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Yiftach Reicher Atir

Die Agentin

Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch

Zweitausendeins

Deutsche Erstausgabe
© 2019 by Zweitausendeins GmbH & Co. KG, Karl-Tauchnitz-Straße 6, 04107 Leipzig
© 2013 Yiftach Reicher Atir
Die hebräische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ha-Mora le-Anglith bei Keter Books, Israel.
Rechtevermittlung durch The Deborah Harris Agency.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung der Weltkino GmbH.
ISBN 978-3-96318-069-9

Schon fällt das Schweigen leichter.
Das Licht ist hell.
Wenn es keine Wege gibt,
gibt es keine Angst vor Grenzen.
Es gibt nichts zu enthüllen,
wenn nichts zu verhüllen ist.

Leah Goldberg, Die Überreste des Lebens

Inhalt

Brief an die Leser

Kapitel 1: London

Kapitel 2: Israel, zwei Tage später

Kapitel 3: Mailand

Kapitel 4: Einreise

Kapitel 5: Einsatz

Kapitel 6: Dort

Kapitel 7: Raschid

Kapitel 8: Strauß

Kapitel 9: Die Hauptstadt

Kapitel 10: Im Gelände

Kapitel 11: Exit

Kapitel 12: Tel Aviv

Kapitel 13: Die Hauptstadt, zwei Tage zuvor

Kapitel 14: Raschid

Kapitel 15: Dort

Brief an die Leser

Dieses Buch wäre nicht geschrieben worden, hätte ich nicht viele Jahre beim militärischen Nachrichtendienst gedient. Es wäre anders geschrieben worden, wäre ich von den Zwängen befreit, die ich mir selbst auferlegte, als ich mich an die Niederschrift des Textes machte und hätten die Zensur und die nachrichtendienstlichen Stellen für die Grenzen, die ich mir gesetzt hatte, die Genehmigung erteilt und nicht ihre Verbote verhängt.

Wie bei vielen Prosabüchern allgemein üblich und auf Verlangen des Verlages, erkläre ich hiermit, dass die Handlung des Werkes und die darin erwähnten Figuren allesamt Fantasiegebilde des Verfassers (und Lesers) sind. Jeglicher Zusammenhang zwischen der Handlung des Buches und Geschehnissen in der Realität, wie auch zwischen den im Text erwähnten Figuren und deren Namen und den Figuren oder Namen lebender oder verstorbener Personen, ist rein zufällig.

Und dennoch: Gab es das oder gab es das nicht? Hat es sich abgespielt oder hat es sich nicht abgespielt? Science-Fiction ist es nicht. Es ist eine wahre Geschichte, die in Wirklichkeit nicht geschehen ist, die nicht wirklich geschehen ist, die hätte geschehen können.

Das Manuskript meines fiktiven Werkes wurde bei verschiedenen nachrichtendienstlichen Stellen, der Militärzensur und dem Ministerialausschuss für die Erteilung der Publikationsgenehmigung eingereicht. Nach vielen Monaten und heftigen Meinungsverschiedenheiten, die zu mehreren Auslassungen und wesentlichen Änderungen des Textes führten, erzielten wir eine Einigung, die eine Herausgabe des Buches ermöglichte.

Ich bin zuversichtlich, dass die Leserinnen und Leser – trotz meiner Selbstzensur und der Eingrenzungen, die mir die verschiedenen Ausschüsse aufgebürdet haben – sich durch das Dickicht der Handlung zu navigieren verstehen, dass sie in Erfahrung bringen, was der Agentin und ihrem Verbindungsführer – welche beide erfundene Geschöpfe sind – geschehen ist.

Die Beschränkungen der Zensur gestatten es mir nicht, Namen zu nennen: Weder den der Quelle meiner Inspiration, noch den meiner Erstlektorin und auch nicht die der zahlreichen wunderbaren Menschen, die ich im Laufe meiner Jahre beim militärischen Nachrichtendienst kennenlernte. Ich hoffe jedoch, dass diese Männer und Frauen wissen, wie gern ich sie habe und dass ich ihnen danke.

