewusstsein seiner selbst und seiner schöpferischen Freiheit entwickeln. Vielmehr hat er dem Erhalt des jeweiligen Systems zu dienen, in dem er existiert, und erhält seine Existenzberechtigung aus den Ansprüchen und dem Urteil der anderen.

Würde und Respekt müssen sich erst »verdient« und der eigene Wert als »Leistung« unter Beweis gestellt werden.

Das Gleiche geschieht auch zwischen Eltern und Kindern, wenn die Eltern Zuneigung oder Belohnung für Wohlverhalten und Erfolg gewähren und andernfalls Liebesentzug droht; ebenso in Paarbeziehungen, wenn einer vom anderen Anpassung verlangt und ihm dafür Nähe verspricht; oder wenn Loyalität gegenüber einer Partei oder Firma mit Aufstieg und Anerkennung honoriert wird. Der Einzelne lässt sich im übertragenen wie wörtlichen Sinn »kaufen« und gibt seine innere Freiheit und Selbstbestimmung an eine äußere Macht beziehungsweise eine andere Person ab, die über seinen Wert entscheidet, ohne dass er sich der eigenen Entfremdung dabei bewusst wäre.

Der unterworfene Mensch meint sogar noch, aus freiem Willen zu handeln und sich von sich aus zum jeweiligen System beziehungsweise zu einer bestimmten Person zu bekennen. »Identifikation mit dem Aggressor« nennt das die Psychoanalyse – und auch ein solches Verhalten resultiert ursprünglich aus der frühkindlichen Angst, bei Ungehorsam verlassen oder gar vernichtet zu werden.

In diesem inneren Konflikt zwischen einer ungestillten Sehnsucht nach Geborgenheit, die bei einem sicher gebundenen Urvertrauen als Lebensenergie im eigenen Selbstwertgefühl beheimatet wäre, und dem Drama einer entsetzlichen Hilflosigkeit, deren Angst den Einzelnen zu vernichten droht, wurzelt schließlich die Gewalt als Sucht nach Erlösung von dieser Ohnmacht.

Jeder einzelne Mensch jedoch, der die Freiheit des Selbstseins für sich entdeckt hat und in der bewussten Sehnsucht nach Verbundenheit sein Maß findet, wird diese Freiheit auch jedem anderen Menschen in seiner Umgebung zuerkennen und auf seine besondere Weise weitervermitteln wollen – nicht als Ideologie oder Mission in höherem Auftrag, sondern durch seine schöpferische Mitgestaltung der Welt.

Diese erlebt er so sehr als Raum und Bühne seiner eigenen Potentiale, dass er nichts lieber wünscht, als von ebenso schöpferisch tätigen Einzelnen umgeben zu sein, die einander durch ihre Freiheit inspirieren – jeder Mensch ein Lebenskünstler, der in liebevoller Verbundenheit mit sich und anderen Menschen existiert und in seiner ureigenen Sehnsucht Maß und Lebenssinn findet.

Ulrike Orso

Kapitalismus im Kopf

Eine ganze Industrie arbeitet daran, unseren Verstand zu manipulieren.

Das Durchdringen aller gesellschaftlichen Ebenen auf Basis niederschwelliger Botschaften, übermittelt von unverdächtigen Intellektuellen aus den Bereichen Bildung und Beratung, ermöglichte die flächendeckende Verbreitung solcher Botschaften. Ihr Erfolg entwickelte sich langsam, aber stetig. Zu diesem Zweck wurde eine Vielzahl an Problemlösungsstrategien in Form von Tools entwickelt, wie wir sie heute alle kennen. Am Anfang stand das sogenannte Neurolinguistische Programmieren (NLP).

In zahlreichen Quellen wird die Verquickung von Wirtschaft, Public Relations und Psychologie mit der neoliberalen Ideologie angemerkt. Dennoch muss man heute mit heftigem Gegenwind rechnen, wenn man solches behauptet. Aus diesem Grund war es mir wichtig, auf möglichst viele Quellen hinzuweisen und die Frage zu stellen: Hätte sich die neoliberale Ideologie genauso erfolgreich entwickeln können, wenn die Vertreter erziehender und beratender Berufe nicht über Jahrzehnte im selben Geist ausgebildet worden wären und ihn auf scheinbar unverdächtige Weise an unzählige Menschen herangetragen hätten?

