Hans-Peter Hohmann

Der Hund, das
Kind, der See

Roman

Für Barbara

Prolog

Als das Kind im See versank, sah keiner hin. Fast keiner. Der Einzige, der hinschaute, war ich. Aber das war später. Denn auf meiner Runde war ich bisher kaum jemandem begegnet, ein trüber Nachmittag im Dezember, wen treibt es da ins Freie? Wie üblich nur einige ältere Herrschaften, die sich noch rasch ihre „Torte danach“ verdienen müssen. Ein Hund war mir auch über den Weg gelaufen, seltsame Kreatur. Wie er so dahinzieht, da und dort herumschnuppernd. Mich fand er nicht interessant. Warum auch? Gefühle brachte ich nicht auf für ihn. Zu Berührungen bestand auch kein Anlass und zu Streicheleinheiten war ich ohnehin nicht aufgelegt.

Hässlich, der ganze Kerl, das Fell irgendwas zwischen struppig und krauslockig. Aber sein Aussehen macht ihm nichts aus, er wirkt ganz zufrieden mit sich, verschwindet mal im Gebüsch, taucht wieder auf; was die Tierwelt halt so treibt.

Keinem scheint der Hund abzugehen, ein Pudel, der Vollständigkeit halber, der sich inzwischen mehrmals erleichtert hat und auch in der Folge hier und da aus unerfindlichen Gründen sein Bein hebt.

Warum befasse ich mich überhaupt mit dem Hund? Gut, er ist ein lebendes Wesen, besser als nichts. An dürrem Strauchwerk oder kahlem Geäst will sich die Seele halt nicht recht erwärmen. Und mehr hat der Park heute einfach nicht zu bieten. Schön wäre es zum Beispiel gewesen, wenn die Große Liebe hinter einem Baum hervorgekommen wäre, und nicht bloß der Hund, den es immer wieder zu mir hinzuziehen scheint. „Ja, ja, ist schon gut. Nein, ich gebe nichts!“ - Jetzt rede ich auch noch mit dem, peinlich! Höchste Zeit, das Weite zu suchen, bevor ich hier völlig auf den Hund komme…

Das also war die Situation: ein unbelebter Park im Dezember, ein 41-jähriger Mann, einmal geschieden, ganz gut gekleidet, mit allerlei Interessen, leidlich lebenserfahren, doch gerne auch mal hündisch, äh, kindisch….

Erster Teil

1

So sinnierte Helmut vor sich hin. Wie meist überkam ihn auch heute, während er auf den Weg starrte, ein Gefühl der Sinnlosigkeit.

Der asphaltierte Spazierweg, der durch ein Wäldchen führte, glotzte ungerührt zurück, und der Rodelberg, den Helmut erklomm, erhob sich stumm, fiel auf der anderen Seite wieder hinab, um in eine mickrige Seenlandschaft zu münden.

Trotzdem wusste Helmut, dass hier der Höhepunkt seines Spaziergangs erreicht war, oft auch der Höhepunkt des Tages. Ihn grauste vor der Rückkehr in sein leeres Haus, das zu beleben ihm einfach nicht gelingen wollte. Ein Hund kam nicht in Frage, sosehr sich der Pudel auch anwanzte. Gelegentlich hatten schöne Frauen den Weg in Helmuts Villa gefunden, schnell jedoch auch wieder hinaus. Eine aufregendere Existenz hatte er abrupt verlassen müssen, das darauf folgende, ungeliebte Intermezzo beendete er vor knapp zwei Jahren, doch das neue Leben ließ auf sich warten. Bis es endlich kam, vertrieb er sich die Zeit mit dem täglichen Aufstieg auf diesen lächerlichen Hügel, der bei Schneefall von Kindergeschrei erfüllt war, sonst aber einfach so dalag.

Sollte er die restlichen Meter überhaupt hinaufsteigen? Immerhin lohnte der Blick über den gesamten Park bis hinüber zur Autobahn, und wenn er zurückschaute, stand an föhnigen Tagen die Alpenkette hübsch aufgereiht am Horizont.

Gut, die paar Meter noch! Die übliche Stunde, die er für den Hinweg veranschlagt hatte, musste schließlich eingehalten werden.

Während Helmut die fehlenden Sekunden bis zur vollen Stunde mitzählt, ist die 33-jährige Britta Güthlein-Weber erst seit ein paar Minuten unterwegs. Sie will ihrer dreijährigen Tochter, die den seltenen Namen Florence trägt - eine Reminiszenz an Brittas jungmädchenhafte Verehrung für Florence Nightingale, allerdings spricht Britta Florence französisch aus, aus wiederum anderen Gründen - sie will dem Kind vor Einbruch der Dunkelheit noch ein wenig frische Luft zukommen lassen. Die Kleine quengelt im Kinderwagen vor sich hin, ohne richtigen Anlass, vielleicht ist sie noch müde vom Mittagsschlaf, oder ihr ist langweilig.