BrigGen d.R. Yiftach Reicher Atir

Kapitel 1: London

In dem Traum, den sie sich gern ins Gedächtnis rief, steht sie in der Küche ihres Hauses und bereitet das Abendessen zu. Das Fenster geht hinaus auf ihren kleinen Garten. Sie beobachtet ihren Sohn, der auf der Schaukel sitzt und ihr zuwinkt. Niemand sonst ist im Haus und das Warten empfindet sie als angenehm. Sie weiß, auf wen sie wartet. Sie hört die alte Schaukel in ihren Angeln quietschen, Autos über die Straße donnern und ihr Messer auf dem Schneidebrett klacken. Der Lärm dieser Welt nimmt seinen Lauf.

Jetzt saß Rachel zum ersten Mal auf dem Stuhl ihres Vaters und schloss die Augen, um das Gesicht ihres Kindes näher begutachten zu können. Sie wollte wissen, wem es ähnlich sähe. Jedes Kind hat einen Vater. Auch ihres. Es schien mit einem Mal dringend, als wäre es ihre letzte Chance.

An diesen Traum erinnerte sie sich. Manchmal erwachte sie mit ihm am Morgen und manchmal kehrte sie im Laufe des Tages zu ihm zurück. Und ihr Sohn, den sie in der Dunkelheit, zu der sie sich zwingt, nun deutlich erkennt, sieht allein ihr ähnlich. Nun steht er an der Tür, die in den Garten hinausgeht: ein einsamer Waise. Rachel schlug die Augen auf und wollte aufstehen. Sie wollte ihn zur Schaukel führen, die verrostet und herrenlos, in dem verwahrlosten Garten noch immer wartete. Aber der Traum entschwand und mit ihm auch ihr Sohn.

Sie lehnte sich zurück, presste den Rücken gegen die dicke Holzlehne des Stuhls, ließ die Hände auf den Armlehnen ruhen und bereitete sich darauf vor, auf die Beine zu kommen und sich um die Angelegenheiten zu kümmern, die sie erwarteten. Doch dann machte sie es sich in dem Stuhl, der nun ihr gehörte, bequem und blickte auf das Foto, welches der Schuldirektor auf den Kaminsims vor ihr gestellt hatte. Diagonal darüber hing ein schwarzer Trauerflor, wie zum Zeichen der Anerkennung hastig im letzten Augenblick hinzugefügt und ihr Vater blickte sie ernsthaft an, so wie er gewesen war und gern wahrgenommen werden wollte – Brauen und Lippen gleichermaßen zusammengekniffen. Selbst die rasch aus dem Lehrerzimmer beschaffte Farbaufnahme verlieh ihm keinen Glanz, keinen Schein. Und plötzlich schien es ihr, als würde er lächeln. Lächeln, während er sie anschaute. Doch sein Blick vermittelte ihr, dass von ihm befreit, sich nun eine andere Pflicht vor ihr entfaltete – neu und gefährlicher als jene, die er Rachel aufgezwungen hatte.

Im Haus war es ruhig. Die Schiw’a, die sieben Trauertage, waren vorüber. Der Rabbiner war vor einer Stunde gegangen, hatte sich entschuldigt und ihr erklärt, dass seine Kinder nicht auf ihre Gutenachtgeschichte verzichten könnten. Rachel hatte hinter ihm die Tür geschlossen und seinen nachhallenden Schritten gelauscht, die wie Tomtom-Trommeln auf den Fußweg gehämmert hatten. Es bedurfte keines Codebuches und keines psychologischen Wissens, um zu erkennen, dass sie in diesem Moment wirklich allein war. Da war niemand mehr in der Welt. Keiner, dessen Tadel sie noch ins Wanken brächte, dessen grimmiges Schweigen sie dazu treiben würde, zu erforschen, was sie tat, dessen Lächeln Licht in ihren Tag bringen konnte und nach dessen Zuspruch sie sich – vergeblich – gesehnt hatte.