Auserwählte und Verdammte

Nach den Lehren des Johannes Calvin aus Genf wurden die Menschen von Gott noch vor der Erschaffung der Welt in Auserwählte und ewig Verdammte geschieden. An diesem vorbestimmten Schicksal könne, so Calvin, kein Mensch etwas ändern, weder durch gute Taten noch durch Glauben. Allerdings könne der einzelne Mensch auch nie mit Sicherheit wissen, zu welcher Gruppe er gehört. Daher sei er auf Zeichen angewiesen – und das deutlichste Zeichen dafür, zu den Auserwählten zu gehören, ist laut Calvin wirtschaftlicher Erfolg. Die Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Verdammte, wie sie die Johannes-Offenbarung verkündet, wurde auf das Wirtschaftsgeschehen projiziert, göttliche Ordnung und Marktlogik wurden eins.

Englische Auswanderer brachten die puritanisch-calvinistische Welt- und Menschensicht in die neuen Kolonien Amerikas, von wo sie sich rasch ausbreitete. Die kirchliche Legitimation der Zweiteilung der Menschen schien logisch, wurde gerne angenommen und war der Ursprung des amerikanischen Kapitalismus. Dieser wurde im Zuge der dritten »Hyper-Globalisierungswelle« auch bei uns gerne aufgegriffen und mit ihm ein fast religiöses Bekenntnis zur Alleinherrschaft des Marktes als einer Art »Wesenheit«, welche bei Nicht-Einhaltung der Regeln gekränkt reagiert.

Positives Denken hatte seinen Ursprung im 18. Jahrhundert als Gegenbewegung zum strengen calvinistischen Protestantismus, in dem das Leben »Auserwählter« von Zucht und Ordnung durchdrungen war. Der große Durchbruch gelang dem Konzept aber erst zur Zeit der großen industriellen Umwälzungen.

Prediger – die ersten Unternehmensberater

Aus der amerikanischen Tradition heraus waren es Prediger, die erneut die Idee des Positiven Denkens aufgriffen und darin zuallererst eine Erleichterung für ihre Gläubigen sahen. Auch Unternehmer entwickelten bald Interesse an dieser Idee, denn je erfolgreicher ein Unternehmen war, desto wichtiger wurde es, Arbeitskräfte so zu führen, dass sie die bestmögliche Leistung erbringen konnten.

Zur gleichen Zeit etwa, als die ersten »beraterischen« Angebote für Unternehmen entwickelt wurden, nahm unter Milton Friedman und Friedrich von Hayek die Theorie des Neoliberalismus Gestalt an. Darin heißt es u. a., dass die Interessen des Marktes alternativlos seien, Menschen sich den Kräften des Marktes zu beugen hätten und »Freiheit durch Unterwerfung« erlangen sollten. Menschen sind, laut Hayek, stets widerspruchsfreie, vernünftig denkende Eigennutzenmaximierer.

Anstelle des individuellen Wohlergehens trat zunehmend das Wohl der Unternehmen in den öffentlichen Diskurs. »Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.«

»Wir müssen unsere Gürtel enger schnallen.« »Wertvolle Mitglieder der Gesellschaft dürfen sich nicht länger in der sozialen Hängematte ausruhen.« Das kollektive »Wir« ermöglichte, dass aufgrund scheinbar unabänderlicher Sachzwänge soziale Errungenschaften aufgeweicht werden konnten. Ohne dieses »Wir« wäre es in den sozialen europäischen Staaten kaum möglich gewesen, diese vor allem für Europa nachteilige Entwicklung durchzusetzen.