Britta hat ihr, als sie in den Park eingebogen sind, gewohnheitsmäßig eine Breze in die Hand gedrückt, doch für Flo, wie die gegen solche banalen Kürzel allergische Mutter sie in Momenten der Rührung, in solchen, wo es schnell gehen muss, aber eigentlich immer nennt, ist das weiche Ding jetzt eher ein Gegenstand, an dem sie sich festhalten kann oder mit dem man herumspielt. Dass es etwas zu essen ist, interessiert sie im Augenblick nicht, vielleicht später.

Jetzt sind sie also im Park angekommen, für Flo gibt es da immer etwas zu sehen und zu entdecken: andere Kinder, Käfer, Eichhörnchen, bunte Blätter, Enten, morsche Äste, und natürlich Hunde. Sogar ein leicht desorientierter Fuchs war ihnen einmal fast in den Kinderwagen hineingelaufen, doch bevor Britta erschrocken aufschreien konnte, hatte der sich ungerührt über die Bahngleise davongemacht, mit dramatisch aufgestellter Rute und ohne einen Blick zurück.

Helmut hatte seinen gewohnten Blick über die öden Lande mittlerweile beendet. Heute gab es noch weniger zu sehen als sonst, so sehr er sich auch anstrengte. Enttäuscht wandte er sich um und wollte sich auf den Heimweg machen, denn es dämmerte schon und ihm war kalt.

Doch unten, am See, bewegte sich da nicht etwas? Er hielt inne, entdeckte aber nichts Besonderes: ein Kinderwagen, jetzt ein leerer Kinderwagen, den ein Kind unbestimmten Alters soeben verlassen hatte. Ein paar Meter dahinter die Mutter, vermutlich jung, ungeschickt. Die zerrte das störrische Gefährt gerade über lästiges Wurzelwerk. Das Kind war da schon ein paar Schritte vorausgelaufen. Etwas unbeholfen, doch recht zielstrebig dackelte es auf den See, der eigentlich nur ein Ententeich war, zu.

Die Frau war inzwischen stehen geblieben und ging in die Hocke, um ein verklemmtes Teil oder vielleicht ein festhängendes Rad zu lösen. Deshalb sah sie auch nicht, Helmut dagegen schon, wie das Kind am Rand des Teichs ankam und mit einer Hand, die irgendetwas hielt, wild herumwedelte. Ein gutes Dutzend Enten hatte sich an diesem Nachmittag für den Teich als Versammlungsort entschieden; ein paar zeigten an dem Gewedel Interesse und glitten dem Ufer zu. Offenbar begeistert von der Aussicht auf eine spannende Begegnung mit der belebten Natur, machte das Kind einen Schritt nach vorne, verlor das Gleichgewicht, plumpste fast lautlos ins Wasser - und versank auf der Stelle.

Helmut hatte sich da schon längst in Bewegung gesetzt, stürmte schreiend und mit den Armen rudernd den Rodelhang hinab und verschwand, nicht ganz so lautlos wie das Kind, ebenfalls im See. Die Frau, es handelte sich natürlich um die bereits genannte Britta Güthlein-Weber, war durch Helmuts Schreie aufgeschreckt worden, amüsierte sich dann aber mehr, als dass es sie beunruhigte, wie ein hoch aufgeschossener, etwas ältlich wirkender Herr mit geöffnetem Lodenmantel und wehendem Schal den Abhang herunterstolperte, wohl wegen seines Alters nicht mehr bremsen konnte und ins Wasser fiel, und zwar an der Uferstelle, wo Britta eigentlich ihre Tochter vermutete. Doch da war keine Tochter, da war nichts. Und, endlose Sekunden später, noch immer nichts. Kein Laut. Leere. Britta fühlte, wie eine eisige Hand nach ihr griff. Eine weitere gefühlte Ewigkeit später vernahm sie zunächst das Geräusch einer mächtigen Flutwelle, darauf einen herzzerreißenden Schrei. Dann sah sie etwas Zappelndes, das von zwei krakenhaften Armen in die Höhe gehoben wurde. Den Armen folgte ein triefend nasser, algenumkränzter Kopf, der Schal, auf dreifache Länge gedehnt, und der ganze Mann, der vor wenigen Augenblicken im See verschwunden war.

Die Enten suchten empört schnatternd das Weite, bis auf eine, die sich verzweifelt abmühte, aus einer Breze, die im sich allmählich beruhigenden Wasser schwamm, einen Brocken herauszureißen.