Sie erhob sich und ging zum Kamin, einem künstlichen, wohlgemerkt. Ihr Vater hatte es für eine Verschwendung von Zeit und Geld gehalten, Holz heranzuschaffen und im Haus ein Lagerfeuer anzuzünden. Also hatte er sich mit einem elektrischen Heizofen begnügt, dessen Spiralen züngelnde Flammen vorgaukelten. Rachel machte sich trotz der Kälte, die im Zimmer herrschte, nicht die Mühe, den Ofen anzuschalten. Noch immer kam es ihr so vor, als befände sie sich an einem Ort, der nicht der ihrige war und dass sie binnen nur eines Momentes aus seinem Heiligtum vertrieben werden könnte. Auf dem Kaminsims war auch ein Foto von ihr, auf dem sie an ihrem 18. Geburtstag zwischen den Eltern steht. Es war ihr letztes gemeinsames Bild. Daneben hatte, wer auch immer – vielleicht ihr Vater – in einem schwarzen Rahmen ein Porträt ihrer Mutter aufgestellt. Der Krebs hatte sie innerhalb eines halben Jahres besiegt. Rachel entsann sich, als wäre es erst gestern gewesen, dass nur wenige Tage vergangen waren, bis sie ihrem Vater mitgeteilt hatte, dass nach dem Tod ihrer Mutter auch sie ihn verlassen und nach Israel gehen würde. Sie sinnierte darüber, dass auf dem Bild sowohl sie als auch die Mutter gezwungen lächelten und der Vater über den Fotografen hinwegschaute. Er schien in den Himmel zu schauen, als müsse er der Sache auf den Grund gehen, dass der Himmel alles regelte und seine Hausaufgaben erledigte. Ein kleiner Schatten, eine Frucht der Londoner Sonne, hatte sich scheinbar nur für ihn gezeigt. Er zeichnete sich an der Hauswand ab und Rachel dachte, dass nun, da er nicht mehr war, auch sein Schatten sich davonmachen würde und sie Licht und Schatten allein für sich hätte.

***

Rachel ging zum Stuhl zurück, legte die Hände auf die glatten Holzlehnen, verfolgte mit der Fingerkuppe die Zeichen, die seine Nägel dort hinterlassen hatten. Sie konnte sich nicht vom Gefühl freimachen, ihn zu beäugen, wie zu der Zeit, als er ihr untersagt hatte, die Schubladen aufzuziehen. »Nichts ist abgeschlossen«, hatte er kundgetan. »Du musst mir glauben und ich muss mich auf dich verlassen können.« Weißt du, Papa, antwortet sie ihm insgeheim, selbst offene Schubladen können verschlossen sein. Auch was vor jedem offen liegt, kann alles verbergen.

Das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer aus Bakelit und dachte an ihren Vater, wie er in seinem Sessel gesessen hatte, von antiquierten Gegenständen umgeben und in den alten Fernseher schaute. Ein Handy anzuschaffen, hatte er sich strikt geweigert. »Mich ruft eh keiner an«, hatte er sie wissen lassen. Und Rachel wusste, dass er sie gemeint hatte. »Und ich habe keinen, den ich anrufe.« Seine Worte hatten in ihrem Herzen tiefe Kratzer hinterlassen, ähnlich denen auf den Lehnen des Stuhls, auf dem sie saß. Der Rabbiner fragte sie nun am Telefon, ob er irgendetwas für sie tun könne, ob sie am Schabbath in die Synagoge komme. »Ich kannte auch Ihre Mutter, sie war eine wunderbare Frau«, sagte er. Er entschuldigte sich, dass es ihm nicht möglich sei, die Eltern Seite an Seite zu begraben, ohne auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, dass ihr Vater sich geweigert hatte, für eine gemeinsame Grabstelle aufzukommen. Nachdem Rachel das Gespräch beendet hatte, machte sie sich in dem Stuhl ganz klein, als wolle sie sich darin verstecken.

»Mein Vater ist gestorben«, sprach sie laut aus. Diese Worte klangen in ihren Ohren traurig und fremd, fast als nähme ein anderer sie in den Mund, gleichwohl waren sie ihr sehr vertraut.

Nur vier Worte. Vier Worte, die zwischen ihr und dem, was war, eine Mauer errichteten. Zum ersten Mal hatte sie die Worte vor 15 Jahren ausgesprochen. Ehud hatte damals neben ihr gesessen, war sämtliche Möglichkeiten mit ihr durchgegangen und hatte zu ihr gemeint, sie solle Ton und Worte selbst wählen. Er bestand auf einen Probedurchlauf. Sie rief ihn über die interne Durchwahl an und sagte mit sanfter, tränenerstickter Stimme: »Mein Vater ist gestorben.« Ehud übernahm nun die Rolle des Direktors der Sprachschule und sprach Englisch mit arabischem Akzent, worüber sie zu anderen Zeiten herzlich gelacht hätte. Er trauerte mit ihr und erkundigte sich, wann sie zurückkehren würde. Sie ging auf seine Frage nicht ein. Dann sagte sie, sie wisse noch nicht, wo sie die nächsten Tage verbringen würde. Er bat um eine Telefonnummer. Sie versprach, sich wieder zu melden, nachdem sie sich irgendwo niedergelassen habe und dann alles Weitere mitzuteilen. Eine Adresse gab sie ihm nicht, mit der Ausrede, sie werde bald losfahren und sich nur in Hotels aufhalten.