Linke blasen ins selbe Horn

Obgleich die neoliberale Ideologie kapitalistisch ist, sprach manches darin auch Humanisten an. Vor allem Freiheit und Eigenverantwortung. Freiheit bedeutet im Humanismus die individuelle Freiheit jedes Einzelnen, ohne Einschränkungen des Staates , während mit Freiheit im Neoliberalismus Kapitalfreiheit und Freiheit des Marktes ohne jede staatliche Regulierung und Steuerungsmaßnahme gemeint ist.

Eigenverantwortung hat im Humanismus die Bedeutung, persönliche Freiheit wahrzunehmen und sich als Individuum nach eigenen Bedürfnissen und Interessen zu entfalten. Im Neoliberalismus dagegen bedeutet sie Privatisierung von Kapital, Vergesellschaftung von Schulden und den Abbau sozialer Leistungen, also Entsolidarisierung. Der große Unterschied besteht darin, ob Eigenverantwortung freiwillig gewählt ist oder erzwungen wird. Während das eine ein Grundrecht auf freie Selbstbestimmung beinhaltet, ist das andere eine erzwungene, unsoziale Maßnahme, die individuelle Freiheit nur vorspiegelt: Freiheit durch Unterwerfung.

Selbstwirksamkeit, Selbstbestimmtheit, aber vor allem Mitverantwortung sind Qualitäten, die jeder von uns anstreben sollte.

Jemanden in seinem Bedürfnis nach Eigenverantwortung zu fördern ist grundsätzlich gut; ihm Verantwortung für etwas aufzuerlegen, was sich allein nicht tragen lässt, ist dagegen unsozial.

Um Eigenverantwortung übernehmen zu können, müssen die dafür notwendigen Voraussetzungen gegeben sein. Viel zu leichtfertig und aufgrund vorgegaukelter Sachzwänge haben wir stabilisierende Rahmenbedingungen und Sicherheiten gegen vermeintliche Freiheiten eingetauscht. Damit haben sich die Handlungsoptionen für die Menschen vervielfacht, psychische Instabilität und Überforderung haben in der Folge zugenommen.

»Positives Denken« inspiriert die Wirtschaft

Bist du von negativen Menschen umgeben? Entferne sie aus deinem Leben, sie sind nur Opfer ihrer Negativität!

Hast du unzufriedene Mitarbeiter? Du musst sie besser motivieren!

Zukunftsängste? Dazu schreibt Norman Vincent Peale:

»Wer entscheidet über Ihr eigenes Glück oder Unglück?

Die Antwort heißt: Sie selbst!«

Du schaffst etwas nicht, bist ausgebrannt? Vertrau auf die Kraft der positiven Gedanken! Motivation ist alles. Wer sich nicht selbst motiviert, wird motiviert. Nur Mitarbeiter, die man in ihrem Tatendrang bestärkt, erbringen Bestleistungen. Die Motivationsindustrie wurde in Gang gesetzt, denn laut Hayek müssen Menschen ständig angetrieben werden. Dabei ist längst erwiesen, dass (fast) jeder Mensch gerne sinnvoll beschäftigt ist. Was jedoch individuell für sinnvoll gehalten wird, ist so verschieden wie die Menschen selbst. Das eigentliche Problem ist die Festlegung auf ökonomische Verwertbarkeit dessen, was als Arbeit gilt.

Statt zu drohen, wurde nun wohlformuliert aufgemuntert, bestärkt und mit der Fiktion eines freien Willens geködert. »Der Siegeszug der kollektiven Selbsttäuschung begann«, schreibt die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich. Fortan musste alles, was sich nach Kritik oder Jammern anhörte und Unzufriedenheit zum Ausdruck brachte, aus der Sprache verbannt werden. Konrad Liessmann merkt dazu an:

»Es ist verpönt mittlerweile, auf negative Entwicklungen (...) und Probleme aufmerksam zu machen. Es herrscht in der heutigen Gesellschaft (…) ein unglaublicher Druck (…) zur Behübschung der Wirklichkeit.«

Das große Versprechen, das man in positive Gedanken hineinprojiziert, können diese nicht erfüllen. Eine kurzfristige Verbesserung des Befindens ist möglich, ja, aber Unerträgliches bleibt meist unerträglich, und sobald sich jemand dieser Tatsache bewusst wird, stellt sich bittere Enttäuschung ein. Teilweise kann Sprache das Denken verändern; aber nie kann ein Gefühl »umgedreht« werden, nur weil die Sprache eine andere ist. Im Gegenteil, eine zu angepasste und kalkulierte Sprechweise hemmt den Ausdruck, reduziert individuelle Authentizität und bewirkt ein Gleichschalten im Denken und Handeln.