2

Wie peinlich ist das denn?' Helmut schüttelte den Kopf, während er sich seiner nassen Kleidung zu entledigen versuchte. Das war schwieriger als gedacht, denn er stand - die ironische Pointe war ihm bewusst - in einer Sitzbadewanne und war ständig in Gefahr, am Heizstrahler, der von der Decke hing, anzurempeln oder auf dem von Seewasser, Entengrütze und Algenglibber glitschig gewordenen Wannenboden auszurutschen. Von draußen drang das nur langsam abebbende Gebrüll des Kindes zu ihm herein, unterlegt von einem beruhigenden Murmeln, das sich allmählich durchzusetzen begann. Die junge Frau hatte, sofort nachdem er ihr das klatschnasse Bündel in die Arme gedrückt hatte, ihn, das nach Luft japsende Kleinkind und den Kinderwagen zu ihrer nahe gelegenen Wohnung bugsiert - eine logistische Meisterleistung, die Helmut nicht genug bewundern konnte - hatte ihn ins Bad verfrachtet, ihm ein paar recht sportliche Klamotten reingeschmissen - "von meinem Mann, ist auf Geschäftsreise" - und sich dann daran gemacht, das verstörte, wild um sich schlagende Kind von den klammen Sachen zu befreien, es mit einem Badetuch trocken und warm zu rubbeln und ihm seinen Lieblingsstrampler - mit Häschen, Maikäferchen, Entchen, die während des Ankleidungsvorgangs auch alle liebevoll beschrieben wurden - überzustreifen. Dazu gab es ein paar Kekse, die sonst nur sonntags aufgetischt wurden, eine rasch aufgewärmte Flasche, mit Restkakao vom Mittagsschlaf, und viel Streicheln, Kosen, Küssen - ab und zu auch einen Beruhigungskeks für die Mama. Endlich, nach einer guten halben Stunde, wurde es still: Flo war eingeschlafen. Ab und zu schluchzte sie kurz auf, drehte sich noch einmal nach rechts, einmal nach links, schmatzte ein wenig, dann wieder Stille.

Helmut öffnete vorsichtig die Tür und schlich sich aus dem Bad. Er war angetan mit einem oliv-braunen Sweatshirt, auf dessen Brustseite ein schwungvolles "Hello California" prangte, weitgehend sinnfrei, dafür in verstörendem Pink, was dem Geschmack des geschäftsreisenden Ehemanns nicht das allerbeste Zeugnis ausstellte. Des Kinderretters Beine umschlotterte eine in türkis-metallic gehaltene, mit schwarz-rot-goldenen Streifen verzierte Jogginghose, so gut wie neu. Verständlicherweise, wie Helmut befand, wer nämlich wollte sich in dieser monströsen Scheußlichkeit dem allgemeinen Gespött ausliefern?

Er räusperte sich, vermutlich um anzuzeigen, dass er nunmehr, nach zweiunddreißig Minuten unbequemen Wartens auf dem Wannenrand, auch eine gewisse Fürsorge vertragen könnte, oder wenigstens eine Tasse Tee. Britta, die aus der Küche kam, hob den Kopf, riss die Augen auf, dunkel, fast schwarz, wie Helmut gedankenschnell erfasste, und fing an zu lachen. 'Sie lacht über mich', vermutete der Belachte zu Recht, 'aber ein schönes Lachen, nicht zu grell, ausdrucksstark. Angenehme Tonhöhe, nur schade, dass ich der Anlass sein muss'.

-"Entschuldigung!", unterbrach sie seine Grübeleien über ihr Lachen, "aber die Kleiderwahl für Sie war, in der Eile, nicht, hmm, wie soll ich sagen, nicht sehr überlegt. Und verzeihen Sie, ich habe mich weder vorgestellt noch Ihnen für die Rettung meiner Tochter gedankt. Ich heiße Britta, Britta Güthlein–Weber, und bin Ihnen, um ehrlich zu sein, zu ewigem Dank verpflichtet."

-"Brita? Interessant. So heißt mein Wasserfilter!", entfuhr es Helmut, der sich sogleich auf die Zunge biss, was schmerzte, das leichtfertig Dahingesagte aber nicht ungesagt machte.

-"Ah ja", entgegnete die junge Frau, wobei sie das erste Wort aufreizend in die Länge zog, "Sie geben Ihren Wasserfiltern also Namen? Dann heißt Ihr Staubsauger vermutlich auch 'Kobold', oder?"

