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Charlotte Charonne

Asklepios

Thriller

Charonne, Charlotte: Asklepios. Thriller. Hamburg, edition krimi 2020

Originalausgabe 2020

Buch-ISBN: 978-3-946734-69-7

ePub-eBook-ISBN: 978-3-946734-70-3

Lektorat: Diana Itterheim

Umschlaggestaltung: © Anastasia Braun, BOD

Umschlagmotiv: © photocases.com/ Anja-S

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© edition krimi, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Prolog

„Willkommen!“ Ihre Stimme war cremig und süß wie ein Karamellbonbon. Sie observierte den vollständig ent­kleideten Mann, der auf dem Seziertisch festgeschnallt war: Körper und Kopf waren mit Lederriemen an das Metall fixiert, Hand- und Fußgelenke an das Gestell gefesselt.

Ihre Hände zierten hellgrüne Operationshandschuhe, die sich frühlingshaft gegen die weiße Einrichtung und die käsige Haut des Patienten abhoben. Fast zärtlich tätschelte sie seine Wange.

Langsam und leise, mit einem kaum merklichen Zucken der Augenlider, erwachte er aus der Anästhesie. Seine fettigen Wangen glänzten. Die ergrauten Haarsträhnen, die er sonst sorgfältig über die Halbglatze drapierte, hatten sich gelöst und flossen wie Kerzenwachs über seine Ohren.

Sie belauerte sein Erwachen und umkreiste ihn einige Male. Obwohl sie einen Operationskittel und klobige Hygiene­schuhe trug, bewegte sie sich selbstsicher und anmutig wie Asklepios, der Gott der Heilkunst, in seinem fließenden Gewand.

„Erinnern Sie sich an die Mädchen?“ Sie führte ihren Mundschutz an sein Ohr und hauchte ihm die Worte wie kleine Rauchwölkchen ein.

Seine Lider öffneten sich. Seine Augen wurden vom Neonlicht, das aus einer Röhre an der Kellerdecke strömte, geblendet und schlossen sich wieder. Ein Stöhnen kroch aus seiner Kehle. Es knirschte wie Schritte auf Glasscherben. Sein rechter Arm zuckte.

„Machen Sie sich nicht die Mühe, sich zu bewegen. Es wird Ihnen nicht gelingen.“ Der Mundschutz bedeckte ihr frostiges Lächeln. Ihre Stimmlage verlor mehr und mehr der anfänglichen Süße. „Hatten Sie Spaß mit den Kindern?“ Sie zog sein linkes Augenlid hoch und leuchtete mit einer Lampe in das Auge. Geübt wiederholte sie die Prozedur mit der anderen Pupille. „Mit Nicki? Mit Lisa?“ Die Fragen schnitten durch die Luft – scharf und biegsam wie ein Florett. „Mit Emma?“

Die Muskeln an seinem Kiefer zuckten.

Er röchelte.

„Entschuldigen Sie bitte. Mit dem Kieferspreizer können Sie mir natürlich nicht antworten.“ Sie griff an die Metallbügel und ruckelte sie sachte hin und her.

Er stöhnte.

„Aber das wissen Sie ja, stimmt’s? Schließlich haben Sie ein derartiges medizinisches Gerät ebenfalls verwendet.“ Ihr Tonfall war wieder kontrolliert; ihre Wut köchelte unterhalb der Haut.

Seine Augen quollen hervor. Sein nackter Körper schwängerte die Luft mit einem süß-säuerlichen Geruch. Instinktiv versuchte er, das Instrument mit der geschwollenen Zunge aus dem Mund zu schieben.

„Ich werde Sie von dem Mundspreizer befreien, damit wir uns in Ruhe unterhalten und die zu Ihrer Heilung notwendigen Eingriffe besprechen können. Sie sollten sich ruhig und vernünftig verhalten, damit wir eine Lösung in gegenseitigem Einvernehmen finden können. Falls Sie schreien, werde ich Sie zurück ins Traumland schicken.“ Sie löste die Feststellschrauben und entfernte das Metallgestell.

Er stieß einen Laut aus – irgendwo zwischen Angst, Erleichterung und Hoffnung.

„Beruhigen Sie sich. Es wird Sie ohnehin niemand hören. Ich denke, auch mit Schallisolation kennen Sie sich aus.“

Die Augen über dem Mundschutz betrachteten ihn fachmännisch.

Er schwitzte.

Dabei war der Raum auf zweiundzwanzig Grad, wie für Operationen vorgeschrieben, temperiert. Er erfüllte die speziellen Hygienevorschriften nach dem Infektionsschutz­gesetz und verfügte über eine raumlufttechnische Anlage. Er sollte sich während der chirurgischen Eingriffe keine Infektionen zuziehen. Schließlich wollte sie seine Gesundheit nicht gefährden.

Sie tupfte ihm den Schweiß von der Stirn und gönnte ihm den Luxus eines sterilen Lakens, um seine Nacktheit zu bedecken.

„Sie haben den Mädchen unsägliche Schmerzen zugefügt“, attestierte sie ihm, „und nun werde ich dafür sorgen, dass sich dies niemals wiederholt.“

Seine Panik war greifbar. Ein Schrei flog aus seiner trockenen Kehle und klatschte gegen die Fliesen. In dem Geräusch lag etwas Wildes, Verschlagenes wie in dem Lachen einer Hyäne.

„Sie brauchen keine Angst zu haben.“ Sie checkte seinen Blutdruck und seine Herzfrequenz. „Ich werde Sie nicht töten. Vertrauen Sie mir. Ich verstehe dieses Spiel besser als Sie.“

Teil 1

Kapitel 1

Samstag

„Tschüss, Emma!“ Paul warf seine Tochter hoch in die Luft, fing sie mit Leichtigkeit auf und stempelte ihre Wange mit einem Kuss. „Pass gut auf Oma auf!“

„Mache ich!“ Emma quietschte vergnügt und rannte in die offenen Arme ihrer Mutter.

„Bis Montag, Emma.“ Sophie strich ihrer Tochter eine hellblonde Strähne aus dem Gesicht. „Ich werde dich ganz doll vermissen. Ich habe dich lieb.“ Sie ging in die Knie und umarmte ihre Tochter.

„Ich hab’ dich auch lieb.“ Die Fünfjährige schlang die Arme um den Hals ihrer Mutter und presste ihr ein Küsschen auf die Backe. Sophie schnupperte ein letztes Mal an dem weichen Haar ihrer Tochter. Es roch nach Sonne und Frühling, nach Vertrautheit und Geborgenheit – einfach unbeschreiblich gut nach dem Emma-Eigengeruch. Sie bedachte den Scheitel mit einem Kuss.