Scheitern, Versagen und »falsche« Entscheidungen hatten laut Abraham Maslow, einem der Begründer der Humanistischen Psychologie, eine innere Ursache, und diese muss gefunden werden.

Eva Illouz schreibt in ihrem Buch »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus«:

»Genau da verbindet sich das Narrativ der Selbsthilfe und das des Leidens, denn wenn wir heimlich unser Elend wünschen, dann muss das Selbst direkt zur Verantwortung gezogen werden, um es zu beseitigen. (…) Das Narrativ der Selbsthilfe ist so nicht nur eng verwoben mit dem Narrativ des psychischen Scheiterns und Elends, es wird letztlich von diesem angetrieben. In diesem Bereich waren von Anfang an Psychologie und Liberalismus eng verwoben.«

Das Konzept der individuellen Beratung war bis dato unbekannt, es musste den Menschen erst nähergebracht werden. So sollten sie sich von ihren inneren Hemmnissen befreien und in ihrem Leben erfolgreich werden. Unzählige Medienformate wurden zu diesem Zweck »erfunden«, Sachbücher gedruckt, Kummer-Telefone angeboten, Filme und Talkshows mit Psychotherapeuten in zentralen Rollen wurden ausgestrahlt.

»Eigenverantwortung« wurde den Mediennutzern wie ein Glaubenssatz eingebläut. »Wenn jeder an sich denkt, ist an jeden gedacht«, hieß es. Oder: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!« So wurden Sprachfloskeln zu Wegweisern zur Vereinzelung eigentlich sozialer Wesen.

Beratung, beratende Dienstleistungen und die daraus entstehende Selbstoptimierung sind ein (fast) perfekter Markt. Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han schreibt dazu:

»Die neoliberale Ideologie der Selbstoptimierung entwickelt religiöse, ja fanatische Züge. Sie stellt eine neue Form der Subjektivierung dar. Die endlose Arbeit am Ich ähnelt der protestantischen Selbstbeobachtung und Selbstprüfung, die ihrerseits eine Subjektivierungs- und Herrschaftstechnik darstellt.«

Einfluss nehmen durch Sprache

Je besser die Kenntnisse über psychologische Vorgänge, umso wichtiger wurde die Erforschung der möglichen Einflussnahme. Psychologen waren die neuen Meister der Sprache und wurden für Wirtschaft, Politik und Werbeindustrie immer wichtiger. So schreibt der Soziologe Steve Brint:

»Die Macht der spezialisierten Berufe ist dann am größten (…), wenn die professionellen Experten in einer entpolitisierten Umwelt arbeiten, die ihre Prämissen nicht weiter hinterfragt.«

Barbara Ehrenreich schreibt:

»Das positive Denken macht sich nicht nur zum Handlanger der Wirtschaft, indem es ihre Exzesse rechtfertigt. (…) Seine Verbreitung ist vielmehr selbst zum Geschäftszweig geworden, der einen endlosen Strom von Büchern, DVDs und anderen Produkten hervorbrachte, sondern auch tausende Berater, Wirtschaftscoaches und Motivationstrainer, die allesamt daran arbeiten, möglichst rasch und lösungsfokussiert ein positives Ergebnis zu erzielen.«

Es hatte den Anschein, die Betriebe würden »persönlicher« geführt, und tatsächlich wurde das Arbeitsklima in manchen Betrieben besser. Es ging dabei aber weniger um soziale Bedürfnisse als um die zu vermittelnden Botschaften, welche in freundschaftlichen Gesprächen einfacher zu vermitteln waren: Lohnminderung, Flexibilisierung, Auslagerung der Produktion – manche unangenehmen Sachverhalte wurden so positiv verkauft, dass sie lange Zeit nicht als Verschlechterung wahrgenommen wurden.