Einige Minuten später, sobald sie sich bereit gefühlt hatte, war es an der Zeit für das echte Telefonat gewesen. Sie hatte durch das Fenster auf die Kathedrale von Mailand geblickt, noch einmal tief Luft geholt und in der Hauptstadt angerufen. Das Gespräch begann ohne Stocken. Der Direktor wollte wissen, wo sie sei und drückte seine Sorge wegen ihres plötzlichen Verschwindens aus. Sie fiel ihm ins Wort: »Es ist etwas Schlimmes passiert. Mein Vater ist gestorben.« »Das tut mir so leid, Rachel«, sagte der Direktor und sprach ihren Namen, wie alle dort, englisch aus. Er erkundigte sich, wie er helfen könne. Keine weiteren Details wurden ausgetauscht, nur die zuvor geprobten. »Ich kann nicht zurückkommen«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es gibt zu viele Dinge, um die ich mich kümmern muss. Richten Sie allen meine Grüße aus und spenden Sie mein letztes Gehalt der Bibliothek vom Flüchtlingslager.« »Rachel, von wo aus rufen Sie an?« Sie blieb ihm die Antwort schuldig – nicht auf jede Frage erwartete man eine Antwort –, sie drehte sich mit dem Kopf zu Ehud, der das Gespräch an einem anderen Hörer verfolgte. »Vater hat nicht leiden müssen«, sagte sie, um das Gespräch wieder in die richtige Bahn zu lenken. Sie wollte noch etwas hinzufügen, den Direktor bitten, ihm die Nachricht zu überbringen, dass ihr nichts anderes übrigblieb, dass sie keine Wahl hätte und dass sie versprach, ihn demnächst anzurufen. Doch Ehuds Blick und die Regeln, zu deren Einhaltung sie sich verpflichtet hatte, hatten ihr damals – ebenso wie das Gefühl, das heute in ihr heranreifte – verdeutlicht, dass auch diese Brücke abgebrannt war.

Rachel stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch, verbarg das Gesicht in den Händen und versuchte mit dem Déjà-vu-Gefühl, welches sich wie ein Fischernetz um sie legte, ihren Frieden zu schließen. Wieder musste sie in der Schule anrufen und mitteilen, dass ihr Vater verstorben war. Nochmals würde man mit ihr trauern, ohne es wirklich zu meinen. Und wieder würde sie begreifen müssen, dass keiner mit ihrer Rückkehr rechnete. Dort, in der großen arabischen Stadt, die sich so heimisch anfühlte, war er da gewesen und sie hatte ihn verlassen, weil sie keine Wahl gehabt hatte. Und in Israel? In der Schule, in der sie nun unterrichtete und in dem anonymen Block, den sie sich zum Wohnen ausgesucht hatte? Wer wartete in Israel auf sie? Wer wusste wirklich, wer sie war und was der Vater ihr bedeutet hatte? Rachel überlegte, dass sie keinem ihrer Bekannten erklären könnte, wie die tiefe Trauer sich mit dem plötzlichen Gefühl der Befreiung vermengte, welches sich in ihr zu regen begann.

Nur ein Mensch blieb, mit dem sie reden konnte. Sie suchte in ihrem Handy nach Ehuds Nummer und hob den alten Hörer des Telefons, um auf den Wählton zu achten. Einst, zu der Zeit, die man unmöglich vergessen konnte, hatte sie, aus Angst, abgehört zu werden, zusätzliche Töne genauestens geprüft. Damals war sie in die Wohnung gekommen und sofort war sie in Gedanken die Plätze und Stellen durchgegangen, wo das belastende Material unterzubringen sei und ob die Putzfrau, die freitags kam, es erspähen konnte. All dies lag nun schon lange zurück. War Geschichte. Noch immer hielt sie den Hörer in der Hand, bis der Ton schließlich von einem angenehm einladenden Gurgeln in ein abgebrochenes abschreckendes Summen umschlug. Sie fragte sich, warum sie von dieser Erinnerung in dieser Deutlichkeit eingeholt wurde und was sie denn eigentlich zu Ehud – nach so vielen Jahren und jenseits des Meeres der Enttäuschung, das sie trennte – sagen würde. Ehud wird sich bemühen, sie zu verstehen. Da war sie sich sicher. Er wird ihr auch mit der Achtsamkeit und der Aufmerksamkeit zuhören, die sie so mochte, ihr Lösungen vorschlagen, auf die sie selbst käme, würde sie sich nur die Mühe machen, auf seine Art und Weise zu denken. Es war eine andere Welt. Eine Welt, in der es Leute von Ehuds Schlag gab und auch andere. Für einen Teil von ihnen war sie lediglich ein ausgeklügeltes Instrument, für die meisten war sie Rachel Ravid in Israel, in der arabischen Welt war sie Rachel Brooks, oder sie trug einen von vielen anderen Namen, die dazu dienten, zu tun, was nötig war.