„Macht, dass ihr fortkommt.“ Maria spornte sie mit einer wedelnden Hand zur Eile an. „Sonst verpasst ihr noch den Flieger. Wir kommen prima ohne euch klar.“

„Deine Mutter hat vollkommen recht.“ Paul ergatterte die Hand seiner Frau und zerrte sie zum Taxi. „Zwei Tage sind keine Ewigkeit. Im Gegenteil – viel zu kurz.“

„Genießt die Zeit!“ Maria hielt Emma an der einen Hand und winkte mit der anderen.

„Ganz bestimmt!“ Paul küsste Sophie auf den Mund und öffnete ihr die hintere Beifahrertür. „Wir fangen gleich hier auf der Rückbank an.“ Er zwinkerte ihr zu. „Seit fünf Jahren unser erstes zweisames Wochenende, und ich werde jede Sekunde auskosten.“

Sophie lachte. Er schlug die Tür zu, eilte auf die andere Seite des Wagens und verschwand im Innenraum.

„Tschüss, Emma. Danke, Mama!“ Sophie hatte die Scheibe heruntergekurbelt, lehnte sich aus dem Fenster und katapultierte ihren dichten Pferdeschwanz auf den Rücken. Eine lauwarme Brise wehte den Duft der Hyazinthen, die sie gemeinsam mit Emma im vergangenen Oktober gepflanzt hatte, in ihre Nase. In Blau, Weiß und Rosé grüßten sie jeden Besucher auf seinem Weg zum Eingang des Einfamilienhauses.

„Guck mal!“ Emma hatte den Haarschopf in den Nacken gelegt. „Da!“ Ihr Zeigefinger schoss in die Luft und zeigte auf einen Vogelschwarm.

„Das sind Schwalben.“ Marias Blick folgte dem kleinen Finger. „Sie kommen endlich zurück, um den Sommer bei uns zu verbringen.“

Sophie schützte ihre Augen vor den einfallenden Sonnenstrahlen. Statt den Schwalbenschwarm ebenfalls zu bewundern, hatte sie nur Interesse für ihre Tochter. „Tschüss!“, rief sie nochmals, während das Taxi die Einfahrt runterrollte.

„Tschüss, Mama!“ Emma kicherte. Ihr Händchen trudelte in der Luft.

Sophie winkte so lange, bis sie ihre Tochter nicht mehr sehen konnte.

„Und jetzt beginnt der Spaß!“ Maria blinzelte ihrer Enkelin zu. Womit fangen wir an?“

„Plätzchen backen!“ Sie hüpfte an der Hand ihrer Oma über die Steinplatten ins Haus.

„Wenn ich groß bin, werde ich Bäcker.“ Emma streute das Mehl großzügig auf die Arbeitsplatte und matschte genüsslich in dem Teig. „Dann kann ich den ganzen Tag backen.“

„Das ist eine großartige Idee.“ Maria unterdrückte einen Lachanfall und verlor fast das Gleichgewicht auf dem Tritthocker. Sie wankte. Um Haaresbreite wäre sie ins Leere getreten. Sie balancierte den Körper­schwerpunkt aus und zog die durchsichtige Dose mit den Plätzchen­ausstechern aus dem oberen Schrankbereich. „Einhundert­ein Cookie Cutters“ las sie und beäugte die bunten Plastikausstecher. „Das sind aber viele!“

„Ja, aber ich will nur die Tiere haben.“ Emma wischte sich einige Haarsträhnen aus der Stirn und verteilte dabei reichlich Mehl in ihrem Gesicht. „Für Mama und Papa – weil sie nicht mit uns in den Zoo gehen können.“

„Dann werde ich sie mal aus ihrem Gehege befreien.“ Maria schraubte den Deckel ab und schüttete den Inhalt auf die Küchentheke, an der sich oft Freunde oder Familien­mitglieder versammelten und an einem Glas Wein oder Aperitif nippten, während Emmas Eltern in der Küche werkelten und dem Essen den letzten Schliff verliehen.

Einige der Ausstecher schienen regelrecht zum Leben zu erwachen: Sie schlidderten über die Theke, fielen auf den Parkettboden und versuchten zu entkommen. Maria zuckelte auf die andere Seite der Theke und sammelte die Ausreißer ein. Anschließend verfrachtete sie Weihnachtsformen, Blumen und andere Motive zurück in die Box und baute die Ausbeute vor Emma auf. Zum Dank schenkte ihre Enkelin ihr ein breites Grinsen und gab die Aussicht auf ein noch lückenloses Milchgebiss preis.

„Ich will kein Arzt werden so wie du und Mama und Papa.“ Emma bemühte sich, den Teig mit ihren Händen platt zu pressen, wobei sie die Zungenspitze zwischen die Lippen klemmte. „Ich mag kein Blut.“ Sie packte das Nudel­holz und bearbeitete den Teigklumpen.

„Wir machen etwas Mehl an das Holz.“ Maria nahm ihr die Rolle ab und bestäubte sie mit dem weißen Pulver.

„Einmal habe ich mich geschnitten. Es hat geblutet und wehgetan.“ Emma hob demonstrativ einen mit Teig und Mehl überzogenen Finger in die Höhe. „Warum magst du Blut, Oma?“

„Oh, weißt du, eigentlich mag ich auch kein Blut sehen, aber mir gefällt es, Menschen zu helfen. Leider bluten viele von ihnen.“ Sie verstaute die Dose mit den restlichen Ausstechern wieder im Schrank.