»Positiv Denken eignet sich gut als Rechtfertigung für die brutalen Züge der Marktwirtschaft. Wenn der Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg Optimismus ist, wenn man sich eine optimistische Haltung aneignen kann, gibt es fürs Scheitern keine Entschuldigung mehr. Die Kehrseite der Positivität ist daher ein hartnäckiges Insistieren auf der persönlichen Verantwortung. (…) es muss daran liegen, dass du dich nicht genügend angestrengt, dass du nicht fest genug an deinen Erfolg geglaubt hast. (…) Je mehr Arbeitslose das Wirtschaftssystem produziert (…), desto stärker betonen die Vertreter des Positiven Denkens ihr negatives Verdikt.« (Ehrenreich)

Wer noch aufzubegehren wagte, bekam den Stempel des ewigen Nörglers aufgedrückt, welcher nicht bereit ist, alternativlose Sachzwänge hinzunehmen und sich anzupassen. »Raunzerfreie Zonen« wurden eingerichtet.

Letztendlich halfen oft auch die allergrößten Anstrengungen nichts. Wer entlassen wurde, bekam eine neue Chance, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Arbeitsämter vermitteln nun nicht mehr Stellen, sondern verwalten Arbeitslosigkeit im großen Stil und stecken Arbeitslose wie Arbeitsuchende in Bewerbungstrainings. Denn wer unablässig damit befasst ist, sich als Marke zu sehen und zu verkaufen, wer ständig an seinem Alleinstellungsmerkmal arbeiten muss, hat keine Zeit mehr, sich mit anderen Dingen zu befassen.

»Alsbald wuchs der Bedarf an ‚Beschäftigungsprogrammen’ für zornige Entlassene und depressive Arbeitslose. Um Anfeindungen, etwa Kündigungsklagen (…), in Grenzen zu halten, wandten sich die Arbeitgeber an sogenannte Outplacement-Firmen, die den Entlassenen nicht nur Bewerbungstrainings, sondern auch Motivationsworkshops zur Aufmunterung anboten. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist ein Schritt nach vorne im Leben (…) ein Zuwachs an Erfahrung, an Rückbesinnung auf sich selbst, eine notwendige Auszeit.« (Ehrenreich)

Kollegialer Umgang und gemeinsam formulierte Ziele sollen die von Kündigung verschont gebliebene Belegschaft zu neuen Höchstleistungen anspornen, dafür war das neue Zauberwort »Teamwork«. Je größer der Druck am Arbeitsplatz, umso mehr Teamgeist wurde eingefordert. Dabei ist eigentlich fast jeder teamfähig, es kommt auf die Art der Tätigkeit und auf das Umfeld an, nicht aber auf eine imaginäre Eigenschaft, von deren Existenz man erst weiß, wenn sie (anscheinend) fehlt.

Beratungsdienstleistung im Schnelldurchlauf

Der Soziologe Ben Agger stellt in seinem Buch die Merkmale des »schnellen Kapitalismus« vor:

»Die kapitalistische Technologie, die nicht mehr freie Zeit ermöglicht, sondern Zeit komprimiert um noch mehr in der gleichen Zeit leisten zu können (…). Indem man Individuen dazu bringt, aus freien Stücken so viel ihrer freien Zeit für soziale Dienste, soziale Medien, Unternehmen und Konsum zu opfern, werden sozial- und gesellschaftlich gewachsene Grenzen niedergerissen und den Individuen private Räume und Freizeit verweigert. Diese beiden Merkmale sind im Kapitalismus aufs engste verbunden, da die Technologie die Zeit zu Ware macht (…) und gleichzeitig Überwachungsmedien zur Verfügung stellt, um noch mehr Zeit sparen zu können.«

Auch NLP, das Neurolinguistische Programmieren, wurde ursprünglich natürlich nicht zum Wohl der Menschheit entwickelt; erst im erfolgreichen Einsatz durch Militär und Werbung erkannten Psychologen das darin liegende Potential und entwickelten daraus ein Konzept, wie auch Privatpersonen davon profitieren konnten, negative Glaubenssätze rasch loszuwerden.