Sie legte den Hörer wieder auf die Gabel. Ehud konnte warten. Das war er gewohnt. »Unsere Arbeit«, hatte er häufig zu ihr gesagt, als sie ihn einst gefragt hatte, wie er es schaffte, ganze Tage im Hotel zu sitzen, ohne etwas zu unternehmen, »besteht zu zehn Prozent aus Handeln und zu 90 Prozent aus Warten.« Und er versprach ihr zu warten. Und auf ihn war Verlass. Immer.

Die ihr auferlegte Stille, die Wohnung, die über Nacht in ihren Besitz übergegangen war, auch der Vater, dessen Präsenz noch in jedem Staubkorn zu spüren war, den sie aber nicht mehr berühren konnte, zwangen Rachel dazu, sich an das zu klammern, was sie sah, was sie erwartete. Sie ließ ihren Blick über die Bücherregale streifen und entsann sich, wie der Vater eines Tages hereingekommen und der Postbote ihm gefolgt war. Stolz hatte er sämtliche Bände der Encyclopædia Britannica in den Regalen, die sich bereits unter der Last bogen, angeordnet. »Rachel, komm mal her«, hatte er sie angewiesen. Er sprach ihren Namen englisch aus. Und sie war zu ihm gekommen und hatte auf die Erlaubnis gewartet, sich setzen zu dürfen, genau wie die Kinder seiner Klasse. »Rachel, was sagt dir der folgende Begriff?« Sie versuchte, ihm eine Antwort zu geben. Er beharrte darauf, die Erklärung zu ergänzen und zwang sie, alles wortwörtlich einzustudieren, bevor er einwilligte, zu einem anderen Buchstaben überzugehen. Wie schade, dass wir nicht nach dem Alphabet vorgingen, das Wort Liebe nie erreichten. Was hätte es bei dir bewirkt, wenn du es mir hättest vorlesen und erklären müssen, was Liebe dir bedeutete? Bei Verantwortung waren wir und auch bei Pflicht, Wahrheit und Lüge: die drei Begriffe, die dein Leitprinzip darstellten. Den ersten habe ich beherzt angenommen. Von den anderen habe ich freien Gebrauch gemacht.

Die große Pendeluhr schlug. Ihr Vater hatte sie jeden Abend aufgezogen, bevor er zu Bett ging und sie hatte dieses Ritual an allen Trauertagen beibehalten und wusste, es war das letzte Mal gewesen. Sie würde die Uhr nicht mitnehmen. Sie würde nichts von hier mitnehmen. In der Stadt, die einst die ihre gewesen war und auch in Tel Aviv war es bereits Mitternacht. In London war es erst 22 Uhr. Es galt noch, diese Nacht zu überstehen und dann … was dann? Erledigungen. Dinge, die gemacht werden mussten, Dinge, die vergessen werden mussten. Wenn sie die Wohnung ihres Vaters verkaufte, blieb nichts von ihrer Vergangenheit. »Sie werden fürs ganze Leben abgesichert sein«, hatte ihr ein emsiger Wohnungsmakler versichert, der den Tod ihres Vaters nur am Rande erwähnt und sich dann über den Gewinn ausgelassen hatte, mit dem beim Verkauf der Wohnung zu rechnen war. Mutters Grab wartete am anderen Ende des Friedhofes auf sie. Seit der Beerdigung hatte sie es nicht aufgesucht und der Gedanke an die Vernachlässigung, die den Tod umgab, ließ Rachel erschauern.