„Vielleicht werde ich aber auch Kindergärtnerin.“ Emma klopfte mit den Fäusten auf den Teig. Dann kann ich ganz viel spielen, oder Kaninchenzüchter.“

„Kaninchenzüchter?“ Maria verkniff sich ein Lachen. „Das ist aber ein ungewöhnlicher Berufswunsch. Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Weil ich ein Kaninchen haben möchte, aber Papa will das nicht.“

„Warum erlaubt er es nicht?“ Maria verfolgte die vergeblichen Bemühungen ihrer Enkeltochter, den Teig zu bezwingen. „Darf ich auch einmal rollen? Das habe ich schon so lange nicht mehr gemacht.“

„Okay.“ Emma reichte ihr das Nudelholz. „Papa meint, die sind sehr empfindlich und machen Dreck, und ich bin zu klein, um mich allein darum zu kümmern. Und wenn ich in die Schule komme, will Mama ihren Dacharzt machen. Dann hat sie auch keine Zeit, den Stall sauber zu machen.“

„Dacharzt?“ Maria grinste. „Ich dachte, wenn das Dach kaputt ist, kommt der Dachdecker. Meinst du möglicherweise einen Facharzt?“

„Genau. Darf ich wieder rollen?“ Emma walzte über den glatten Teig und grunzte zufrieden. „Jetzt ist es gut. Du darfst auch ausstechen!“

Sie füllten das Blech mit allerlei Zootieren und bugsierten es in den Ofen. Ein köstlicher Duft breitete sich in der Küche aus, während Emma die Ausstecher und allerlei Schüsseln in die Spülmaschine räumte und Maria die Küchenablage reinigte. Anschließend mischten sie Zuckerguss an und verliehen den Tieren einen kunterbunten Farbanstrich: Rote Löwen mit orangenen Mähnen tummelten sich friedlich neben grünen Giraffen mit pinken Flecken, Zebras mit farbenfrohen Streifen und anderen wilden Tieren. Beim Verzieren plapperte Emma fröhlich vor sich hin und füllte den Raum mit kindlichen Weisheiten und Gekicher.

Als die Tiere endlich auf den Plätzchenplatten grasten und die Küche von Mehlstaub und Farbkleksen befreit war, linste Maria erstmals auf die Uhr. „Was?“ Ihre Augen weiteten sich. „Schon ein Uhr? Das hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich glatt die Zeit vergessen habe. Was hältst du davon, wenn wir auf das Kochen verzichten und stattdessen sofort in den Zoo fahren? Auf dem Weg dorthin können wir bei meinem Lieblingsitaliener anhalten.“

„McDonalds?“ Emma neigte ihren Schopf zur Seite und ließ es auf einen Versuch ankommen.

„I-ta-li-e-ner!“ Maria betonte Silbe für Silbe, wobei ihre Augen größer und größer wurden.

„Gibt es da Eis?“ Emma kniff die Lippen zusammen und zog die Mundwinkel hoch.

„Aber hallo! Das beste Eis auf der ganzen Welt.“

„Echt?“ Emma riss die Augen auf.

„Wenn ich es sage! Also los!“

„Liest du mir noch eine Geschichte vor?“ Emma kuschelte sich in ihr Bett, das mit Prinzessin Lillifee-Bettwäsche und zahlreichen Kuscheltieren ausstaffiert war. Über ihr schwebte ein Himmel aus rosa-grün gestreiftem Stoff.

„Klar! Was möchtest du denn hören?“ Maria durch­forstete das Regal, in dem sich große und kleine, dicke und dünne Kinderbücher wie Wäschestücke auf einer Leine aneinanderdrückten. „Lauras Stern?“

„Der kleine Rabe Socke!“ Emma quetschte ihren Lieblings­hasen Flopsi in die Ellenbeuge und fingerte an dem abgegriffenen Ohr.

Maria verdrehte den Kopf, las die Titel auf den Buch­rücken und rupfte das gewünschte Buch heraus. Ihr Handy, das sie auf dem Nachttisch geparkt hatte, klingelte. Sie schaute auf das Display und zwinkerte Emma zu. „Unser Kontrollanruf – pünktlich wie die Maurer.“

Emma gluckste.

„Hallo, Sophie“, meldete sich Maria, „wie geht es euch?“

„Richtig gut! Wir hatten einen wundervollen Tag. Und ihr?“ Sophie saß in der Tower Bar des Hotel Hafen Hamburg und genoss das Panorama auf den Hamburger Hafen.

„Ebenfalls. Emma hat mich ordentlich auf Trab gehalten. Sie könnte glatt meinem Chefarzt Konkurrenz machen.“ Maria setzte sich auf die Bettkante und legte das Buch auf ihrem Schoß ab.

„Kann ich Emma mal sprechen?“ Sophie beäugelte das leere Champagnerglas, mit dem sie zuvor mit Paul angestoßen hatte. Sie hatten ihre Rückkehr in das Hotel, in dem sie vor sieben Jahren ihr erstes gemeinsames Wochenende verbracht hatten, gebührend gefeiert.

„Sie liegt neben mir. Ich gebe sie dir.“ Maria reichte das Telefon weiter.

„Hallo, mein Schatz“, sagte Sophie, „hattest du einen schönen Tag?“ Sie entdeckte den Kellner, der sich ihrem Tisch mit der Rechnung näherte. Sein feierliches Mienenspiel passte zu der schwarzen Fliege, dem weißen Hemd und den auf Hochglanz polierten Lackschuhen.

„Jaaaaa!“ Emma nickte. „Wir haben eine Überraschung für euch gebacken und Eis gegessen und waren im Zoo.“

„Das hört sich richtig spannend an. Was denn für eine Überraschung?“ Sophies Gesicht leuchtete, angesteckt durch die Begeisterung, die in der Stimme ihrer Tochter hüpfte.

„Das kann ich nicht sagen.“ Emma rollte mit den Augen. „Dann ist es doch keine Überraschung mehr!“

„Das stimmt“, lachte Sophie, „aber du hast mich ganz neugierig gemacht.“ Sie kuschelte sich in Pauls Arm. „Schlaf gut und träume etwas Schönes. Ich habe dich lieb und vermisse dich.“ Sophie schmiss ein Küsschen in die Leitung.

„Ich habe dich auch lieb, Mama.“

„Warte – Papa möchte dir auch Gute Nacht sagen.“ Sophie reichte ihr Telefon weiter.

„Emma?“ Paul drückte das Handy an sein Ohr. Mit der freien Hand streichelte er Sophies Arm.

„Hallo, Papa!“, fiepte Emma.

„Hallo! War Oma brav?“, scherzte Paul. Um die Augen in dem noch jungenhaften Gesicht tanzten winzige Lachfältchen.

Emma giggelte. „Ja, ganz brav.“

„Sie hat also alles gemacht, was du wolltest?“

Emmas Locken wippten zustimmend.

„Und was macht ihr jetzt?“ Pauls Blick klebte auf Sophies Dekolleté.

„Oma liest mir vor.“ Emma blickte zu dem Bilderbuch.

„Prima! Dann noch viel Spaß euch beiden. Schlaf gut. Bis morgen Abend.“ Paul riskierte einen weiteren Ausblick in Sophies Ausschnitt. „Den werden wir heute auch noch haben“, säuselte er in Sophies Ohr.