Helmut wand sich verlegen, nickte dann zustimmend, obwohl er wusste, dass er den verletzenden Hintersinn ihrer rhetorischen Frage damit erst aktivierte. Ja, 'Kobold'- Staubsauger sind was für ältere Herrschaften wie ihn. 'Auch die Eltern der jungen Dame, ach, was sage ich, ihre Großeltern, haben sicher dieses unverwüstliche Gerät gehegt und gepflegt und ihren Töchtern den Kauf desselben dringend ans Herz gelegt', ergänzte er in Gedanken, merkte dann aber, dass die junge Frau nun wiederum einen verbalen Beitrag von seiner Seite erwartete.

-"Mein Name ist Helmut W. Seethaler", setzte er an, sie grinste, "und ich bin froh, dass Ihre Tochter unbeaufsichtigt …, ich meine, dass Ihre Tochter das unbeabsichtigte Bad im See hoffentlich ohne Schaden oder Schäden …, äh, ich wollte sagen …, Sie verstehen, was ich sagen wollte?"

Helmut brach ab, weil er spürte, dass alle Peinlichkeiten, die er noch auf Lager hatte, von diesem kritischen Blick aus nachtschwarzen, funkelnden Augen in seine Einzelteile zerlegt und mikroskopisch fein zerstäubt werden würde.

-"Äh, könnte ich vielleicht eine Tasse Tee …?", hüstelte er, um das Thema zu wechseln, und starrte dabei auf einen Fleck an der Wand, weit hinter diesen unerbittlichen Augen.

-"Ich habe nur Früchtetee." Pause. "Mit garantiert Brittafreiem Wasser". Lange Pause. "Wäre das genehm, Herr Helmut Wee?" Keine Pause. "Wee wie Wasserfilter?", schnippte sie noch kurz und verschwand in der Küche. Den Tee quittierte Helmut dann gedankenlos mit einem "Sehr freundlich. Gut gekocht, das Wasser", bemerkte seinen erneuten Fehler erst daran, dass Brittas Miene endgültig vereiste und die Temperatur im Raum unter den Gefrierpunkt zu sinken drohte, schüttete das heiße Getränk zur Hälfte auf die Tischdecke, die andere Hälfte in sich hinein, worauf sein Gaumen wie rohes Fleisch reagierte und auf der Stelle zu garen begann. Dann raffte er hastig seine nassen, verklumpten Sachen zusammen, murmelte, soweit seine angegriffenen Sprechwerkzeuge dazu schon in der Lage waren, etwas von einem dringenden Arzttermin - "Um acht Uhr abends?", ätzte die schlagfertige Mutter zurück - und dass er die freundlich zur Verfügung gestellte Bekleidung am folgenden Tag zurückbringen werde, selbstverständlich gereinigt. Dann eilte er hinaus und stürzte die vierundsechzig Stufen bis zum Erdgeschoss hinab, während ihm Britta ins Treppenhaus nachrief, er könne die Klamotten behalten, als Dank für seine rühmenswerte Tat, sie wolle ihn aber keinesfalls noch einmal wiedersehen, und, nach einer letzten Pause, "schon gar nicht morgen!"

3

Helmut rannte, so gut es ging, nach Hause. Er hatte Britta erzählt, dass er "praktisch ums Eck" wohne, was leicht untertrieben war, denn er brauchte exakt siebenunddreißig Minuten, bis er endlich die Haustür aufschließen konnte, um erschöpft im Vorraum zusammenzubrechen. Obwohl er schweißgebadet war, fror er erbärmlich, da er auf die angebotene Unterbekleidung - aus Scham? aus Ekel? - verzichtet hatte, zudem mit bloßen Füßen in die aufgeweichten Stiefel geschlüpft war, die während seiner Flucht, wie auch seine Füße, zu Eisklumpen erstarrten. Ohne seine sonst peinlichst eingehaltenen körperhygienischen Rituale kroch er unter die edle Daunenfederdecke, Winterseite, und schlief, anders als die von ihm so heldenhaft wie selbstlos gerettete Florence eine Stunde zuvor, auf der Stelle ein.

Ein neuer Morgen brach an. Die Sonne beschien Florence, die sich bestens gelaunt aus dem Kinderbett meldete und Britta zu einem glücklichen Menschen machte. Es war, als sei die Erinnerung an die gestrigen Schrecknisse aus Flo's Köpfchen einfach weggeweht worden, wie eine Gewitterwolke, die vom Wind vertrieben wird. Die Sonne beschien auch Britta, die, nachdem sie ihre Tochter geherzt, geküsst und auf den Topf gesetzt hatte, den winzigen, nach Südost gelegenen Balkon betrat und den lieben Gott, die ihm unterstellten Schutzengel sowie alle sonstigen hilfreichen Geister lobte und pries und, ganz zuletzt, sogar dem tapferen Retter ein halbwegs versöhnliches Wort spendete: "Dank an Herrn Helmut W., den Wasserfilterer!"