Sie stieg die schmale Treppe hinauf, ging in das Zimmer, das einst ihr gehört hatte und schaltete das Licht an. Ihre Poster hingen immer noch an der Wand, die Rolling Stones wirkten jung wie eh und je, aber wirklich nur sie. Auf dem penibel zurechtgemachten Bett lag der Staub von Jahren. Ihr Vater hatte keinen Fuß hier hereingesetzt. Ihr ging auf, dass sie in seinem Leben nichts zu suchen hatte. Sie wurde sich darüber klar, dass sie sich ihrem Vater auch nach dem Tod nicht würde entgegenstellen können. Eine andere Erklärung fand sie nicht für die Tatsache, dass sie selbst ihren Koffer direkt ins Gästezimmer gestellt hatte, welches sie früher nie benutzt hatten. Rachel schloss die Tür wieder und näherte sich auf Zehenspitzen dem Zimmer ihres Vaters, fast als hätte sie Angst, ihn zu wecken. »Er war zwar nur ehrenamtlich tätig, aber ich wusste, Michael würde nicht einen Arbeitstag versäumen«, hatte der Direktor zu ihr gesagt. Und dann hatte er haarklein geschildert – es war ihr fast peinlich gewesen –, wie er immer wieder angerufen und dann aus eigener Tasche ein Taxi bezahlt hatte und hingefahren war, an die Tür geklopft hatte, vergeblich, dann die Feuerwehr gerufen hatte, die Michael in seinem Bett friedlich verstorben vorgefunden hatte. »Ein junger Mann von 73 Jahren und allgemein gutem Gesundheitszustand. Könnte ich nur den gleichen Weg gehen – ein Gehirnschlag, der einen in eine Welt befördert, die durch und durch gut ist«, hatte der Direktor gesagt und dabei versucht zu lächeln. Die von ihr beauftragte Reinigungsfirma und die Nachbarin von gegenüber hatten die Wohnung geputzt und aufgeräumt, doch das Bett war so geblieben, wie es war. Die Mulde im Kissen schien nach einer Hand zu rufen, die es aufschütteln würde.

Doch ihre Hand versagte den Dienst. Sie berührte die Schubladen, die sie aufzog, nur mit den Fingerkuppen. Die weißen Socken waren in einer Reihe neben den passenden weißen Unterhosen angeordnet, nie und nimmer würde sie die Kraft aufbringen, sie in Tüten zu stecken. Im Kleiderschrank hingen die wenigen Anzüge und die weiß gestärkten Hemden. Nichts zeugte davon, dass sie nun nicht mehr benötigt würden. Rachel öffnete die Schublade mit den persönlichen Gegenständen, doch schloss sie diese auf der Stelle wieder, aus Angst, auf etwas zu stoßen, das sie verwirren, oder ihre Meinung über den Vater ändern könnte. Dafür gäbe es noch Zeit, sagte sie sich, irgendwann würde sie vor den Erinnerungen Platz nehmen und eine nach der anderen sortieren. Sie ging ins Badezimmer, sichtete kurz den Medizinschrank. Seine Zahnbürste stand mit dem Kopf nach oben im Glas. Wie in ihrer Wohnung – nur eine Zahnbürste.

»Tschüss, Papa, ich gehe«, flüsterte Rachel, als sie die Tür hinter sich schloss. Ihr fiel ein, dass es genau diese Worte gewesen waren, die sie damals mit 19 gewählt hatte, nachdem sie ihren Rucksack gepackt hatte und im Aufbruch gewesen war. Er hatte gedrängt, sie müsse bleiben und ihr Studium beenden, eine Arbeit finden, sonst würde aus ihr nichts werden, so wie es bei ihrer Mutter, gesegnet sei ihr Andenken, der Fall gewesen sei. »Dann ist aus mir also nichts geworden, Papa?«, fragte sie nun laut und ihre Stimme hallte durch die Räume. »Unterrichte ich etwa nicht, genau wie du?« Die Wohnung verstummte. Nur ein draußen vorbeifahrendes Auto, das die Fensterscheiben zum Klirren brachte, war zu hören. Und es rief ihr ins Gedächtnis, dass es ein Leben jenseits dieser Wände gab. Rachel dachte an all die ungestellten Fragen, an den einen simplen Satz, den sie ihm nicht gesagt und den er ihr nicht gesagt hatte.