„Bis morgen“, trällerte Emma und reichte ihrer Großmutter das Telefon.

„Hallo?“ Maria sprach in die Muschel. „Keiner mehr dran“, erklärte sie Emma und beförderte das Telefon zurück auf den Nachttisch. „Dann können wir ja jetzt in Ruhe lesen.“

Sie blätterte das Buch auf und las ihrer Enkeltochter vor, wie der kleine Rabe Socke zu seinem Namen gekommen war. Dabei präsentierte sie das Buch so, dass Emma die Bilder ebenfalls betrachten konnte.

„Das ist eine schöne Geschichte.“ Maria klappte das Bilderbuch zu und stellte es zurück zu seinen Kameraden. „Die kannte ich noch gar nicht.“

Sie gähnte und bewunderte ihre Enkeltochter, die trotz des anstrengenden Tages noch absolut fit schien. „Bist du gar nicht müde?“

„Ich bin nie müde.“ Emma drückte Flopsi an sich.

„Das gibt es doch nicht.“ Maria hockte sich nochmals auf die Bettkante und koste Emmas weiches Haar.

„Aber damit ich einschlafen kann, singen Mama oder Papa mir immer etwas vor.“ Sie lächelte verschmitzt und fügte ernst hinzu: „Manchmal habe ich Angst im Dunkeln. Aber nicht vor Monstern. Die gibt es nicht.“

„Wovor hast du denn Angst?“

„Nichts sehen zu können. Und keine Luft zu bekommen. So wie in einem dunklen Keller ohne Fenster.“

„Ach so.“ Maria streichelte Emma über den Scheitel. „Das finde ich auch sehr unangenehm, und damit es nicht dunkel wird und du genügend Luft bekommst, lassen wir deine Tür einen Spaltbreit offen und das Licht im Flur an. Einverstanden?“

Emma nickte.

„Und singen kann ich auch.“ Maria glättete die Decke. „Als deine Mama klein war, mochte sie am liebsten La le lu.“

„Das mag ich auch am liebsten.“ Emma stemmte Flopsi in die Luft. „Und Flopsi auch.“

„Das trifft sich gut. Dann singe ich dir das Lied vor.“

„Ich muss aber erst noch beten.“ Emma legte den Hasen beiseite und faltete die Hände. Nachdem sie mit ernster Miene ein Nachtgebet gesprochen hatte, schloss sie die Augen, lauschte Marias Gesang und war bereits bei der zweiten Strophe eingeschlafen.

Maria küsste sacht ihre Stirn und ließ die Zimmertür, wie versprochen, offenstehen. Das Licht vom Korridor schlich auf Zehenspitzen in Emmas Zimmer und leistete ihr bis zum nächsten Morgen Gesellschaft.

Kapitel 2

Sonntag

„Wenn du möchtest, können wir heute Nachmittag in ein Freigehege fahren und die Rehe füttern. Das Wetter ist so herrlich.“

Maria stieg aus dem Sandkasten und klopfte sich den Sand von der Hose.

„Au ja!“ Emma quietschte vor Vorfreude und lief zur Schaukel, die Paul in einem greisen Baum für sie angebracht hatte. „Ich schaukle so lange, bis du die Nudeln gekocht hast!“

„Aber nicht zu hoch!“ Maria hob mahnend einen Finger.

„Dooooch!“ Emma umfasste die Stricke und hievte sich geschickt auf das Brett.

„Dann halte dich gut fest! Soll ich dich anschubsen?“

„Das kann ich alleine!“ Der Stolz in Emmas Stimme war unüberhörbar.

„Prima! Ich setze nur kurz das Nudelwasser auf und bin gleich wieder da.“

Maria überquerte die Wiese und die Terrasse, streifte die Schuhe auf der Fußmatte, die mit dem Schriftzug Willkommen grüßte, ab und eilte in die Küche.

Als sie die Sonnencreme für Emma endlich gefunden hatte, kochte das Wasser bereits. Rasch warf sie die Nudeln hinein, regelte die Temperatur der Herdplatte, durchkreuzte den Wohnraum und trat ins Freie.

Sie spähte durch den Garten zur Schaukel.

Das Schaukelbrett war leer.

„Emma?“ Maria lugte durch den Garten. „Emma?“ Ihre Stimme kletterte in einen höheren Oktavbereich. Sie lauschte.

Vögel zwitscherten. Irgendwo bellte ein Hund, und in der Ferne heulte ein Motor auf.

Kein Kichern von Emma.

Maria sauste durch die gepflegte Gartenanlage und suchte hinter Büschen und Bäumen sowie in der Gartenlaube.

Keine Spur von Emma.

Sie kehrte ins Haus zurück, ohne ihre Schuhe auf der Matte abzutreten.

„Emmaaaaaaaa?“ Mit Riesenschritten durchquerte sie den Wohnbereich, klopfte an die Tür des Gäste-WCs, zögerte für einen Moment und öffnete sie. Emma war nicht da.

„Emmaaaaaa?“ Maria stürmte die Treppe hinauf und wiederholte die Prozedur an der Badezimmertür. Das Bad war leer.

Sorge grub sich in jede Pore ihres Körpers und fraß sich bis ins Knochenmark, während sie Emmas Zimmer, das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer betrat. Von Emma fehlte jede Spur.

„Emma? Ich kann dich nicht finden. Wo bist du?“ Eine eiserne Zange umklammerte Marias Magen und quetschte ihn zusammen. „Hast du dich versteckt? Komm raus. Du hast gewonnen. Dein Versteck ist zu gut.“

Kein Laut.

„Bitte, Emmaaaaa“, flehte sie.

Sie spitzte die Ohren. Gespenstische Stille erfüllte das Haus. Von unten drang ein zischendes Geräusch herauf. Das Nudelwasser kochte über.

Maria hastete die Treppe hinunter, schaltete den Herd aus und rannte in den Keller. „Emma?“, schluchzte sie, während sie Vorratskeller, Waschkeller und Heizungskeller begutachtete. „Emma, bitte, komm raus!“, wiederholte sie immer wieder, während sich hektische Flecken auf ihrer Haut abzeichneten.

Auf der Kellertreppe stolperte sie über ihre eigenen Füße und schlug hart mit dem Kinn auf. Sie presste die Hände gegen den pochenden Schmerz. Klebriges Blut glänzte in den Handflächen. Sie schmierte es achtlos an den Hosenbeinen ab.