Die Sonne gab sich alle Mühe, auch den Helden des Vorabends zu bescheinen, doch erstens schlief Helmut immer mit dicken Brokatvorhängen vor den Fenstern, ein mütterliches Erbe, das, in den 1950-er Jahren teuer erworben, seine von Schlafstörungen gepeinigte "Mutti"- Gott, oder welches höhere Wesen auch immer, hab sie selig - regelmäßig dem Erstickungstod nahegebracht hatte. Und zweitens schlief Helmut noch. Er schlief den Schlaf des Gerechten, den ein gutes Gewissen auszeichnet, wurde aber immer wieder von Alpträumen attackiert. Denn er durchlebte, ja durchlitt in immer wiederkehrenden Träumen seine edle Rettungstat, jedoch in merkwürdig verzerrter Form. Von geifernden Hundefellen getrieben, war er nämlich, in einem Kinderwagen liegend, einen Wasserfall hinabgestürzt, aus dem er aber heil wieder herausfand. Dabei rettete er eine Ente. Deren Vater Franz spendierte ihm zum Dank ein erfrischendes Bad mit der gesamten Entenfamilie, das gekrönt wurde durch ein Festmahl, welches aus einer Breze bestand. Auf dem Höhepunkt der Feierlichkeiten bat Helmut den Vater um die Hand respektive den Flügel seiner Tochter, der ihm, in leichter Kürbiskernpanade kross herausgebraten, bereitwillig serviert wurde; dazu gab es Früchtetee.

Helmut schreckte hoch. Wahrlich, ein Alptraum, da er ja Früchtetee verabscheute, was er am Vorabend eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Bei der Entenhochzeit hatte er Früchtetee getrunken, daher vermutlich der Alptraum, aus dem er, trotz der schweren Brokatvorhänge, die ihn weiterhin in schützende Finsternis hüllten, soeben herausgerissen worden war. Helmut erhob sich, sein Körper ein einziger Schmerz. Er öffnete die Vorhänge, die Fenster. Die Sonne hatte sich hinter eine schwarze Wolkenwand verzogen. Es regnete. Er schloss die Fenster wieder, suchte seine verstreuten Kleidungsstücke von gestern, die er zur Wäsche bringen wollte, und fand eine XXL-Jogginghose sowie ein Sweatshirt, beides von so abstoßender Hässlichkeit, dass er beunruhigt im Raum umherspähte, ob er nicht, in einem Anfall von Nächstenliebe, einem Penner sein Zuhause als Schlafstatt angeboten hatte. "Ist da wer?", rief er leicht verunsichert in jedes seiner sieben Zimmer hinein. Da niemand antwortete, war außer ihm auch keiner da, nur eine fremde Hose und ein fremdes Shirt. Seine eigene, noch immer feuchte, dreckstarrende und stinkende Kleidung lag weiter unbemerkt im Vorraum, denn Helmut hatte sich, unendlich erschöpft, wieder ins Bett gelegt und sollte es die nächsten drei Tage nicht mehr verlassen.

4

Britta vermisste Helmut nicht, ebenso wenig die Kleidungsstücke, mit denen er seinen überstürzten Abgang angetreten hatte. Gelegentlich vermisste sie den legitimen Besitzer des Jogginganzugs, ihren Mann Paul Weber, der sich keineswegs auf Geschäftsreise befand, sondern von einem Tag auf den anderen einfach verschwunden war. "Da wird sich die Mama aber freuen!", hatte Weber ausgerufen, als Britta ihm glückstrunken von der pränatalen Existenz ihrer beider Tochter berichtete, und war, nachdem er sich am nächsten Morgen zur Uni aufgemacht hatte, nicht wieder zurückgekehrt. Er meldete sich nicht, ließ sich von seinen Freunden verleugnen und sandte ihr, bis auf einen Zettel, auf den er "Ich bin nicht reif für ein Kind!" gekritzelt hatte, keine weitere Nachricht mehr.