Durch die Scheibe der hinteren Tür sah man den kleinen Garten, der seit dem Tod der Mutter recht verwahrlost dalag. Alles war so ruhig und still, fast, als wolle ihr Vater, der nur einige Straßen von dem Ort, an dem er geboren worden war und wo er gelebt hatte, nun begraben lag, Rachel mittels dieser Stille etwas vermitteln: Vielleicht konnte sie nur hier zur Ruhe kommen, das Leben finden, das sie wollte. Nur hier. Ein Zuhause und einen Garten. Und einen kleinen Jungen, der draußen herumtobt.

Rachel blieb im Arbeitszimmer ihres Vaters vor einem Spiegel stehen, den ihr Vater aufgestellt hatte, um sich zu vergewissern, dass Krawatte und Scheitel ja tadellos saßen. Ein langes Gesicht blickte sie an. Sie erkannte sich fast nicht. Zerzaustes Haar über einem alten Nachthemd, das sie in einem der Schränke gefunden hatte, erinnerte sie, wie sie mit zwölf Jahren ein Mädchen mit ganz gewöhnlichen Träumen gewesen war: Die schönste Frau der Welt wollte sie sein. Und einen Prinzen haben, der auf seinem Schimmel herbeigeritten kommt und wartet.

Durch ein Fenster, welches ein einfallsreicher Architekt in der Decke eingelassen hatte, konnte sie sehen, wie sich der Himmel langsam blass färbte und dem Morgen Platz machte. Rachel stand mit vor der Brust gekreuzten Armen da und versuchte sich einzureden, dies sei eine Umarmung, die ihr seit Langem gebührte. Sie bohrte ihre Fingernägel in die nackten Arme und setzte alles daran, sich Schmerz zuzufügen, um der Trauer, die nicht Einzug halten wollte, neue Wege zu ebnen. Es war an der Zeit, zu weinen, doch sie konnte nicht. Es war an der Zeit, die Erinnerungen festzuhalten, doch sie wollte nicht. Jede Ecke in der Wohnung wartete mit Andenken auf. Doch nichts in der Wohnung ließ sie an etwas denken, das sie mitnehmen wollte. Es war zu spät, für alles. Selbst zum Verzeihen war es zu spät. Keiner war mehr übrig, den sie um Verzeihung bitten konnte.

Ein erster morgendlicher Sonnenstrahl warf Licht auf das Bücherregal. Und plötzlich nahm Rachel wahr, was ihr geübtes Auge hätte schon früher erspähen müssen: kein Staub. Nicht ein Korn befand sich auf dem einen Buch, das ihr Vater wieder und wieder berührt hatte. Sie schaltete die Schreibtischlampe an und zog den entsprechenden Band der Encyclopædia Britannica heraus. Rachel fand mühelos die Dose, die ihr Vater dahinter versteckt hatte.

Rachel las die Briefe, die Ehud ihrem Vater geschickt hatte. Sie bekam ihre irrtümliche Annahme direkt ins Gesicht geschleudert. Alles veränderte sich, nahm nun eine andere Form an. Bruchstücke von Erinnerungen. Fragmente von Telefongesprächen. Sein demonstratives Desinteresse an den Geschichten, die sie sich ausgedacht hatte, um ihren Job zu verschleiern, an den auswendig gelernten Lügen, die sie ihm aufgetischt hatte.

Ein neues Gefühl ergriff von ihr Besitz. Kein Zorn. Der Zorn war verjährt. Es war auch keine Trauer. Sie war zu traurig, um neuen Schmerz in ihr Leben zu lassen. Selbst die Kränkung, dass sie hinter ihrem Rücken mit dem Vater gesprochen hatten, schob sie weit weg.

Schlagartig wurde Rachel klar, dass sie das alles nicht mehr wollte. Sie wollte diese Lügen nicht mehr, sie wollte, dass die Welt da draußen auf sie zukäme und sie berühren würde. In ihr erwuchs ein Verlangen, sich zu erkennen zu geben, bis die Wahrheit sie verbrennen würde.

Das kleine Feuer im Garten des Hauses erregte keine Aufmerksamkeit. Und von denen, die im so nah am Zaun vorbeifahrenden Zug saßen, würde wohl kaum einer Notiz von der zarten Frauengestalt nehmen, die auf einer alten Schaukel saß und zuschaute, wie sich die Briefe langsam den Flammen übergaben.