„Emma?“ Sie weinte beinahe, als sie zurück in den Garten hetzte. „Ruhig bleiben“, mahnte sie sich. „Emma erlaubt sich nur einen Scherz. Sie findet es bestimmt lustig.“

Maria preschte zurück ins Haus und durchsuchte jeden Winkel. Sie tastete die Vorhänge ab, verrutschte alle Sitzgelegenheiten und durchwühlte jeden Schrank. Von Raum zu Raum wurde sie unruhiger. Panik nistete sich in ihrem Körper ein wie tiefziehende Wolken in einem Gebirge.

„Emma?“ Die Silben überschlugen sich.

Sie flitzte zurück in den Garten und durchkämmte nochmals alle Plätze, die für ein Versteck in Betracht kamen. Diesmal hob sie die achtlos zur Seite gelegte Plastik­plane hoch, die zur Abdeckung des Sandkastens diente. Darunter war nur das Gras.

Maria flog zurück ins Haus und stellte abermals alle Räume auf den Kopf. Mittlerweile ähnelten sie einem Napoleonischen Schlachtfeld: Auflagen und Kissen waren von dem Sofa gezerrt und Stühle weggerutscht worden, Schranktüren standen offen, Schrankinhalte überfluteten die Böden.

Im Badezimmer kreuzte ihre Suchaktion den Spiegel. Ihr Gegenüber hatte hektische rote Flecken im Gesicht. Schweißperlen rannen von der Stirn. Der Mascara war hinweggespült worden und hatte sich in gespenstische Augenringe verwandelt.

Maria lief zur Haustür, stopfte den Schlüssel, der im Schloss baumelte, in ihre Hosentasche und fegte zum Nachbarhaus. Emma spielte manchmal mit dem Nachbars­mädchen, obwohl dieses drei Jahre älter war. Sie drückte auf den Klingelknopf. Nach einigen ungeduldigen Sekunden läutete sie Sturm. Niemand erhörte den Lärm.

Sie wendete sich nach links, trabte an dem Haus ihrer Tochter vorbei und schellte bei den anderen Nachbarn. Das kinderlose Ehepaar war nicht zu Hause.

Maria jagte zurück zu Sophies Haus. Kalter Angstschweiß durchnässte ihre Bluse. Mit zittrigen Fingern führte sie den Schlüssel ins Türschloss und brüllte aus Leibeskräften: „Emmaaaaaaaaaaaaaa!“

Eisige Ruhe schlug ihr entgegen.

Sie hechtete zu ihrer Handtasche, wühlte nach dem Handy und wählte die Nummer ihrer Tochter.

Paul wickelte Sophies Haare mehrmals um seine Hand und bettete sie auf dem Kopfkissen. Dann küsste er sie auf den freigelegten Nacken. Von dort aus wanderten seine Liebkosungen ihre Wirbelsäule hinab. Sie erschauerte unter den zärtlichen Berührungen.

„Du riechst so verführerisch“, säuselte er.

„Immer noch?“ Sie schnurrte wie eine Katze vor dem Kamin. „Hast du noch nicht genug von mir?“ Sie räkelte sich.

„Oh nein!“ Seine Küsse erreichten ihren Po. „Niemals. Das Programm heute wird geändert. Zimmerservice …“

Aus den Augenwinkeln realisierte er ein Leuchten. Ihr Handy, das auf einem Sessel in der Nähe des Bettes lag, blinkte und vibrierte. Auf seinen Wunsch hin hatte sie den Störenfried auf leise gestellt. Er ignorierte das Gerät und widmete sich wieder seiner Frau.

„Du fühlst dich gut an.“ Seine geübte Hand liebkoste die Innenseite ihrer schlanken, festen Schenkel.

Sophie drehte sich auf den Rücken.

„Mist!“ Maria schleuderte das Handy auf den Esstisch und massierte ihre Schläfen und Augenbrauen. „Emma, wo steckst du nur?“, flüsterte sie. „Wie soll ich denn die Telefonnummern von deinen Freundinnen herausfinden, wenn deine Eltern nicht ans Handy gehen?“

Sie lief einige Male im Zimmer auf und ab. Schließlich griff sie das Telefon erneut und tippte die Zahlen­kombination eins eins null.

Kapitel 3

Zwei Wochen später

„Sitz!“ Britta verband das Kommando nachdrücklich mit dem erhobenen Zeigefinger. Der Beagle parierte und pflanzte sein Hinterteil auf den Waldweg. „Gut!“, lobte sie und belohnte das Tier mit einem Hundeleckerli.

„Und jetzt, Anton“, sie löste die Leine vom Halsband, „darfst du frei laufen, aber du bleibst dicht bei mir und kommst, wenn ich dich rufe. Genauso wie wir es mit der Schleppleine geübt haben. Hörst du?“

Der Beagle kippte den Schädel zur Seite.

„Prima! Dann los!“

Anton sprang auf, seine Ohren flatterten. Britta schritt zügig über den Weg. Der Boden war fest. Es hatte schon länger nicht geregnet. Über den Baumwipfeln thronte ein azurblauer Himmel, auf den ein unbekannter Künstler einige Zuckerwattewolken gemalt hatte. Die Sonne zwängte gelbe schräge Strahlen durch das Blätterwerk und zauberte filigrane Muster auf den Pfad.

Anton lief einige Meter vor ihr her und schnüffelte begeistert an Erde und Laub. Hin und wieder kurbelte er seinen braun-weißen Beaglekopf zurück und vergewisserte sich, dass der Abstand zwischen ihm und Britta nicht zu groß wurde.

Der intensive süßliche Duft der Maiglöckchen kletterte in Brittas Nase. Sie staunte über die großen Mengen der kleinen krautigen Pflanze, die aus dem Waldboden geschossen waren und ihre glockigen Blüten den Sonnenstrahlen entgegenstreckten.

„Hierher, Anton, komm!“

Anton parierte erneut aufs Wort, schoss auf sie zu und umgarnte sie mit seinen sanften haselnussbraunen Augen.

„Guter Hund!“ Britta kraulte den Rüden hinter den Ohren. „Das machst du super. Weiter!“

Der Beagle trabte einige Meter vorweg. Seine Rute wedelte fröhlich.

Britta bemerkte ein Rotkehlchen, das auf einem Ast wippte und trillerte. Seine orangerote Vorderbrust leuchtete unter dem Frack aus Federn. Perlende, reine Töne schwirrten über die Waldbühne, die Brittas Körper mit einem warmen Gefühl von Zufriedenheit erfüllten.