Dafür hinterließ er Britta, zusätzlich zu dem in ihrem Bauch regelgerecht, doch leider vaterlos heranwachsenden Lebewesen, einen kleineren Berg Spielschulden, die Pauls Mutter nicht gewillt war zu begleichen. Sie hätte sich von einem Enkelkind durchaus beglücken lassen, keine Frage, wenn da nicht diese ungeliebte Schwiegertochter gewesen wäre. Außer dem Kind und den Schulden bestand Pauls einzige materielle Hinterlassenschaft aus einem Sammelsurium ungebrauchter Sportklamotten, von denen Britta immerhin zwei Teile an den nassen Helmut losgeworden war, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

Warum aber vermisste sie Weber, "diesen Schuft", der sich ausgerechnet da aus ihrem Leben davongestohlen hatte, als er zum ersten Mal für einen Menschen Verantwortung hätte übernehmen können? Paul, drei Jahre jünger als Britta, war ihre große Studentenliebe gewesen, Germanist wie sie, klug, charmant, mit seinem "spitzbübischen Lächeln" - bei diesem Ausdruck, den Pauls Mutter schwärmerisch und bei allen unpassenden Gelegenheiten zu wiederholen nicht müde wurde, war Britta immer 'das große Kotzen' gekommen, auch nicht sehr differenziert, aber zumindest während ihrer Schwangerschaft ziemlich passend - mit seinem billigen Anmacherlächeln, das traf es besser, auf das sie, typisch Landpomeranze, trotzdem reingefallen war.

Es folgte eine an Peinlichkeiten reiche Hochzeit im Familienkreis, "einen Besseren kriegst du eh nicht", hatte Mama Weber gelästert, das hätte Britta stutzig machen müssen, aber mit sechsundzwanzig, mein Gott, nicht dass sie in Torschlusspanik hätte verfallen müssen, doch "was man hat, das hat man", auch so eine unerschütterliche Weisheit, diesmal aus dem Fundus ihres Vaters. Nach der Heirat bekamen sie die zwei schönsten Zimmer in ihrer WG, es folgten inspirierende Tage und aufregende Nächte mit Paul, das Studium lief von alleine und so nebenher.

Immerhin brachte sie es zu einem guten Ende, Paul jedoch nicht. Sie trat dann, auf Empfehlung ihres Professors Klaus Wehrfeldt, der sie "liebend gern" auf dem Weg zur Promotion "behutsam begleitet" hätte, ins Lektorat eines aufstrebenden Kleinverlags ein, um ihr und Pauls Leben von den Zuwendungen aus dem Hause Weber unabhängig zu machen.

Pauls Mama schneite trotzdem unverdrossen immer mal wieder von Memmingen herein, um ihrem "Bubi" heimlich, aber nicht heimlich genug, ein paar grüne, manchmal auch gelbe Scheine zuzustecken. Pauls ambitionierte Abschlussarbeit "Paolo Coelho, Paul Auster und Giovanni Paolo Secondo - Fluch und Segen der Namensverwandtschaft in der Nachfolge des Heiligen Paulus" wollte begreiflicherweise nicht zu einem Ende finden. Britta half ihm, soweit ihre Zeit es zuließ, doch die Honeymoon-Stimmung der frühen Jahre stellte sich nicht wieder ein. Im Gegenteil: Sie wurden höflich, aber unumkehrbar aus der WG hinauskomplimentiert, fanden zwar rasch eine Wohnung, allerdings in einem Vorort, was bedeutete, dass Britta täglich lange Fahrten mit Sund U-Bahn zu bewältigen hatte und noch später als bisher schon nach Hause kam. Paul indes suchte die Uni nur noch sporadisch auf. Er nahm sich schließlich eine "kreative Auszeit", wie er seine Memminger Geldgeberin glauben machen konnte. Britta hingegen konnte er nicht mehr täuschen, sie liebte ihn zwar noch irgendwie, aber eher auf eine mütterlich-fürsorgliche Art. Was war geblieben vom strahlenden Helden ihrer Jungmädchenträume? Ein erwachsenes Kind, das selbst zu den einfachsten Dingen des Alltags nicht zu gebrauchen war. Sollte er etwas zum Abendessen einkaufen, kam er mit zwei Büchern aus dem Buchladen zurück, der praktischerweise neben dem Supermarkt gelegen war. Wäsche waschen hatte sich erledigt, nachdem er Brittas weiße Lieblingsslips zusammen mit einem tiefblauen Teppichvorleger in die Maschine gegeben und alle Teile aufgehängt hatte, die unschuldig zwei schöne Stunden im 90 Grad heißen Wasser verbracht hatten. "Herrlich, dieses Blau!" - er war zufrieden mit seinem wertvollen Beitrag zur Arbeitsteilung, ohne den angerichteten Schaden überhaupt zu bemerken.

Da Britta tagsüber abwesend war, vermüllte die Wohnung allmählich, Paul selbst auch, da er die Notwendigkeit der Körperpflege nicht mehr als gegeben ansah und, nach Brittas "unangemessen scharfer" Kritik an seinen Waschkünsten, den eigenen Wäschewechsel aus Protest einstellte.