Nebenbei musste ein meist selbstbestimmtes Leben hin zur Akzeptanz des Unabänderlichen und zu kritiklosem Hinnehmen gelenkt werden. Alles galt fortan als eine »Frage der Einstellung.« Um sich tatsächlich aus einer problematischen Situation zu lösen, braucht es jedoch Handlungskompetenz, Selbstermächtigung und Selbstwirksamkeit, welche die wichtigsten Voraussetzungen für persönliches Wohlergehen und Selbstverwirklichung sind, womit aber gleichzeitig auch die Ansprüche des freien Marktes konterkariert würden.

Ratschlag und Lösung

Guter Rat hat sich bewährt. Seit Menschengedenken wenden sich Ratsuchende an Menschen mit Sinn für das Wesentliche und einer gewissen inneren Weisheit. Heute wendet man sich an einen Berater, der seine Verantwortung mit dem Argument, dass jeder für sich am besten wüsste, was gut für ihn sei, von sich wegschiebt.

Berater predigen immer wieder, doch endlich Eigenverantwortung zu übernehmen, anstatt sich dauernd mit den eigenen Problemen zu beschäftigen. Lieber optimistisch in die Zukunft blicken und ein schönes Ziel formulieren – ungeachtet dessen, dass für viele der individuelle Handlungsspielraum immer kleiner wird.

Die Aufgabe von Beratung wäre demnach auch, individuelle Selbstermächtigung zu stärken, Ängste und Sorgen anzusprechen und mit den Klienten über anstehende ökonomische und ökologische Herausforderungen, die jeden Einzelnen betreffen, nachzudenken sowie Visionen darüber zu entwickeln, wie in Zukunft unser Leben aussehen soll.

Wenn sich Berater vorwiegend um Alleinstellungsmerkmale und Vermarktung kümmern müssen, wird jedoch auch deren Aus- und Weiterbildung entsprechend einseitig, was dazu führt, dass man den vielfältigen Problemen einzelner Personen unmöglich gerecht werden kann.

Pläne, Ziele und Visionen

Ziele gibt es seit jeher, aber dass man sie extra positiv und wohlformuliert aussprechen muss, ist neu. Niemand vor unserer Zeit hätte wohl jemals ein Ziel erreicht, wenn die Art der Formulierung von Bedeutung gewesen wäre. Visionen und undifferenzierte Zukunftspläne sind ökonomisch nicht verwertbar. Daher legen die neoliberalen Berater Wert darauf, dass wirkliche Utopien einer besseren Welt gar nicht erst entstehen. Die Formulierung »smarter« und zweckdienlicher Ziele soll über diesen kompletten Utopieverlust hinwegtäuschen. In Selbständigen wie Arbeitnehmern soll eine Haltung der Art »alles ist möglich, wenn man nur fest genug daran glaubt« verankert werden. Scheitert man dennoch, war der Glaube nicht groß genug.

Positive Formulierungen – positive Menschen?

Dem »Positiven Denken« zufolge ist unser Gehirn nicht in der Lage, negative Formulierungen zu verstehen, was natürlich Unsinn ist. Unser Gehirn versteht alles, was es denken kann. Wenn Negatives nicht klar benannt, sondern sprachlich weich gezeichnet wird, ist der Mensch außerstande, sich aktiv mit einem Problem auseinanderzusetzen. Wer auch Schattenseiten und Unangenehmes beim Namen nennt, hat bessere Chancen, es tatsächlich einer Lösung zuzuführen. »Lösen Sie sich von negativen Menschen«, schreibt Jeffry Gitomer. »Sie verschwenden Zeit und ziehen Sie herunter. Wenn Sie sie nicht loswerden können (…), dann reduzieren Sie die Zeit, die Sie mit ihnen verbringen.«