Anton vergrub seine Nase in der Walderde am Weges­rand. Abrupt schien er eine Fährte aufzunehmen. Er schnüffelte, schoss im Zickzack über den Boden und schien die Welt um sich herum vollkommen auszublenden.

„Anton, komm!“ Britta stützte die Hände in die Hüften.

Der Hund reagierte nicht. Stattdessen stob er in das Unterholz.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, schimpfte sie leise und starrte zwischen Baumstämme und buschiges Grün. „Anton, komm!“ Britta versuchte abermals vergeblich ihr Glück. „Na super“, kommentierte sie laut. „Die in der Hundeschule haben gut reden, von wegen nicht hinterherlaufen und nicht schreien. Und jetzt? So ein Granatenmist!“

Sie verließ den Weg und stapfte einige Schritte hinter dem Hund her. „Verdammt und zugenäht! Komm, Anton, hierher!“ Sie blieb stehen und lauschte. Das Rotkehlchen sang aus lauter Kehle. In einem Sonnenstrahl, der durch das dichte Geäst fiel, tanzten Insekten. Aus der Richtung, in die Anton verschwunden war, kam das Scharren von Pfoten. Dann hörte sie ein Winseln.

Britta rannte los. Sie stolperte über einen Wurzel­ausläufer und verlor fast die Balance.

„Anton!“ Sie konnte das Tier nicht sehen. „Anton, komm, bitte!“, flehte sie. Eine beängstigende Stille senkte sich über das Waldstück.

Kein Scharren.

Kein Winseln.

Selbst das Rotkehlchen war verstummt.

„Anton?“ Die aufbrausenden Tränen raubten ihr die Sicht. Brittas Verstand füllte die Stille mit einem grausamen Szenario nach dem anderen. Was, wenn Anton immer tiefer in den Wald vordrang und sie ihn nicht mehr finden konnte? Wenn er ein vergiftetes Stück Fleisch gefressen hatte, das von einem Hundehasser ausgelegt worden war? Oder er einem Jäger über den Weg lief, der ihn gnadenlos erschoss? Ein gewaltiger Druck breitete sich hinter Brittas Stirn aus.

Da! Ein Winseln!

Britta stolperte darauf zu. Ein tiefhängender Zweig verfing sich in ihrem Haar. „Mist“, fluchte sie. „Anton?“ Sie befreite die Strähnen und kämpfte sich weiter zu dem Winseln vor. Endlich erspähte sie den Beagle. Tränen der Erleichterung verschafften sich Luft. Gleichzeitig spürte sie, wie kalter Angstschweiß über ihren Rücken rann. Sie zwang sich zur Ruhe, um Anton nicht ein weiteres Mal zu verlieren.

„Anton, komm. Hier!“ Es gelang ihr, den Befehl mit ruhiger, fester Stimme zu geben. Trotzdem reagierte er nicht. Wie von Sinnen scharrte er im Boden.

Britta näherte sich dem Tier langsam von hinten, um es nicht zu ängstigen und tiefer in den Wald zu treiben. Sie hatte den Hund fast erreicht. Noch zwei Schrittlängen. Sie fixierte das Halsband und streckte ihre Finger danach aus. Endlich bekam sie es zu fassen.

„Anton! Du böser Hund!“, schalt sie halbherzig und zog den Rüden zu sich heran.

Anton winselte, lehnte sein Gewicht gegen das Lederhalsband und wand sich wie ein Wurm am Angelhaken.

„Aus!“, befahl Britta. Sie konnte das Tier kaum halten. Ihre Aufmerksamkeit kroch vorsichtig zu der Stelle, an der Anton zuvor gegraben hatte. Sie sperrte den Mund auf und schnappte nach Luft. Entsetzen fraß sich in ihre Gesichtszüge. Ihr Blick heftete sich an ihre Hände, die ihrerseits an Antons Halsband Halt suchten. Die Fingerknöchel zeichneten sich weiß unter der Haut ab. Äste und Dornen hatten blutige Kratzer auf die Handrücken gezeichnet. Britta wurde schwindelig. Der Waldboden bebte und die Bäume schwankten. Gleichzeitig schien sich die gesamte Kulisse wie ein Karussell zu drehen. Sie presste die Augenlider zusammen und konzentrierte sich darauf, ruhig durchzuatmen.

Anton zerrte und zerrte an seinem Halsband.

Britta beruhigte sich allmählich. Fast zwanghaft wagte sie eine nochmalige Überprüfung. Es war noch da: Ein Unterarm mit einer Hand. Die Haut wirkte grünlich und marmoriert, als wollte sie sich ihrer Umgebung an­passen, um unentdeckt zu bleiben. Sie umklammerte Antons Leder­band mit beiden Händen und unterdrückte die aufkeimende Übelkeit.

Es war ein Arm.

Der Arm eines Kindes.

Eines kleinen Kindes.

Kapitel 4

Drei Wochen später

„Emma, Emma …“ Sophies Lippen bewegten sich fast lautlos. Sie stierte paralysiert auf den Sarg, der im Altarbereich aufgebahrt war. Auf dem weißen Holz tanzten Kornblumen, Heide-Nelken und andere bunte Wiesenblumen, deren Farben von dem Meer aus Kränzen und Blumen, das den Kindersarg umgab, aufgenommen wurden. Es wirkte geradeso, als würde Emma auf einer Frühlings­wiese ruhen.

Sophie war während der letzten Wochen zusehends schwächer geworden wie eine Rose, der Wasser fehlte. Am Ende war sie vollkommen verblüht.

In den ersten Tagen nach Emmas Verschwinden hatte sie eine Hyperaktivität an den Tag gelegt, die ihrer sonst besonnenen Art vollkommen fremd war. Um Emma zu finden, hatte sie mehrmals die Polizei aufgesucht, Flugblätter gedruckt und verteilt, mit der Presse sowie Radio- und Fernsehsendern Kontakt aufgenommen und sinnlos von früh bis tief in die Nacht die Gegend abgefahren. Darüber hatte sie das Essen vergessen. Paul kostete es alle Überredungskünste, ein paar Brocken in sie hineinzuzwängen, wenn er abends aus der Klinik nach Hause kam – falls er sie dann überhaupt antraf.