"Dann geh' doch zu deiner Mutter!", keifte Britta ihn eines Abends an, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, dass sie weder so gut koche noch so gut rieche wie seine "Mamtschi".

Mamtschi? Das hörte Britta zum ersten Mal von ihm, aber war es nicht einfach ein weiteres Indiz für die galoppierende Re-Infantilisierung ihres Ehemanns? Paul nahm die Aufforderung gerne wörtlich und fuhr für zwei Wochen nach Memmingen. Er kehrte auch pünktlich und scheinbar geläutert, auf jeden Fall frisch gebadet und mit neuer Garderobe zurück. Etwas roch trotzdem seltsam an ihm, "Patschuli", schnupperte Britta, "oder Räucherstäbchen", etwas in dieser Richtung, was sie so deutete, dass Paul sich in der Zeit seiner Abwesenheit nicht nur von einer Frau hatte verwöhnen lassen. Trotz ihres Argwohns, und ein wenig verletzt war sie auch, schlief sie in dieser Nacht mit ihm, wodurch er zum Vater ihrer Tochter wurde, ohne es, nach deren Geburt, im richtigen Leben einen einzigen Tag gewesen zu sein.

Sex mit Paul, das war es, was Britta gelegentlich vermisste, allerdings vermisste sie auch, wie sie sich mit leichter Resignation eingestehen musste, Sex ohne Paul. Sitzengelassen, dreiunddreißig, ein Kind, beruflich mit Büchern intim, von deren Schreiberlingen sie eher als Feindbild denn als Sexobjekt wahrgenommen wurde - das war der aktuelle Stand der Dinge.

Britta trat zum Fenster. Draußen schneite es. Scheinbar unaufhaltsam fielen die Flocken dicht an dicht aus dem schwarzen Nachthimmel und vereinigten sich am Boden, bis sie die so genannte "geschlossene Schneedecke" bildeten, welche man sogleich in den Nachrichten routiniert verkündete und die in den folgenden Tagen für gehörigen Blechschaden wie auch für andere Vorfälle sorgen würde.

5

Der Schnee dämpfte aber auch sämtliche Geräusche, die trotz geschlossener Fenster und zugezogener Vorhänge in Helmuts Schlafhöhle hätten hineindringen können. Blechschädenlärm war ohnehin nicht zu befürchten, da die Zimmerfenster im ersten Stock zum weitläufigen Garten hinaus gingen. So wachte Helmut nicht etwa auf, weil er hörte, es gab nichts zu hören, sondern weil er roch. "Es" roch, er selbst roch auch, und im ganzen Haus musste noch eine weitere intensive Geruchsquelle am Werk gewesen sein. Alles zusammen erzeugte jedenfalls einen beißenden oder sogar ätzenden Gestank, dem Helmut, als er seine Teich-Bekleidung endlich fand, spontan noch eine weitere Duftnote hinzufügte, indem er sich übergab.

Er riss sämtliche Fenster auf, entsorgte mit spitzen Fingern - wo versteckten sich diese Einweghandschuhe, wenn man sie mal brauchte? - die sich inzwischen schon in Auflösung befindlichen Kleidungsteile, ebenso sein Schlafgewand, die Bettwäsche gleich mit, stellte sich eine Stunde unter die Dusche und hüllte sich anschließend in seinen alten grauen Bademantel. Darauf sammelte er mit wachsender Besorgnis drei Tageszeitungen, siebzehn Briefe und einunddreißig Werbesendungen ein, welche, zu einem Klumpen aufgehäuft, durchweicht vor der Haustür lagen. Was für ein Tag war heute? Er musste länger als einen Tag geschlafen haben, das war sicher.

Auch sein Magen vermittelte ihm Ähnliches, nämlich dass er nun schon lange genug auf Frühstück, Nachmittagstee mit Kuchen, diverse Snacks und auf ein Abendessen mit einer oder auch mal zwei Flaschen Wein verzichtet hatte. Appetit verspürte Helmut keinen, aber ein leichter Schwindel beim Sich-Aufrichten aus der Hocke ließ ihn Richtung Küche taumeln, wo er auf einen Stuhl niedersank und erst einmal seine Gedanken zu ordnen versuchte.

War etwa schon Weihnachten und er der Einzige, dem amazon keine Geschenke gebracht hatte? Ein Blick auf das Zeitungsbündel beruhigte ihn, die letzte Ausgabe war vom 22. 12., ein Mittwoch. Aber, er rechnete rasch nach, drei Tage aus der Welt und keiner, der ihn vermisste? Keiner, der Feuerwehr, Notarzt oder das SEK gerufen hatte, um ihn aus Todesnöten zu erretten? Und überhaupt, was hatte ihn derart erschöpft, dass er so lange der Welt abhandengekommen war? Er erinnerte sich nicht.