Heute gibt es keine Ausrede mehr für den, der noch im Sumpf der Negativität verharrt. Du bekommst was dir zusteht, wenn du dich nur ausreichend bemühst. Positive Ziele stecken, anvisieren und ab geht die Post! Negative Menschen sind demnach bloß Opfer ihrer selbst; Spaßverderber, Querulanten, denen man am besten gar nicht zuhören sollte, um nicht selbst auch so zu werden. Mit aufgesetzter Positivität wird hartnäckig an der Illusion festgehalten, positives Auftreten führe unbedingt zum Erfolg.

Lebe deine Stärken

»Lebe deine Stärken!«, »Sei ganz du selbst!«, »Sei glücklich!«, »Lebe dein Leben!«, »Sei ..!« – ja, was zum Kuckuck sollen wir denn noch alles sein? Die »Wohlfühl-Literatur« ist voll von Ratschlägen, die genau jene wunden Punkte berühren, die Ratsuchenden erfahrungsgemäß zu schaffen machen. Robin Leidner schreibt: »Ich fordere Sie dazu heraus, eine gewinnende Persönlichkeit zu entwickeln.« Wie dieser Slogan verdeutlicht, wurde Teilnehmern z. B. in Seminaren nahegelegt, ihre Persönlichkeit als etwas zu betrachten, »das bearbeitet und so zugerichtet werden muss, dass es dem Erfolg förderlich ist.« Sei wie du bist, aber hab null Toleranz gegenüber deinen menschlichen Unzulänglichkeiten. Das kommt oft als paradoxe Botschaft an: »Sei du selbst – aber auch wieder nicht!« Vor lauter Verbessern, Vermarkten, Weiterentwickeln, An-sich-Arbeiten usw. ist das eigentliche, innerste Selbst längst aus dem Fokus verschwunden. Das Selbst wird nicht kultiviert, sondern vermarktet. Genau zu diesem sollen wir ja eben keinen Zugang finden, sonst wären wir vielleicht nicht mehr fähig, den perfekten Mitarbeiter zu geben – nach außen hin immer freundlich lächelnd und zuversichtlich.

Komfortzonen

Die Aufforderung an uns, endlich die »Komfortzone« zu verlassen, führt fast automatisch zu einem schlechten Gewissen. Dabei hört und liest man doch immer wieder, dass unsere Zeit zu hektisch sei, dass wir zu wenig Muße hätten, um wieder zu uns selbst zu finden. Da wäre unsere Komfortzone doch ideal. Damit ist ja nichts anderes gemeint als ein Bereich, in dem wir uns wohl, sicher und geborgen fühlen. Dieser Bereich hört dort auf, wo Ängste beginnen. Manchmal ist es nötig, sich anzustrengen, sich zu überwinden oder über den eigenen Schatten zu springen, um eine Situation zu verbessern – aber doch nicht immer!

Abschließend

Was ist nun aus dem »perfekten Markt«, als der Beratung einmal galt, geworden? Immer mehr Menschen folgten ihrer inneren Berufung, anderen in schwierigen Situationen zu helfen, bereit, immer mehr Ausbildungen zu absolvieren, um diffusen Qualitätsstandards gerecht zu werden. Für viele Berater ist ihr Gewerbe mittlerweile zum finanziellen Überlebenskampf geworden. Davon leben kann kaum noch jemand.

Wenn fachliches Können mit der Fähigkeit gleichgesetzt wird, sich »auf dem Markt« zu behaupten, werden diejenigen kaum eine Chance haben, die sich keine großen Marketingausgaben leisten können. Colin Crouch stellt fest, wer sich nicht behaupten könne, fliege vom Markt. Dies habe weniger mit beraterischen Fähigkeiten als vielmehr mit der Fähigkeit zu tun, sich auf einem unüberschaubaren Markt zu präsentieren. »Die Sorge um das Bestehen zwingt zu einem ständigen Bemühen um die Verbesserung der Position.«