Mittlerweile ähnelte sie Grizabella aus dem Gedicht Rhapsody on a Windy Night von T.S. Eliot. Ihre Kleider baumelten lose an ihren Schultern wie auf einem Bügel. Unter ihren Augen lagen violette Ringe. Ihr Haar hatte seinen Glanz verloren und fiel büschelweise aus. Ihr Blick huschte nervös hin und her. Bei jedem Laut zuckte sie zusammen, fuhr aber bei dem Vorschlag, therapeutische Hilfe zu suchen, aus der zerknitterten Haut.

Paul umfing ihre Taille und presste sie an sich. „Komm, Sophie. Wir bleiben an Emmas Seite.“

Tiefes Schweigen erfüllte die überladene Kirche. Nicht nur Familienangehörige, Freunde, Bekannte und Kollegen waren zu der Beerdigungszeremonie erschienen, sondern auch zahlreiche Unbekannte.

Die Glocken begannen zu läuten. Der kleine Sarg wurde von Pauls Kollegen, die über die Jahre in der Klinik zu engen Freunden geworden waren, hinausgetragen. Die Ärzte hatten ihre weißen Kittel gegen schwarze Anzüge getauscht. Obwohl sie dem Tod stets nahe waren, spiegelten ihre Mienen tiefe Betroffenheit und Anteil­nahme wider.

Paul schob Sophie sachte von der Bank in den Mittelgang. Sie schaffte es, einen Fuß vor den anderen zu setzen und hinter dem Pfarrer, der dem Blumensarg unmittelbar folgte, herzuwanken. Tränen strömten über ihr Gesicht.

Ein Fußweg führte zu dem kleinen Friedhof hinter der Kirche. Das Knirschen von Kies, das die schweren Schritte erzeugten, mischte sich mit dem Glockenklang. Die Trauerprozession machte vor einem ausgehobenen Grab halt.

Der Pfarrer zitierte den Bibelvers, den Sophie und Paul für Emma ausgewählt hatten. Sophie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen und wiegte sich vor und zurück. Paul hielt sie fest, aus Angst, sie könnte in das offene Grab fallen. Dann übergaben die Sargträger den Kindersarg Zentimeter für Zentimeter dem Erdreich.

Stille breitete sich aus. Sie schlich über den Friedhof und schien die Luft zum Atmen zu zerdrücken. Leise stellte sich ihr ein Sopran entgegen. Mit jeder Note wurde er lauter.

“La le lu

Nur der Mann im Mond schaut zu

Wenn die kleinen Babys schlafen

Drum schlaf’ auch du …”

Sophie und Paul hatten das Lied für Emma ausgesucht. Es war das Lied, das sie am liebsten gemocht hatte und das ihre Eltern ihr immer und immer wieder hatten vorsingen müssen, wenn sie keinen Schlaf finden konnte.

Pauls Bruder Thomas fügte persönliche Worte an, die er gemeinsam mit Paul niedergeschrieben hatte. Paul und Sophie hätten dazu in diesem Moment nicht die Kraft gefunden. Auch Thomas gelang es nicht, das Zittern aus seiner Stimme zu verbannen. Er war Emmas Patenonkel gewesen und hatte es nie als Pflicht, sondern als Freude empfunden, mit Emma zu spielen und kleine Überraschungs­ausflüge für sie zu organisieren.

„Aus der Erde bist du genommen, der Erde geben wir dich zurück, dein Gott wird dich rufen zu neuem Leben.“ Der Pfarrer trat vor und warf dreimalig Erde in das Grab, während er sprach. „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“

Paul nahm mit der freien Hand Erde auf und lies sie durch die Finger auf den Sarg rieseln. Das leise Geräusch, als die Erdbröckchen auf den Sarg fielen, machte den endgültigen Abschied schmerzhaft deutlich.

Sophie presste sich die Hände auf die Ohren.

„Sophie?“ Paul drückte ihre Seite.

Sie zeigte keine Reaktion.

Behutsam umfasste er ihre Handgelenke und zog die Hände von ihren Ohren. „Sophie, hörst du mich? Nimm die Blütenblätter und streue sie auf Emmas Weg.“

Sophie verharrte reglos. Sie starrte mit weit aufgerissen Augen auf den Sarg.

Paul umschlang wieder ihre Taille, aus Angst sie könnte stürzen. „Sophie? Die Blumen!“

Wie eine von Fäden geführte Marionette versenkte Sophie ihre Finger in der Schale mit den zartrosa Pfingstrosen­blütenblättern, die Emma geliebt hatte. Mechanisch, von unsichtbaren Strängen geführt, tauchte die Hand aus dem Blättermeer auf. Langsam entkrampften sich die Finger, und Blüte für Blüte schwebte auf Emmas Sarg, bedeckte die Erde und verschmolz mit der Blumenwiese auf dem Holz.

„Komm, Sophie.“ Er lenkte sie von dem Grab weg und gab den Platz für Maria frei. Diese verabschiedete sich still von ihrer Enkeltochter. Dann ließ auch sie behutsam eine Handvoll Erde auf den Holzsarg prasseln.

Paul führte Sophie zum Auto, das vor der Kirche parkte. Sie hatten darum gebeten, von Beileidsbekundungen am Grab Abstand zu nehmen. Er öffnete die Beifahrertür und dirigierte Sophies Körper auf den Beifahrersitz. Sie schien ihre Umwelt nicht wahrzunehmen. Er startete den Motor und steuerte das Restaurant an, das sie für das gemeinsame Speisen der Trauergäste gebucht hatten. Er wusste nicht, wie Sophie den Tag überstehen sollte. Und auch nicht die Tage, Monate und Jahre, die nun folgen würden.

Kapitel 5

Ein Jahr später

Kölner Stadtschau, 31.5.2001

Lebenslang für Mord an Emma H.

Höchststrafe für Georg S.

Das Landgericht Köln hat das Urteil gegen Georg S. gefällt. Der Angeklagte wurde für den Mord an der fünfjährigen Emma H. zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht hat die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Damit ist eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung nur in besonderen Ausnahmefällen, wie zum Beispiel schwerer Erkrankung, möglich. Eine anschließende Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der lebenslangen Haftstrafe (fünfzehn Jahre) wurde jedoch nicht verhängt.

Die Begründung für diesen Beschluss liegt in dem eingeholten psychiatrischen Gutachten, das die Kriterien für eine Sicherungsverwahrung im Falle des Georg S. nicht erfüllt sieht. Bei Georg S. besteht nach Auffassung des psychiatrischen Sachverständigen kein Hang, vergleichbare Handlungen in Zukunft aufs Neue zu begehen. Des Weiteren sei die Persönlichkeitsstörung des Mörders unter Therapie im Strafvollzug korrigierbar.