Zufällig lief draußen ein Hund vorbei, zufällig saß eine Katze auf der Steinmauer des Nachbargrundstücks. Folgerichtig bellte der Hund, was Helmut durch seine weit geöffneten Fenster hören konnte. "Was bellt denn da?", fragte er sich, die Antwort lag auf der Hand: ein Hund. Natürlich, der Hund. Ihm fiel sein Spaziergang ein, und Stück für Stück setzte er den letzten Tag, bevor ihn der Schlaf übermannt hatte, wieder zusammen: der Hund, ein Kinderwagen, das Kind, der tiefe See, der Früchtetee. Und das bizarre JoggingEnsemble, das immer noch herrenlos vor seinem Bett lag. "Britta!", fiel ihm spontan ein, ein seltsamer Name, wahrscheinlich eine Abkürzung von Brigitta? An die damit verbundene Person erinnerte er sich gern, aber auch ungern. Er, der sonst so souverän aufzutreten wusste, hatte sich ihr gegenüber wie ein Idiot benommen. Bedauerlicherweise.

Nun hatte er doch Hunger. Also erst einmal Frühstück, mit einer großen Kanne Darjeeling First Flush, um den imaginären Nachgeschmack des Früchtetees aus seinem Rachen zu vertreiben. So saß er eine Stunde, seine Gedanken wanderten irgendwohin, er bekam keinen zu fassen. Die Türklingel riss ihn aus dem ergebnislosen Grübeln. Er wollte schon aufmachen, als er bemerkte, dass er unter dem Bademantel nichts trug als frisch gewaschene und leicht fröstelnde Haut, großzügig eingecremt, aber wenig geeignet, um Gäste zu empfangen. Wer außerdem störte ihn beim Frühstück?

-"Herr Helmut", tönte es von draußen, "alle Fenster offen.Werden Sie gerade überfallen oder ziehen Sie aus?"

"Nanu?" und "Aha!" - Helmut sah klar: Vor der Tür stand seine Zugehfrau, eine scharfzüngige Bosnierin, oder war sie aus der Herzegowina? Er konnte es sich nicht merken. Ihr jedoch konnte er sein etwas anzügliches Erscheinungsbild zumuten, weshalb er beschwingt "Nein, liebe Frau Deznar, ich lüfte nur", antwortete und sie hereinließ. Die Weißrussin, die sie in Wirklichkeit war, schaute ihn eingehend von oben nach unten an, brummelte etwas von "Der Mantel gehört bald mal in die Mülltonne" und wackelte ins Bad, um ihren wöchentlichen Putzmarathon im Seethaler'schen Anwesen in Angriff zu nehmen.

-"Sie sind heute früh dran, Frau Natalja", rief Helmut ihr nach, musste dabei aber husten, was sie gleich wieder auf den Plan rief: -"Das kommt von zu viel nackter Haut unter einem zu dünnen Mantel", verkündete sie mit anzüglichem Grinsen, "außerdem bin ich pünktlich, vier Uhr!" Sie verschwand mitsamt ihren Putzutensilien im Schlafzimmer, von wo sie noch angewidert rief: "Hier stinkt‘s, Herr Helmut!". Helmut bewunderte zum wiederholten Mal ihre erstaunliche Direktheit und knapp drei Stunden später war er sie wieder los, sie und erstmals einen Hunderter: "Für Weihnachtsgeld, Herr Helmut", hatte sie ihn treuherzig angegrinst und den Schein flugs in ihrer Schürzentasche verstaut.

Helmut hatte sich inzwischen angekleidet, die Zeitungen überflogen - nichts von einem Vorfall im örtlichen Park - Weihnachtspost von Rechnungsschreiben getrennt und den Werbeberg in der Papiertonne versenkt. Die Joggingteile hatte er der Waschmaschine anvertraut, 40 Grad, das musste reichen, er wollte sich von Frau …, wie hieß sie doch gleich? ein Doppelname, mit fränkischer Note und handwerklicher Beifügung - Seufert-Schmid? Stäblein-Bäcker?-egal, von Britta jedenfalls wollte er sich nichts nachsagen lassen. Und schenken erst recht nichts. Gleich morgen würde er das Wäschepaket zurückbringen, weihnachtlich verpackt, oder, besser noch, in einem alten Zalando-Karton, der irgendwo herumliegen musste, den würde eine Frau wie Britta, so suggerierte es die Werbung, allemal mit Schreien des Entzückens in Empfang nehmen. Abgang. Ende der Geschichte!