In seinem letzten Wort vor der Urteilsberatung äußerte der Angeklagte Einsicht und Reue, bat die Angehörigen des Opfers um Entschuldigung und erklärte sich bereit, das Therapie- und Hilfeangebot anzunehmen, was die Entscheidung der Richter beeinflusste.

Im April 2000 hatte Georg S. die fünfjährige Emma H. aus dem Garten ihres Elternhauses entführt. Er betäubte das Mädchen mit Chloroform und brachte es in sein nur wenige Kilometer entferntes Haus. Die Leiche des Mädchens wurde zwei Wochen später von einer Spaziergängerin und ihrem Hund in einem Waldstück entdeckt. Hinweise aus der Bevölkerung führten schließlich zur Festnahme des Mörders.

In seinem Keller stellten Polizeibeamte Sexspielzeuge sadistischer Natur wie Gummimasken, Silikon-Mundknebel und Maulsperren mit Lederbändern sowie Videos, die den Missbrauch dokumentieren, sicher.

Emma H. befand sich fünf Tage lang in der Gewalt von Georg S., bis er sie, laut Aussage des Angeklagten, erwürgte, weil sie zu stark blutete und ständig nach ihrer Mama rief.

Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein.

Kapitel 6

Drei Jahre später

„Doktor Kaiser“, meldete sich Maria, nachdem ihr Piepser ein Schrillen von sich gegeben hatte. Sie hatte bereits seit zwei Stunden Dienstschluss. Anstatt direkt nach Hause zu fahren, hatte sie es vorgezogen, im Arztzimmer zu bleiben und gemeinsam mit einem Foto von Sophie und Emma auf ihre Schuldgefühle anzustoßen, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Sie strich mit dem Zeigefinger über die Porträts und steckte das Foto zurück in die Brieftasche.

„Doktor Kaiser? Gott sei Dank! Autounfall. Not­aufnahme.“ Die routinierte Stimme geizte mit Worten.

„Ich komme.“ Maria gönnte sich einen letzten Spritzer Wodka, spülte das Glas mit Wasser aus und stellte es zum Abtropfen auf das Tablett neben der Kaffeemaschine. Sie verstaute die Flasche in ihrer Umhängetasche sowie ein Pfefferminzbonbon in ihrem Mund, verließ das Arzt­zimmer und hechtete zum Aufzug. Dort drückte sie auf den Knopf und wartete auf den Lift.

„Guten Abend, Doktor Kaiser.“ Die Nachtschwester sauste an ihr vorbei.

„Guten Abend, Schwester Susanne.“ Sie schaute der Krankenschwester, die das Zimmer 312 betrat, hinterher. Über der Zimmertür blinkte ein rotes Lämpchen.

Die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Maria betrat das Gefährt und tippte den Knopf, der zur Notaufnahme im Erdgeschoß führte. Der Lift stoppte mit einem sachten Ruck, der ausreichte, um einen Kloß in ihren Hals zu befördern. Sie schluckte vergeblich und räusperte sich ­mehrere Male, während sie durch den leeren Flur eilte. Das Echo ihrer Tritte hallte vorwurfsvoll von den Wänden.

Maria erreichte die Notfallstation, trat an das Waschbecken, wusch ihre Hände und Unterarme und schrubbte ihre gekürzten Fingernägel. Sie trocknete sich mit Papier­handtüchern ab, rieb die Haut gründlich mit einem Desinfektions­mittel ein und blickte in den Spiegel. Über dem Mundschutz lauerte ein Augenpaar – skeptisch, vorwurfs­voll, resigniert. Geplatzte Äderchen hatten zwei rote Netze gewebt, in deren Mitte jeweils eine blaue Iris gefangen saß. Die geröteten Lider umrahmten die surrealistischen Kreationen. Sie unterbrach den Blickkontakt und wankte in den Raum.

Eine düstere Vorahnung hockte wie ein fetter schwarzer Rabe auf ihrer Schulter. Langsam stakte sie auf das Untersuchungsbett zu. Die Stimmen des Anästhesisten, zweier Assistenzärzte und mehrerer Schwestern drangen – von einer unsichtbaren Glasglocke gedämpft – in ihren Gehörgang. Sie wichen auseinander und ebneten ihr den Weg zu dem Patienten.

Marias Blick streifte das Gesicht der Verletzten. Unverzüglich spürte sie ein Flimmern vor den Augen und ein Zittern in den Beinen. Das Mädchen war ungefähr in Emmas Alter. „Wo sind die Unfallchirurgen?“ Maria schwankte kaum merklich und stützte sich am Bett ab.

„Sie sind nebenan. Autounfall mit fünf Schwerverletzten.“ Die Augen des Anästhesisten funkelten zwischen Mundschutz und Haube.

„Und der Kinderchirurg?“ Sie atmete einige Male tief durch. Das Schwindelgefühl wurde besser.

„Wir konnten ihn erst nicht erreichen.“ Die Schwester schlug die Augen nieder. Der Arzt war für seine zahl­reichen Eskapaden mit hübschen Krankenschwestern bekannt. „Er ist jetzt unterwegs.“

„Wie bitte?“ Maria versuchte, sich zu sammeln. „Und die Allgemeinchirurgen? Ich bin Ärztin für plastische Chirurgie. Das Kind ist höchstens fünf Jahre alt!“

„Einer ist ebenfalls in einem der anderen Räume! Und einige andere Kollegen nehmen an einem Ärztekongress teil.“

„Das kann doch nicht wahr sein!“ Die Hiobsbotschaft stach in Marias Trommelfell. Das Flimmern war zwar besser geworden, und sie konnte den kleinen Körper gestochen scharf sehen, aber ihre Beine bebten noch immer. Sie trat einen wackeligen Schritt näher.

„Verdacht auf Milzriss“, diagnostizierte sie und deutete auf einen Bluterguss entlang der Höhe des Sicherheitsgurtes im Oberbauch. „Kreislauf?“

„Instabil“, verlautete ein Assistenzarzt.

„Sonographie!“, befahl sie. „Schnell!“

Ihre Hände zitterten. Sie verknotete die Finger ineinander, um dem Zittern Einhalt zu gebieten. Das Notfallteam war in Schweigen gehüllt; alle Blicke klebten an Marias Händen.